Während meine sich vegan
ernährende Schwester bei plus dreißig Grad gemeinsam mit ihrem Freund den
Sommer auf der Südinsel Neuseelands genießt, löffle ich eine von meiner
Freundin zubereitete Schafsfleischsuppe und schaue aus dem Fenster in den minus
zehn Grad kalten sibirischen Winter. Straßen, Wege und Dächer sind
schneebedeckt, ein strahlendes Weiß, das Staub, Müll und liebloses Grau ein
paar Monate lang gnädig unsichtbar macht. Auf dem zentralen Sowjet-Platz sind wie jedes Jahr kunstvoll aus Eisblöcken geformte Figuren aufgetaucht; im Hintergrund thront Lenins Kopf mit einer weißen Schneekappe. Ich trage eine Daunenjacke, Niso
einen schicken Mouton-Pelz. Die Verwendung von tierischen Erzeugnissen ist
etwas ganz Selbstverständliches. Als die kleine Maja am zwölften Dezember ihren
siebten Geburtstag hatte, war ihr Hauptgeschenk ein kleiner, unglaublich
weicher und anschmiegsamer Plüschhase, so weich deshalb, weil das verwendete
Fell keine Synthetik ist, sondern echtes Kaninchen.
Auf einer Festveranstaltung bekam
Niso feierlich ihr Hochschulzeugnis überreicht, der Abschluss von vier Jahren
Pädagogik-Fernstudium. Der dunkelblaue Kartoneinband mit dem darauf geprägten
doppelköpfigen russischen Adler enthält eine Auflistung aller etwa fünfzig
belegten einzelnen Disziplinen wie Kinderliteratur und Aktuelle Probleme der
Kinderpsychologie sowie solche, die nichts mit dem eigentlichen Fach zu tun
haben, zum Beispiel Philosphie, Burjatisch und Baikalkunde. Eine
Durchschnittsnote wird nicht angegeben. Studenten, die überwiegend Bestnoten
vorweisen können, bekommen ein krasnyj
diplom: der Einband hat eine rote Farbe.
In der letzten Woche besuchte ich
eine Vorlesung im Fach Politikwissenschaft, das Thema hieß „Russland als
Vielvölkerstaat“. Wie kam es dazu, dass in Russland viele Völker zusammenleben,
und welche Probleme sind damit verbunden? Im Wesentlichen, so erklärte der
burjatische Professor, vereinigten sich die Völker unter dem Dach Russlands
freiwillig, da die auf beiden Seiten bestehenden Interessen zusammenfielen: Der
Zar erweiterte sein Territorium, das Imperium erschloss neue Ressourcen und
Bodenschätze; die zahlreichen kleineren und größeren Völker bekamen Sicherheit
und Stabilität. 350 Jahre ist es nun her, dass sich Burjatien an Russland
angeschlossen hat; was haben die Burjaten davon? Infrastruktur, Industrie, Bildung
und Anschluss an die Weltkultur! Aber natürlich, meinte der Dozent, gab es auch
Gebiete, da müsse man einräumen, dass der Anschluss an Russland nicht
freiwillig geschehen sei. Welche das wären?, erging die Frage an die Studenten.
Kamtschatka zum Beispiel, sagte
ich, da niemand sonst den Mund aufmachte.
Aber nein, wie ich denn darauf
käme? Kamtschatka sei schon immer Teil des russischen Imperiums gewesen.
Finnland könne man da nennen, oder Polen, beantwortete der Dozent seine Frage selbst;
ersteres von 1809 bis 1917 als Großfürstentum
Finnland Teil des Zarenreiches, letzteres bis 1918 zwischen Deutschland und
Russland aufgeteilt.
Nach der Vorlesung sprach ich den
burjatischen Professor noch einmal auf Kamtschatka an: haben nicht die
eingeborenen Korjaken dort hundert und mehr Jahre lang blutigen Widerstand
gegen die russischen Kolonisatoren geleistet? Und Chabarow, der mit seinen
Kosaken blutig im Fernen Osten herumwütete?
Da hätte ich ja ein völlig
verzerrtes Bild, bekam ich zur Antwort. Gewiss habe es einzelne Zusammenstöße
der Kosakentrupps mit den Ureinwohnern gegeben, aber im Wesentlichen sei das
Land doch leer gewesen und erst durch die Russen überhaupt zivilisiert worden.
Im kollektiven historischen Gedächtnis sei bei keinem der sibirischen Völker
verankert, dass sie gewaltsam unterworfen wurden.
Interessant fand ich zu hören,
dass die Republik Burjatien nach der Oktoberrevolution zunächst deutlich größer
war als heute. In den 30er Jahren befürchtete Stalin, dass eine zu starke
burjatische Nation sich im Rahmen der Panmongolismus-Bewegung
mit der Mongolei vereinigen könnte, weshalb man Ust-Ordynsk im Westen und
Aginsk im Osten verwaltungstechnisch ausgliederte, die heute zu den Gebieten
Irkutsk und Sabaikalsk gehören.
Heute beginnt das katholische Weihnachten, wie das in
Westeuropa gefeierte Fest hier etwas vereinfachend genannt wird. Niso, Maja und
ich werden in das Haus der
Völkerfreundschaft gehen und dort einer von Russlanddeutschen und
polnischen Exilanten organisierten Feier beiwohnen. Eine kleine Einstimmung auf
die Festtage hatten wir in dieser Woche schon beim Besuch eines Orgelkonzertes
in der katholischen Kirche bekommen, in der ein polnischer Organist auf der
einzigen Orgel Burjatiens spielte, eine große Besonderheit für Sibirien. In
russisch-orthodoxen Gotteshäusern gibt es außer der menschlichen Stimme keine
Instrumente.
Eiskunst im Stadtzentrum. Im Hintergrund Lenin mit Schneehaube |
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Ein Ausflug an den vereisten Fluss |