Dienstag, 30. Januar 2018

Osh

Ein Reisebericht aus Kirgistan, Teil 3

Ich sitze auf einer Parkbank in Osh, unweit des Berges Suleiman-Too. Was für eine ungewöhnliche Stadt: ein Berg in der Mitte, mit zackigen Felsen, in deren Höhlen man herumkriechen kann, ein Netz von Trampelpfade über den Hängen und angeblich jahrtausende alte gemeißelte Felszeichnungen. Die markante Silhouette des Suleiman-Too-Berges diente Handelsreisenden auf der alten, durch das Ferghana-Tal verlaufenden Seidenstraße als Orientierungsmarke. Der biblische König Salomon könnte hier begraben sein, heißt es; heute ist der Ort Unesco-Weltkulturerbe, was bisher noch niemanden dazu veranlasst hat, die alten Petroglyphen vor neuen Schmierereien zu schützen, von denen sie manchmal kaum zu unterscheiden sind. 20 Som Eintritt kostet es an der Kasse; Kassiererin Gulmira hatte mich neugierig gefragt, ob die Mauer in Berlin noch steht und ob wir in Deutschland in der Schule auch über Adolf Hitler sprechen. Ich sitze nun also auf der Parkbank, als ein Mädchen sich neben mich setzt und auf Englisch fragt, ob sie nicht ein wenig mit mir reden dürfe? Sie bereite sich gerade auf eine Englisch-Olympiade vor und brauche noch ein bisschen Übung im Sprechen. Ich unterhalte mich eine halbe Stunde mit der Elftklässlerin Elisa; sie fragt, wie lange es dauert, um Deutsch zu lernen, weil ein Studium in Deutschland viel weniger kostet als zum Beispiel in den USA.
Dann taucht Bilal auf, ein Mitarbeiter des Osh Guest House, wo ich übernachte und mit dem ich eigentlich verabredet war. Wir brechen zum Stadtbummel auf.

Kirgistan ist ein sehr junges Land – überall große Mengen junger Leute, das Durchschnittsalter beträgt 26; die Menschen sind viel gesprächiger als beispielsweise die zurückhaltenden Burjaten, auch in der Stadt ist es nicht schwer, mit jemandem in Kontakt zu kommen. Als erstes führt mich Bilal in das mächtige sowjet-neoklassizistische Gebäude der Osher Staatlichen Universität: während ich die beeindruckende Säulenfassade fotografiere, berichtet er mir, wie viel die Prüfungen kosten und dass man schon ganz ordentlich ein paar Scheine hinlegen muss, um Bestnoten zu bekommen. Ich plaudere ein wenig mit Murubat Usmanova, der Direktorin des Zentrums für Deutsche Sprache; ein Deutsch-Muttersprachler unterrichtet auch hier, sozusagen ein Kollege von mir.

An allen Straßenecken wird frischer Popcorn verkauft. Bilal erklärt mir, woran man Kirgisen von Usbeken unterscheiden kann – zwischen beiden Volksgruppen war es 2010 in Osh zu blutigen Auseinandersetzungen gekommen. Hier im Ferghana-Tal, dem kulturellen Zentrum Mittelasiens, sorgen die künstlichen Grenzziehungen der unabhängig gewordenen Sowjetrepubliken nach dem Wegfall von Moskau als Ordnungsmacht immer wieder für Spannungen. Auf dem riesigen Basar probiere ich Kurut: weiße, sehr salzig schmeckende Bällchen aus einer Art getrocknetem Joghurt. Zigaretten werden zum Preis von 4 Som das Stück auch einzeln verkauft –ein Feuerzeug liegt bereit zum sofortigen Anzünden – und lakritzfarbene Stangen in kleinen Plastiktütchen entpuppen sich bei näherem Hinsehen als Naswaj, Kautabak, dessen mäusekotgroße Kügelchen man sich zwischen Zunge und Zahnfleisch oder unter die Zunge klemmt (in Russland ist der Verkauf von Naswaj seit einigen Jahren verboten).

Beim Warten auf den Flug von Osh nach Moskau komme ich mit dem Usbeken Umar ins Gespräch, der zu seinem Arbeitsplatz, einer Schmelzkäseherstellungsfabrik, aufbricht. Was ich in Kirgistan mache? Urlaub? Urlaub heißt doch Strand, Sonne und Hotels mit guter Bedienung, so wie in der Türkei! Ach so, die Berge, ja, stimmt… Wer einen harten Alltag hat, sucht im Urlaub Komfort und Sicherheit; wer aus dem gesättigten und bequemen Deutschland kommt, möchte Abenteuer und freut sich über Unvorhergesehenes, so wie ich, der eigentlich nach Tadschikistan wollte und statt dessen nun etwas über Kirgistan erzählen kann - dank eines verpassten Anschlussfluges in Istanbul.

Der Suleiman-Too-Berg mitten in der Stadt Osh (oben); Kassiererin Gulmira setzt fürs Foto extra ihren Kalpak auf, die traditionelle kirgisische Kopfbedeckung (unten)
Jeder ist für den Erhalt des Weltkulturerbes selbst verantwortlich - oder eben auch nicht: Petroglyphen unter modernen Schmierereien (oben); Eliza bereitet sich auf eine Englisch-Olympiade vor (unten)
Zigaretten sind auf dem Markt auch einzeln erhältlich, die schwarzen Stangen sind Kautabak (oben); mit Murubat Usmanova und Bilal im Zentrum für Deutsche Sprache an der Universität Osh
Salzige Joghurtkügelchen (Kurut) auf dem Basar in Osh