Montag, 13. Februar 2017

Entlang der Selengá

Die erste Studienwoche dieses Frühjahres-Semesters liegt hinter mir. Ich unterrichtete sieben Doppelstunden. Gestern rief mich eine Kollegin an und teilte mir mit, dass sie sich den Arm gebrochen hat, weshalb ich in der nächsten Woche drei ihrer Doppelstunden mit übernehme. Da es in der Gruppe des zweiten Unterrichtsjahres ist, die ich sehr mag und bei denen mir das Unterrichten leicht fällt, mache ich es gerne. Als Hausaufgabe sollten sie einen Aufsatz schreiben: „Wie ich den Januar verbracht habe“ und mir diesen per Mail an meine neue, eigens dafür eingerichtete Adresse „hausaufgabenfuerthomas“ schicken. Studentin Sarjuna schreibt:
„Mit Vater und einen Onkel fuhren wir auf eine Wolfjagd. Wölfe drangen in Dörfer ein und griffe sie Schafe an. Einst begegnete ich mich selbst mit einem Wolf nachts im Bauernhof meiner Oma. Zum Glück blieben alle am Leben damals. Auf dem Jagd stießen wir auf keinen Wolf. Sie sind sehr gescheite Kreaturen. Der Onkel fing nur ein wenig Tauben. Abends spielte ich Karten mit Oma oder sah ich deutsche Filme mit Eltern. Zu meiner Verwunderung gefiel sie ihnen. So verging noch ein Monat meines Leben."

Ulan-Ude in diesem Februar: stabile minus 15 Grad, viel Sonne und blauer Himmel, trocken und fast windstill, eine dünne, feste Schneedecke, nicht selten Glatteis auf den Wegen. Über der Stadt liegt ein leichter Brandgeruch vom Heizen zehntausender Öfen in den kleinen Holzhäusern, den ich aus irgendeinem Grunde sympathisch finde, der sich für mich geradewegs mit Gemütlichkeit verbindet.
Am Zentrum Ulan-Udes vorbei fließt die dort etwa einen halben Kilometer breite Selenga, die aus der Mongolei kommt und den längsten und wasserreichsten Zufluss des Baikalsees darstellt. Gestern lief ich auf dem vereisten Strom aus dem Dunstkreis der Stadt heraus zwanzig Kilometer flussaufwärts. Oft folgte ich dabei bereits ausgetretenen Schlitten-, Ski- oder Fußspuren, an manchen Stellen setzte ich meine Füße als erster in den herrlich knirschenden Schnee. Zwei Zelte auf dem Eis, ein Angler vor seinem Loch, ein paar Autos – ansonsten hatte ich die Selenga an diesem Sonntag für mich allein. Meistens ging das Vorwärtskommen zügig, an manchen Stellen musste ich breite Gürtel aufgeworfenen Eisschollenbruchs überqueren. Ein endlos langer Güterzug ratterte etwas oberhalb an einer steilen Uferstelle vorbei - parallel zum Fluss verläuft hier die Bahnstrecke in Richtung der mongolischen Hauptstadt Ulan-Bator. An einer Stelle am Ufer mit Sträuchern und kleinen knorzligen Bäumen machte ich ein Lagerfeuer; das trockene Holz brennt auch im Winter wunderbar. Endpunkt meiner Tour war die Eisenbahn- und Autobrücke südlich von Ulan-Ude, an deren einer Seite zwei bronzene Rentiere von einem Felsen in die bergige Landschaft schauen.
Etwa fünfzehn Gehminuten von meiner Wohnung entfernt, direkt an den Gleisen der nach Osten führenden transsibirischen Eisenbahn, befindet sich ein langgestrecktes hölzernes Gebäude mit der Aufschrift Баня. Innen sieht es alt und ranzig aus, in der Umkleide stank es nach Lackfarbe, eine unfreundliche alte Dame lief zwischen den nackten Männern umher, im Waschraum herrschte funzeliges Halbdunkel. Dann aber der Dampfraum, das Herzstück einer Banja: die alle Poren durchdringende, wunderbare Hitze und der herrliche Geruch der Веники aus Eichen- oder Birkenlaub, Reisigbesen, mit denen sich die Leute die Haut abschlagen - nach fünf Stunden Fußmarsch genau das Richtige!

Die Mongolen planen schon seit einigen Jahren, die Selenga für ein riesiges Wasserkraftwerk anzustauen. In Russland macht man sich Sorgen, dass die verringerte Wassermenge des Flusses das ökologische Gleichgewicht des Baikalsees stören könnte.

Drei verschiedene Wjeniki für die Banja: aus Birken-, Tannen- und Eichenlaub