Ein Reisebericht aus Kirgistan, Teil 2
Kirgistan ist die „Schweiz Zentralasiens“, heißt es, von
Tadschikistan sagt man dasselbe – beide Schweizen werden ihrem Namen gerecht,
was di e Schönheit der Berge betrifft. Der westliche Besucher genießt die
ästhetische, weite und wilde Landschaft und erfreut sich an den niedrigen
Preisen. Doch von Schönheit allein kann keiner leben; die meisten der fünf
Millionen Einwohner des kleinen Landes von etwa zwei Drittel der Fläche
Deutschlands kämpfen damit, im Alltag über die Runden zu kommen und haben sich
in sehr einfachen Verhältnissen eingerichtet. Auf der Fahrt von Bishkek nach
Osh sitzen zwei soeben aus Moskau heimgekehrte Kirgisen neben mir im Auto. In
der russischen Hauptstadt verdienen sie im Sägewerk 40000 Som, umgerechnet 500
Euro, für Moskau wenig, für sie genug, dass es sich lohnt, die Familie zu
verlassen und von außerhalb zu versorgen. Es gibt kaum gut bezahlte Arbeit im eigenen
Land. Seit 2015 ist Kirgistan Mitglied der Eurasischen Wirtschaftsunion,
weshalb die jungen Männer kein Visum brauchten und unkompliziert in Russland
eine Arbeitsgenehmigung bekamen.
Vollgestopft mit Gepäck und sechs Passagieren auf drei engen
Sitzreihen schraubt sich unser Pkw einen dreieinhalb Kilometer hohen Pass
empor, so hoch wie der höchste Berg Burjatiens. Zwischen den Städten
verkehrende Busse gibt es kaum; inwieweit die Autos offiziell verkehren oder
sich nur gerade jemand etwas dazuverdienen möchte, ist nicht ersichtlich; wenn
der Fahrgastraum voll oder fast voll ist, geht es los, irgendwann am Morgen
oder Vormittag. Hinter dem Pass erwartet uns eine in eine dichte Schneedecke
eingehüllte Märchenlandschaft, es scheint die Sonne und ist windstill,
vielleicht ein paar Minusgrade, kein Vergleich mit den Härten des sibirischen
Winters.
Am Toktogul-Stausee, dem größten seiner Art in Zentralasien,
überholen wir einen radfahrenden Italiener – jetzt im Winter ein seltener
Anblick, im Sommer ist die Strecke beliebt bei europäischen Extrem-Radlern. Im Süden
Kirgistans, wo die Straße ins dicht besiedelte Ferghana-Tal hinabführt,
verschwindet der Schnee völlig. Ich muss umsteigen, um weiterzukommen und komme
neben einer hübschen, sonnengebräunten Kirgisin zu sitzen, die ein kleines
pausbäckiges Kind auf dem Schoß hält. Kindersitz und Gurt sind kein Thema, der
Fahrer überholt ungeduldig, so dass ich viel Gelegenheit habe, unseren
Gegenverkehr direkt von vorne zu studieren, bevor in letzter Sekunde
ausgewichen wird. Der etwa zweijährige Nachwuchs hat eine Packung Kaugummi zur
freien Verfügung in der Hand und erbricht sich nach einer kurzen Weile. Ich
reiche der Mutter ein Taschentuch und deute vorsichtig an, dass Pfefferminzkaugummis
vielleicht keine optimale Kleinkindnahrung seien, außerdem würden vom Zucker auf
die Dauer die Zähne schwarz. Die junge Frau nimmt diese neue Information
interessiert zur Kenntnis und will ihrem Kind die Packung wegnehmen, worauf es
schreit, sie zurückbekommt und zusätzlich noch mit einem Filmchen auf dem
Smartphone beruhigt wird.
Südlich der Stadt Osh beginnt der eigentliche Pamirskij Trakt, die bis Dushanbe
führende, in westlichen Reiseführers auch Pamir-Highway genannte HochstraßeM41,
von den Sowjets durch das Pamir-Gebirge unweit der Grenzen zu China und
Afghanistan gebaut; das 1932 fertiggestellte Projekt wurde als bauliche und
ideologische Meisterleistung gefeiert, weil damit entlegenste Gebiete an die
Zivilisation angeschlossen wurden. Mit ihren über vier Kilometer hohen Pässen
ist es die am zweithöchsten gelegene Verkehrsader weltweit überhaupt.
