Zu den großen Errungenschaften der kommunistischen
Sowjetunion gehört Bildung für das breite Volk. Der zu Zarenzeiten grassierende
Analphabetismus wurde praktisch abgeschafft, Schulen und Universitäten
gegründet, Bibliotheken eröffnet. Zur Bildung für den Sowjetmenschen gehörte
auch die Musik. Klaviere wurden in großer Zahl gebaut und galten als Schirpotreb, als Massenbedarfsartikel.
Gleich zwei von ihnen stehen an unserem Institut, eines in dem Raum, wo bis zum
Ende des letzten Jahres meine Chorproben stattfanden und in dem ich auch einige
Konzertauftritte am Cello zusammen mit einer Pianistin hatte, weshalb ich
mehrfach den Klavierstimmer kommen ließ. Am Instrument ist eine Informationstafel
angeklebt mit dem Namen einer Veteranin,
einer ehemaligen Dozentin, die es der Universität spendete. Leider nutzen es
die in dem Raum unterrichtenden Lehrkräfte als Ablage für Kreide und Lappen,
weshalb es von weißem Staub bedeckt ist.
Das andere Klavier, noch mehr eingestaubt, mit
kaputtem Pedal und einigen nicht mehr funktionsfähigen Tasten, steht in der
gleichen Etage im Korridor. In irgendeiner Inventarliste taucht es sicher noch
auf, niemand kümmert sich aber um seinen Zustand oder spielt darauf, abgesehen
von einigen Studenten, die verschämt zu klimpern beginnen und es dann schnell
wieder lassen, da es schrecklich verstimmt ist. Sergej Georgiewitsch Okladnikov,
der Klavierstimmer an der Oper, hat sich bereiterklärt, mir an diesem
Instrument, Marke „Ural“, die Technik des Klavierstimmens zu erklären. Wir sind
für den Sonntag verabredet, der einzige Tag, an dem das Institut von der
Reinigungskraft abgesehen ganz leer ist. Mein Lieblingswächter Valerius hat
gerade Dienst und lässt uns hinein, obwohl an Sonntagen das Gebäude für
Lehrkräfte eigentlich nicht zugänglich ist.
Über AliExpress,
dem in Russland sehr verbreiteten, chinesischen Amazon-Äquivalent, habe ich mir ein Tuning-Set bestehend aus dem Stimmhammer
genannten Achtkant-Schlüssel, vier Stimmkeilen
aus Gummi und einem Filzband bestellt; außerdem hat mir Okladnikov einen
bestimmten Tuner zur Installation auf dem Smartphone empfohlen. Der Meister,
zwei Jahre nach Kriegsende geboren, mit schon leicht zitternden Händen, aber
ganz klarem und wachem Geist und präzisestem Gehör, erklärt mir, wie man den
Kammerton A mithilfe des Tuners sauber stimmt, indem ein Gummikeil so geklemmt
wird, dass zuerst nur eine, dann zwei und dann alle drei der Saiten erklingen,
welche von der Taste angeschlagen werden. Die Metallwirbel werden durch den aufgesetzten
Stimmhammer mit der rechten Hand gedreht, dann durch eine Bewegung mit der Hand
an den Körper heran nach links unten gedrückt und somit fixiert, man „setzt ein
Schloss“.
Nach dem Stimmen des Kammertones könne der Tuner
zur Seite gelegt werden, der Rest sei Sache des Gehörs, sagt Okladnikov, das
wäre bei mir als Cellist doch vorhanden? Zunächst wird in nach unten steigenden
Quinten und nach oben steigenden Quarten die Oktave vom A-1 zum „kleinen A“
gestimmt, wobei das Erreichen des ideal sauberen Klanges eine Frage der
Schwebungen pro Sekunde ist, feine, auf- und abschwingende Wellen innerhalb
eines Tones, die zu hören für Anfänger nicht einfach sei und auch wenn man sich
unausgeschlafen ans Werk mache, lerne ich. Bei einer Oktave oder dem
Unisono-Stimmen der zwei oder drei Saiten einer Taste darf es im Zusammenklang keine
Schwebungen geben, der Ton ist ganz rein und geht „geradeaus“. Im Falle einer
Quinte, einer engen Quinte, wie wir sie für die temperierte Stimmung am Klavier
brauchen, sind es eine Schwebung in der Sekunde, eine Welle also, die der Ton
nach oben und unten macht, im Falle einer weiten Quarte anderthalb Schwebungen.
Den Klang einer Quarte im Ohr zu haben ist in Russland ganz einfach: es ist der
Beginn der Nationalhymne, der russischen, deren Melodie zugleich die der
sowjetischen ist. In Deutschland könnte man sich am „Tatü-Tata“-Intervall eines
Erste-Hilfe-Wagens orientieren.
Noch bevor wir die zentrale Oktave fertig gestimmt
haben, ist mein chinesischer Stimmhammer ausgeleiert und unbrauchbar, was am zu
weichen Metall liegen kann oder daran, dass ich ihn vor dem Drehen nicht
richtig auf die Wirbel aufgesetzt habe. Okladnikov geht mit mir an seinen
Arbeitsplatz in die Oper, wo er seinen eigenen Stimmhammer aus deutscher
Produktion hat. In der Opernkantine trinken wir einen Kaffee, der alte Mann
verschwindet für eine Weile im Erzählen einiger seiner zehntausend Erinnerungen
und Geschichten, die sich in fünfzig Jahren als Geiger im Opernorchester angesammelt
haben wie der eines Kollegen, der einmal vor der Ankunft eines berühmten
Pianisten drei Tage lang auf der Bühne einen Flügel stimmte, ohne sie zu
verlassen und dort auch schlief und aß. Seit drei Jahren ist er in Rente, ist
aber immer noch der Stimmer für Flügel und Klaviere des Hauses und repariert
Geigen, Celli und Kontrabässe. Dann setzten wir unseren Unterricht an einem
alten, längst abgeschriebenen Instrument fort, bis meine Ohren ermüdet sind und
ich mich nicht mehr auf die Schwebungen konzentrieren kann.
„Ich habe das Gefühl, du hast schon etwas
verstanden“, sagt Okladnikov und will mir in der nächsten Woche seinen Ersatz-Stimmhammer
geben, damit ich das Klavier am Institut selbst zuende stimmen kann. Die 2000
Rubel, etwa 30 Euro, die ich ihm für seine Lehrstunde geben will und die der
Meister sonst für das Stimmen bei Leuten zuhause verlangt, nimmt er nicht an:
der alte Mann hat sein Wissen wohl gern weitergegeben; leider hat sich bisher
niemand gefunden, den er als seinen Nachfolger ausbilden kann.