Montag, 29. Januar 2018

Auf dem Pamir-Trakt durch die asiatische Schweiz

Ein Reisebericht aus Kirgistan, Teil 2

Kirgistan ist die „Schweiz Zentralasiens“, heißt es, von Tadschikistan sagt man dasselbe – beide Schweizen werden ihrem Namen gerecht, was di e Schönheit der Berge betrifft. Der westliche Besucher genießt die ästhetische, weite und wilde Landschaft und erfreut sich an den niedrigen Preisen. Doch von Schönheit allein kann keiner leben; die meisten der fünf Millionen Einwohner des kleinen Landes von etwa zwei Drittel der Fläche Deutschlands kämpfen damit, im Alltag über die Runden zu kommen und haben sich in sehr einfachen Verhältnissen eingerichtet. Auf der Fahrt von Bishkek nach Osh sitzen zwei soeben aus Moskau heimgekehrte Kirgisen neben mir im Auto. In der russischen Hauptstadt verdienen sie im Sägewerk 40000 Som, umgerechnet 500 Euro, für Moskau wenig, für sie genug, dass es sich lohnt, die Familie zu verlassen und von außerhalb zu versorgen. Es gibt kaum gut bezahlte Arbeit im eigenen Land. Seit 2015 ist Kirgistan Mitglied der Eurasischen Wirtschaftsunion, weshalb die jungen Männer kein Visum brauchten und unkompliziert in Russland eine Arbeitsgenehmigung bekamen.

Vollgestopft mit Gepäck und sechs Passagieren auf drei engen Sitzreihen schraubt sich unser Pkw einen dreieinhalb Kilometer hohen Pass empor, so hoch wie der höchste Berg Burjatiens. Zwischen den Städten verkehrende Busse gibt es kaum; inwieweit die Autos offiziell verkehren oder sich nur gerade jemand etwas dazuverdienen möchte, ist nicht ersichtlich; wenn der Fahrgastraum voll oder fast voll ist, geht es los, irgendwann am Morgen oder Vormittag. Hinter dem Pass erwartet uns eine in eine dichte Schneedecke eingehüllte Märchenlandschaft, es scheint die Sonne und ist windstill, vielleicht ein paar Minusgrade, kein Vergleich mit den Härten des sibirischen Winters.
Am Toktogul-Stausee, dem größten seiner Art in Zentralasien, überholen wir einen radfahrenden Italiener – jetzt im Winter ein seltener Anblick, im Sommer ist die Strecke beliebt bei europäischen Extrem-Radlern. Im Süden Kirgistans, wo die Straße ins dicht besiedelte Ferghana-Tal hinabführt, verschwindet der Schnee völlig. Ich muss umsteigen, um weiterzukommen und komme neben einer hübschen, sonnengebräunten Kirgisin zu sitzen, die ein kleines pausbäckiges Kind auf dem Schoß hält. Kindersitz und Gurt sind kein Thema, der Fahrer überholt ungeduldig, so dass ich viel Gelegenheit habe, unseren Gegenverkehr direkt von vorne zu studieren, bevor in letzter Sekunde ausgewichen wird. Der etwa zweijährige Nachwuchs hat eine Packung Kaugummi zur freien Verfügung in der Hand und erbricht sich nach einer kurzen Weile. Ich reiche der Mutter ein Taschentuch und deute vorsichtig an, dass Pfefferminzkaugummis vielleicht keine optimale Kleinkindnahrung seien, außerdem würden vom Zucker auf die Dauer die Zähne schwarz. Die junge Frau nimmt diese neue Information interessiert zur Kenntnis und will ihrem Kind die Packung wegnehmen, worauf es schreit, sie zurückbekommt und zusätzlich noch mit einem Filmchen auf dem Smartphone beruhigt wird.