Einen ersten Stopp möchte ich in der Siedlung Gultsha
einlegen. Ein geöffnetes Gästehaus gibt es nicht, aber ein junger Mann
telefoniert für mich herum und findet schließlich eine Familie, die bereit ist,
mich aufzunehmen. Während ich die im Hof stehenden Kästen einiger dutzend
Bienenvölker betrachte und einen an der Mauer angebrachten Aushang gefördert durch die Schweizerische
Eidgenossenschaft und die Aga-Khan-Foundation lese, ist Staubsaugergeräusch aus dem Haus zu hören. Wenig später werde
ich in das extra für mich aufgeräumte Schlafzimmer gebeten, die Familie hat
sich in Küche und Wohnzimmer zurückgezogen. Da die Mutter kein Russisch spricht
und der Vater außer Haus ist, läuft die Kommunikation über die 13jährige
Tochter Nargisa, die es ausgezeichnet beherrscht. Sie erklärt mir, dass der
angenehme Geruch in meinem Zimmer vom Räuchern mit Isirik (Steppenraute) kommt. In dem kleinen verputzten
Lehmziegel-Haus gibt es kein fließendes Wasser; mit Erstaunen nehme ich die aus
der Wand baumelnde 220-Volt-Steckdose mit freiliegenden blanken Drähten zur
Kenntnis.
Beim abendlichen Blättern in meinem
Tadschikistan-Reiseführer stoße ich auf die Information, dass der von mir
anvisierte Grenzübergang nach Tadschikistan bei Karomik für Touristen gesperrt
ist. Bleibt der Umweg über den Grenzbergang am Kisil-Art-Pass, was auch heißten
würde, den Pamir-Trakt in seiner vollen Länge entlangzufahren. If you are ok with a 16-hours-drive, you can
even do it in 3 days, lese ich im Internet – es wird also knapp, denn in
vier Tagen geht mein Rückflug von Dushanbe. Ich beschließe, 1000 Som (12 Euro)
für die Übernachtung zu geben – zuvor ausgehandelt war kein bestimmter Betrag –
und schultere am nächsten Morgen meinen Rucksack.
Der Taldyk-Pass auf dreieinhalb Kilometern Höhe ist
atemberaubend; ein Denkmal erinnert an den sowjetischen Erbauer in den 30er
Jahren. Mit langsamer Geschwindigkeit donnern Schwerlasttransporter die steilen
Serpentinen auf und ab. Die Strecke ist ausgezeichnet asphaltiert, das Werk von
Chinesen, wie mir meine Mitfahrer erklären; China hat ein großes Interesse an
funktionierenden Verkehrsverbindungen Richtung Westen und sich deshalb um den
Ausbau der Strecke gekümmert. In Sary-Tosh reiche ich dem Fahrer 200 Som und
steige aus. Wer sich in Kirgistan an die Straße stellt, wird schnell jemanden
finden, der einen mitnimmt; am Ende ist es üblich, etwas dafür zu zahlen.
Die Nachmittagssonne scheint hell und durchdringend auf die
schneebedeckte Hochebene. Hinter mir liegen die kleinen, weiß gekalkten Häuser
von Sary-Tosh, aus deren Schornsteinen dünne Rauchfahnen aufsteigen; in den mit
Lehmziegeln errichteten Ställen daneben ducken sich Kühe, Pferde oder Schafe
aneinander. In einiger Entfernung ragt der in eisiges Weiß gehüllte Bergrücken
des Transalaigebirges in die Höhe, ein Teil des Pamirs, der hier Kirgistan von
Tadschikistan trennt, und in diesem der Pik Lenin, einer von fünf
Siebentausendern der UdSSR und von diesen der angeblich am leichtesten zu
besteigende. Nachdem es mir gelungen ist, eine Horde Kinder abzuschütteln, die
dem auffälligen Touristen – um diese Zeit ein seltener Anblick –
hinterherliefen, daj konfeti (Gib
Süßigkeiten!) riefen und sich dann mit Vergnügen fotografieren ließen, liegt
Stille über der winterlichen Einöde, nur unterbrochen vom auf- und
abschwellenden Dröhnen der Schwerlasttransporter. Aus dem vor mir an der
Weggabelung gelegenen Gebäude, offensichtlich ein Kontrollposten, kommt ein
uniformierter junger Mann heraus, mustert mich neugierig und winkt dann, ich
solle mal hereinkommen. Teetrinken!
Aus Deutschland? Der junge Polizist gießt mir Tee ein und
zeigt auf seinem Handy Bilder von seinen deutschen Freunden, als diese in
Kirgistan waren. Offensichtlich freut er sich über die Abwechslung meines
Besuches, da seine Aufgabe, die Gewichtskontrolle der vorbeifahrenden Trucks –
maximal 44 Tonnen sind erlaubt – nicht allzu spannend ist. Nach Tadschikistan
wolle ich fahren, über den Kysyl-Art-Pass? Da bestünde wenig Hoffnung, drei
oder vier Autos pro Tag führen dort lang, und die seien auch bis oben hin
beladen. Ich lasse mir noch einmal genau zeigen, welcher der in der Ferne
thronenden Gipfel der Pik Lenin ist und versuche seinen neuen Namen
auszusprechen, der auf meiner tadschikischen Karte verzeichnet ist: Pik Abuali ibni Sino, 7134 Meter,
benannt nach einem tadschikischen Gelehrten, der im Westen als Avicenna bekannt
ist. Davon habe ich ja noch nie gehört, meint der Polizist, unser Präsident hat
festgelegt, dass er Pik Manas heiße.
