Sonntag, 28. Januar 2018

Bishkek

Ein Reisebericht aus Kirgistan, Teil 1

„Also, Sie haben jetzt folgende Möglichkeiten…“ Der Mitarbeiter der türkischen Pegasus Airline wendet meine wertlos gewordene Bordkarte hin und her und reibt sich die übermüdeten Augen. „Entweder Sie bleiben drei Tage hier in unserem Hotel, bis der nächste Flug nach Duschanbe geht. Oder Sie fliegen morgen Abend um die gleiche Zeit nach Bischkek.“ Mein Flugzeug war mit über einer Stunde Verspätung in Berlin gestartet, weshalb ich in Istanbul den Anschluss knapp verpasst hatte. Bischkek, das mir nun als Alternative angeboten wird, liegt rund tausend Kilometer von Duschanbe entfernt. Ich denke kurz nach und entscheide mich dann für diese Variante – so würde die Reise nicht nach Tadschikistan gehen, sondern ins benachbarte Kirgistan, von wo ich mich dann auf dem Landwege, über Berge und dreitausend Meter hohe Pässe in die tadschikische Hauptstadt Duschanbe begeben könnte. Das klingt spannender, als drei Tage unfreiwillig in Istanbul zu verbringen!

Die Einreise nach Kirgistan ist für EU-Bürger visafrei; man bekommt einen Stempel in den Pass und kann dreißig Tage bleiben. Die Hauptstadt Bishkek trug bis 1991 den Namen des kommunistischen Revolutionärs Frunse, wie auch die Straße in Ulan-Ude, in der ich wohne. Die Architektur hat etwas vertraut-sowjetisches: Stalinscher Klassizismus, monumentale Beton-Ungetüme und große und kleine Denkmäler bekannter und weniger bekannter Kriegs- und Revolutionshelden. Es herrscht angenehmes Spaziergangswetter mit wenigen Minusgraden und dünner Schneedecke, die Orientierung auf den schachbrettartig geradlinig verlaufenden Straßen im Zentrum fällt leicht. Alle Kirgisen, die ich nach dem Weg frage, können ausgezeichnet Russisch. Im sauberen, geräumigen Central Hostel mit gratis W-Lan und Selbstversorgerküche bin ich neben einem tagsüber seinen Rausch ausschlafenden, penetrant schnarchenden Russen und einem indischen Geschäftsmann der einzige Gast. 

Noch am ersten Abend betrete ich die kleine Werkstatt eines Schumachers und bitte um ein paar neue Schnürsenkel für meine Halblederschuhe.
„Ein Gast aus dem Baltikum! Nehmen Sie bitte Platz, ich möchte ein bisschen mit Ihnen sprechen, mir ist sonst langweilig. Was führt Sie denn hierher zu uns?“
Nachdem ich den Irrtum über meine Herkunft aufgeklärt habe, setze ich mich auf das angebotene Höckerchen zwischen Bergen von Schuhen, Leder-, Gummi- und Stoffstücken, Werkzeug und einer  Nähmaschine. Ich erklärte, dass ich eigentlich der Heimat meiner Freundin einen Besuch abstatten wollte, aber einen Anschlussflug verpasst habe und nun sozusagen einen Umweg über Kirgistan zu machen gezwungen sei.
„Ja, die Tadschiken! Ein altes Kulturvolk, gastfreundlich, gläubig und mit langer Schrift- und Literaturtradition! Wie die Usbeken auch. Wir Kirgisen und die Kasachen hingegen waren bis vor kurzem noch Nomaden, Steppenbewohner. Wie gefällt Ihnen unsere Stadt?“
Während der ältere Mann mit routinierten Bewegungen das Leder für einen Damenstiefel ausschnitt, gab ich meiner Verwunderung über die fehlenden Fußgängerampeln selbst an großen Kreuzungen Ausdruck: wenn die parallel fahrenden Autos Grün haben, gehen die Leute los – den richtigen Zeitpunkt sieht oder ahnt man.
„Wir sind hier nicht in Europa! Gehen Sie mal nach Afrika, da gibt es überhaupt keine Ampeln.“
Ich muss herzlich lachen. Wir tauschen unsere Namen aus: mein Gegenüber heißt Schawbek, ist 63 Jahre alt und kurz vor dem Rentenalter; da von umgerechnet 40 Euro Rente aber niemand leben kann, wird er trotzdem noch weiter arbeiten.
„Was halten die Deutschen eigentlich von Adolf Hitler?“, fragt er und schüttelt, mit meiner Antwort unzufrieden, missbilligend den Kopf.
„Ein großer Führer, der das Volk hinter sich zu einigen verstand! Erobern und erobert werden, das ist nun einmal der Lauf der Menschheitsgeschichte. Übrigens hatte Hitler auch ein Herz für die Kirgisen, lesen Sie mal nach!“
Ungewöhnliche Interpretationen der Nazigeschichte begegnen mir auf Reisen öfters; später werde ich in Erfahrung bringen, was der Schuster meinte: die Faschisten wollten tatsächlich mit den zentralasiatischen islamischen Turkvölkern kooperieren, da sie glaubten, im Bolschewismus und im Judentum  gemeinsame Feinde zu haben. Mit den neuen Schnürsenkeln verlasse ich die Werkstatt des Meisters.