Südlich der Stadt Osh beginnt der eigentliche Pamirskij Trakt, die bis Dushanbe führende, in westlichen Reiseführers auch Pamir-Highway genannte HochstraßeM41, von den Sowjets durch das Pamir-Gebirge unweit der Grenzen zu China und Afghanistan gebaut; das 1932 fertiggestellte Projekt wurde als bauliche und ideologische Meisterleistung gefeiert, weil damit entlegenste Gebiete an die Zivilisation angeschlossen wurden. Mit ihren über vier Kilometer hohen Pässen ist es die am zweithöchsten gelegene Verkehrsader weltweit überhaupt.
Einen ersten Stopp möchte ich in der Siedlung Gultsha einlegen. Ein geöffnetes Gästehaus gibt es nicht, aber ein junger Mann telefoniert für mich herum und findet schließlich eine Familie, die bereit ist, mich aufzunehmen. Während ich die im Hof stehenden Kästen einiger dutzend Bienenvölker betrachte und einen an der Mauer angebrachten Aushang gefördert durch die Schweizerische Eidgenossenschaft und die Aga-Khan-Foundation lese, ist Staubsaugergeräusch aus dem Haus zu hören. Wenig später werde ich in das extra für mich aufgeräumte Schlafzimmer gebeten, die Familie hat sich in Küche und Wohnzimmer zurückgezogen. Da die Mutter kein Russisch spricht und der Vater außer Haus ist, läuft die Kommunikation über die 13jährige Tochter Nargisa, die es ausgezeichnet beherrscht. Sie erklärt mir, dass der angenehme Geruch in meinem Zimmer vom Räuchern mit Isirik (Steppenraute) kommt. In dem kleinen verputzten Lehmziegel-Haus gibt es kein fließendes Wasser; mit Erstaunen nehme ich die aus der Wand baumelnde 220-Volt-Steckdose mit freiliegenden blanken Drähten zur Kenntnis.
Beim abendlichen Blättern in meinem Tadschikistan-Reiseführer stoße ich auf die Information, dass der von mir anvisierte Grenzübergang nach Tadschikistan bei Karomik für Touristen gesperrt ist. Bleibt der Umweg über den Grenzbergang am Kisil-Art-Pass, was auch heißten würde, den Pamir-Trakt in seiner vollen Länge entlangzufahren. If you are ok with a 16-hours-drive, you can even do it in 3 days, lese ich im Internet – es wird also knapp, denn in vier Tagen geht mein Rückflug von Dushanbe. Ich beschließe, 1000 Som (12 Euro) für die Übernachtung zu geben – zuvor ausgehandelt war kein bestimmter Betrag – und schultere am nächsten Morgen meinen Rucksack.

Der Taldyk-Pass auf dreieinhalb Kilometern Höhe ist atemberaubend; ein Denkmal erinnert an den sowjetischen Erbauer in den 30er Jahren. Mit langsamer Geschwindigkeit donnern Schwerlasttransporter die steilen Serpentinen auf und ab. Die Strecke ist ausgezeichnet asphaltiert, das Werk von Chinesen, wie mir meine Mitfahrer erklären; China hat ein großes Interesse an funktionierenden Verkehrsverbindungen Richtung Westen und sich deshalb um den Ausbau der Strecke gekümmert. In Sary-Tosh reiche ich dem Fahrer 200 Som und steige aus. Wer sich in Kirgistan an die Straße stellt, wird schnell jemanden finden, der einen mitnimmt; am Ende ist es üblich, etwas dafür zu zahlen.
Die Nachmittagssonne scheint hell und durchdringend auf die schneebedeckte Hochebene. Hinter mir liegen die kleinen, weiß gekalkten Häuser von Sary-Tosh, aus deren Schornsteinen dünne Rauchfahnen aufsteigen; in den mit Lehmziegeln errichteten Ställen daneben ducken sich Kühe, Pferde oder Schafe aneinander. In einiger Entfernung ragt der in eisiges Weiß gehüllte Bergrücken des Transalaigebirges in die Höhe, ein Teil des Pamirs, der hier Kirgistan von Tadschikistan trennt, und in diesem der Pik Lenin, einer von fünf Siebentausendern der UdSSR und von diesen der angeblich am leichtesten zu besteigende. Nachdem es mir gelungen ist, eine Horde Kinder abzuschütteln, die dem auffälligen Touristen – um diese Zeit ein seltener Anblick – hinterherliefen, daj konfeti (Gib Süßigkeiten!) riefen und sich dann mit Vergnügen fotografieren ließen, liegt Stille über der winterlichen Einöde, nur unterbrochen vom auf- und abschwellenden Dröhnen der Schwerlasttransporter. Aus dem vor mir an der Weggabelung gelegenen Gebäude, offensichtlich ein Kontrollposten, kommt ein uniformierter junger Mann heraus, mustert mich neugierig und winkt dann, ich solle mal hereinkommen. Teetrinken!
Aus Deutschland? Der junge Polizist gießt mir Tee ein und zeigt auf seinem Handy Bilder von seinen deutschen Freunden, als diese in Kirgistan waren. Offensichtlich freut er sich über die Abwechslung meines Besuches, da seine Aufgabe, die Gewichtskontrolle der vorbeifahrenden Trucks – maximal 44 Tonnen sind erlaubt – nicht allzu spannend ist. Nach Tadschikistan wolle ich fahren, über den Kysyl-Art-Pass? Da bestünde wenig Hoffnung, drei oder vier Autos pro Tag führen dort lang, und die seien auch bis oben hin beladen. Ich lasse mir noch einmal genau zeigen, welcher der in der Ferne thronenden Gipfel der Pik Lenin ist und versuche seinen neuen Namen auszusprechen, der auf meiner tadschikischen Karte verzeichnet ist: Pik Abuali ibni Sino, 7134 Meter, benannt nach einem tadschikischen Gelehrten, der im Westen als Avicenna bekannt ist. Davon habe ich ja noch nie gehört, meint der Polizist, unser Präsident hat festgelegt, dass er Pik Manas heiße. Ob ich Manas kenne, den kirgisischen Volkshelden? 