Ob ich Manas kenne, den kirgisischen Volkshelden?
Es scheint, jedes benachbarte Land hat den Grenzgipfel nach
seinem eigenen Helden getauft; ein neuer Lenin, der alle eint, ist nicht in Sicht. Eine
Weile stehe ich noch an der Weggabelung herum, betrachte die sich den Bergen
nähernde Sonne und verabschiede mich von der Vorstellung, auf dieser Reise noch
bis Tadschikistan zu gelangen. Zum Glück hat mein Smartphone auch hier oben
Internet, so dass ich einen neuen Rückflug ab Osh buchen kann. Langsam setzt
die Abendkälte ein, in Anbetracht der Jahreszeit und Höhe sind die Temperaturen
trotzdem geradezu gemütlich. Zurück in Sary-Tosh, steuere ich gerade auf ein
Gästehaus zu, als mich ein junger Mann aus einem Auto heraus anspricht.
Eingeritzt in den Schmutz seiner noch nie gewaschenen Heckscheibe annonciert er
sein Gewerbe: Taxi Kairat und eine Telefonnummer
sind dort zu lesen. Ich solle mal einsteigen, hier im Hotel koste die
Übernachtung 800 Som, er bringe mich jetzt zu seinem Haus, da könne ich für 500
wohnen.
Die kirgisische Familie, in die ich mitten hineingerate,
wohnt in zwei durch eine Öffnung ohne Tür miteinander verbundenen Zimmern. Die
Fußböden sind mit Teppichen ausgelegt, an der Wand hängen Teppiche in
leuchtenden Farben, ein hoher Stapel Kissen und Decken für die Nacht liegt
bereit. Stühle und Tische im europäischen Sinne sehe ich keine. Alle Fenster
sind mit Stoffen zugehängt, damit die Kälte nicht hereinkommt. Ainasik, die
17jährige Enkelin, bereitet auf dem großen, weiß gekalkten Kohleofen Plov zu:
in Öl gekochter Reis mit Fleisch und Gemüse. Großmutter, die kein Russisch
spricht, gießt mir Tee ein, wobei sie die erste ausgegossene Schale zunächst in
die Kanne zurückgießt. Man sitzt mit übereinandergeschlagenen Beinen auf dem
Boden, ein Kissen zwischen Rücken und Wand, das Essen steht auf einem
niedrigen, etwa 30cm hohen Tischchen. Der Enkel bietet an, mich eine Runde auf
dem Rücken des Pferdes herumzuführen. Nachts wird es draußen eisig kalt, der
Sternenhimmel ist fantastisch. In Ofennähe schichtet Ainasik ein Nachtlager aus
Decken und Kissen für mich auf. Die junge Frau kann von allen am besten
Russisch und erzählt, dass sie bald nach Kasachstan zum Arbeiten geht. Vom
Kirgisischen mit den für eine Turksprache typischen vielen Ö´s und Ü´s, das die
Familie untereinander spricht, verstehe ich kein Wort. Neben mir kommt der
Großvater zu liegen, Jahrgang 36, und schaut skeptisch, ob ich mich auch richtig
warm in die Decken hülle.
Sary-Tosh liegt auf drei Kilometern Höhe im Alai-Tal und
wurde 1950 für die Wartung des hier verlaufenden Abschnittes des Pamir-Traktes
gegründet. Außer Heu für das Vieh wächst hier nichts, Obst und Gemüse muss
weiter unten eingekauft werden. Am Ortseingang betrete ich zum ersten Mal einen
islamischen Friedhof, manche Gräber mit einem Grabstein, andere mit einem einfachen
Holzpfahl, alle mit dem Halbmondsymbol. Die Menschen sind gläubig, die meisten
aber eher wohl nur ein bisschen; 80
Jahre lang war schließlich Atheismus angesagt, der sich nicht so schnell
abschütteln lässt, auch wenn jetzt mehrmals täglich die Muezzin-Rufe von der
Moschee über die Dächer schallen.
Eine Schafherde tritt den abendlichen Heimweg an (oben). So gehts auch: 220V-Steckdose meiner Gastgeber (unten) |
Teetrinken mit einem kirgisischen Verkehrspolizisten (oben). Zu Gas | t in Sary-Tosh | (unten) |
Video: Der Pamir-Trakt (oben). Ein muslimischer Friedhof (unten) |