In Bishkek verbringe ich vor der Weiterfahrt über die Berge nach Tadschikistan noch den ganzen nächsten Tag. Von dem kleinen Bahnhof fahren Direktzüge nach Moskau und Jekaterinburg. An den Eingängen in den Fußgängertunnel schaut Dzingis Aitmatov von riesigen Fotos auf die Menschen, darunter seine weisen Zitate. Der 2008 gestorbene Schriftsteller ist vielleicht der bekannteste Kirgise überhaupt, seine Liebesgeschichte „Djamila“ war Pflichtlektüre an DDR-Schulen. Auf einem großen freien Platz halten drei riesige steinerne Halbbögen einen Ehrenkranz, darunter das Ewige Feuer im Andenken an die Gefallenen des Großen Vaterländischen Krieges. Eine Frau wärmt sich an der Gasflammme die Hände, Kinder spielen unbekümmert Schneeballschlacht. Am hohen Fahnenmast vor dem mächtigen Betonquadrat des – gerade leider geschlossenen – Nationalmuseums weht die leuchtend rote kirgisische Flagge mit gelbem Sonnensymbol; hoch zu Pferde thront Nationalheld Manas, eine mythische Figur aus dem 9. Jahrhundert, die nach dem Wegfall von Lenin als Identifikationsfigur wiederentdeckt wurde.
In Bishkek gibt es einen kleinen Bahnhof mit Direktzügen nach Moskau und Jekaterinburg. Der Kuppelbau einer riesigen, neuen, noch nicht in Betrieb genommenen Moschee mit vier schlanken, spitzen Türmen nördlich des Zentrums strahlt in glänzendem Weiß. Mehrmals am Tag sind Muezzin-Rufe über der Stadt zu hören; im Gegensatz zu Dushanbe macht das Leben keinen besonders religiös geprägten Eindruck, nicht viele Frauen tragen Kopftücher.
Auch die neuere Zeit findet sich in Denkmäler gegossen wieder. Von ein paar Schülern lasse ich mir die kirgisische Aufschrift auf einem weißen Mauerblock übersetzen, von dem eine empörte Menschengruppe ein schwarzes abgespaltenes Stück hinwegschiebt: das dunkle Vergangene muss weichen, um Platz für eine helle Zukunft zu machen. In den Jahren 2005 und 2010 gab es in Kirgistan blutige Revolutionen, bei denen die als korrupt geltenden Präsidenten gestürzt wurden. Heute ist es das am wenigsten autoritär regierte Land Zentralasiens und als einziges eine parlamentarische und keine präsidentielle Republik.

Schavbek in seiner Werkstatt (oben). Aitmatov vor dem Fußgängertunnel (unten)

Aufwärmen am Ewigen Feuer (oben). Denkmal an die kirgisischen Revolutionen im 21. Jahrhundert (unten)
Manas-Reiterstatue vor dem Nationalmuseum