Es scheint, jedes benachbarte Land hat den Grenzgipfel nach seinem eigenen Helden getauft; ein neuer Lenin, der alle eint, ist nicht in Sicht. Eine Weile stehe ich noch an der Weggabelung herum, betrachte die sich den Bergen nähernde Sonne und verabschiede mich von der Vorstellung, auf dieser Reise noch bis Tadschikistan zu gelangen. Zum Glück hat mein Smartphone auch hier oben Internet, so dass ich einen neuen Rückflug ab Osh buchen kann. Langsam setzt die Abendkälte ein, in Anbetracht der Jahreszeit und Höhe sind die Temperaturen trotzdem geradezu gemütlich. Zurück in Sary-Tosh, steuere ich gerade auf ein Gästehaus zu, als mich ein junger Mann aus einem Auto heraus anspricht. Eingeritzt in den Schmutz seiner noch nie gewaschenen Heckscheibe annonciert er sein Gewerbe: Taxi Kairat und eine Telefonnummer sind dort zu lesen. Ich solle mal einsteigen, hier im Hotel koste die Übernachtung 800 Som, er bringe mich jetzt zu seinem Haus, da könne ich für 500 wohnen.
Die kirgisische Familie, in die ich mitten hineingerate, wohnt in zwei durch eine Öffnung ohne Tür miteinander verbundenen Zimmern. Die Fußböden sind mit Teppichen ausgelegt, an der Wand hängen Teppiche in leuchtenden Farben, ein hoher Stapel Kissen und Decken für die Nacht liegt bereit. Stühle und Tische im europäischen Sinne sehe ich keine. Alle Fenster sind mit Stoffen zugehängt, damit die Kälte nicht hereinkommt. Ainasik, die 17jährige Enkelin, bereitet auf dem großen, weiß gekalkten Kohleofen Plov zu: in Öl gekochter Reis mit Fleisch und Gemüse. Großmutter, die kein Russisch spricht, gießt mir Tee ein, wobei sie die erste ausgegossene Schale zunächst in die Kanne zurückgießt. Man sitzt mit übereinandergeschlagenen Beinen auf dem Boden, ein Kissen zwischen Rücken und Wand, das Essen steht auf einem niedrigen, etwa 30cm hohen Tischchen. Der Enkel bietet an, mich eine Runde auf dem Rücken des Pferdes herumzuführen. Nachts wird es draußen eisig kalt, der Sternenhimmel ist fantastisch. In Ofennähe schichtet Ainasik ein Nachtlager aus Decken und Kissen für mich auf. Die junge Frau kann von allen am besten Russisch und erzählt, dass sie bald nach Kasachstan zum Arbeiten geht. Vom Kirgisischen mit den für eine Turksprache typischen vielen Ö´s und Ü´s, das die Familie untereinander spricht, verstehe ich kein Wort. Neben mir kommt der Großvater zu liegen, Jahrgang 36, und schaut skeptisch, ob ich mich auch richtig warm in die Decken hülle.

Sary-Tosh liegt auf drei Kilometern Höhe im Alai-Tal und wurde 1950 für die Wartung des hier verlaufenden Abschnittes des Pamir-Traktes gegründet. Außer Heu für das Vieh wächst hier nichts, Obst und Gemüse muss weiter unten eingekauft werden. Am Ortseingang betrete ich zum ersten Mal einen islamischen Friedhof, manche Gräber mit einem Grabstein, andere mit einem einfachen Holzpfahl, alle mit dem Halbmondsymbol. Die Menschen sind gläubig, die meisten aber eher wohl nur ein bisschen; 80 Jahre lang war schließlich Atheismus angesagt, der sich nicht so schnell abschütteln lässt, auch wenn jetzt mehrmals täglich die Muezzin-Rufe von der Moschee über die Dächer schallen.

Eine Schafherde tritt den abendlichen Heimweg an (oben). So gehts auch: 220V-Steckdose meiner Gastgeber (unten)
Auf dem Taldyk-Pass (3589m). Der Pamir-Trakt wurde hier von China asphaltiert, um den freien Warenfluss zu fördern.(oben) - Kinder in Sary-Tosh lassen sich von dem Touristen gern fotografieren (unten)



Hier endete mein Traum von Tadschikistan auf dieser Reise: der Grenzübergang nach rechts ist für Touristen gesperrt, die Passstraße nach links fuhr niemand entlang (oben). Blick auf das Transalai-Gebirge mit dem Peak Lenin (7134m), der am leichtesten zu besteigende sowjetische Siebentausender (unten)
Teetrinken mit einem kirgisischen Verkehrspolizisten (oben). Zu Gast in Sary-Tosh  (unten)
Video: Der Pamir-Trakt (oben). Ein muslimischer Friedhof (unten)