Sonntag, 24. Dezember 2017

Pelz und Politik

Während meine sich vegan ernährende Schwester bei plus dreißig Grad gemeinsam mit ihrem Freund den Sommer auf der Südinsel Neuseelands genießt, löffle ich eine von meiner Freundin zubereitete Schafsfleischsuppe und schaue aus dem Fenster in den minus zehn Grad kalten sibirischen Winter. Straßen, Wege und Dächer sind schneebedeckt, ein strahlendes Weiß, das Staub, Müll und liebloses Grau ein paar Monate lang gnädig unsichtbar macht. Auf dem zentralen Sowjet-Platz sind wie jedes Jahr kunstvoll aus Eisblöcken geformte Figuren aufgetaucht; im Hintergrund thront Lenins Kopf mit einer weißen Schneekappe. Ich trage eine Daunenjacke, Niso einen schicken Mouton-Pelz. Die Verwendung von tierischen Erzeugnissen ist etwas ganz Selbstverständliches. Als die kleine Maja am zwölften Dezember ihren siebten Geburtstag hatte, war ihr Hauptgeschenk ein kleiner, unglaublich weicher und anschmiegsamer Plüschhase, so weich deshalb, weil das verwendete Fell keine Synthetik ist, sondern echtes Kaninchen.

Auf einer Festveranstaltung bekam Niso feierlich ihr Hochschulzeugnis überreicht, der Abschluss von vier Jahren Pädagogik-Fernstudium. Der dunkelblaue Kartoneinband mit dem darauf geprägten doppelköpfigen russischen Adler enthält eine Auflistung aller etwa fünfzig belegten einzelnen Disziplinen wie Kinderliteratur und Aktuelle Probleme der Kinderpsychologie sowie solche, die nichts mit dem eigentlichen Fach zu tun haben, zum Beispiel Philosphie, Burjatisch und Baikalkunde. Eine Durchschnittsnote wird nicht angegeben. Studenten, die überwiegend Bestnoten vorweisen können, bekommen ein krasnyj diplom: der Einband hat eine rote Farbe.

In der letzten Woche besuchte ich eine Vorlesung im Fach Politikwissenschaft, das Thema hieß „Russland als Vielvölkerstaat“. Wie kam es dazu, dass in Russland viele Völker zusammenleben, und welche Probleme sind damit verbunden? Im Wesentlichen, so erklärte der burjatische Professor, vereinigten sich die Völker unter dem Dach Russlands freiwillig, da die auf beiden Seiten bestehenden Interessen zusammenfielen: Der Zar erweiterte sein Territorium, das Imperium erschloss neue Ressourcen und Bodenschätze; die zahlreichen kleineren und größeren Völker bekamen Sicherheit und Stabilität. 350 Jahre ist es nun her, dass sich Burjatien an Russland angeschlossen hat; was haben die Burjaten davon? Infrastruktur, Industrie, Bildung und Anschluss an die Weltkultur! Aber natürlich, meinte der Dozent, gab es auch Gebiete, da müsse man einräumen, dass der Anschluss an Russland nicht freiwillig geschehen sei. Welche das wären?, erging die Frage an die Studenten.
Kamtschatka zum Beispiel, sagte ich, da niemand sonst den Mund aufmachte.
Aber nein, wie ich denn darauf käme? Kamtschatka sei schon immer Teil des russischen Imperiums gewesen. Finnland könne man da nennen, oder Polen, beantwortete der Dozent seine Frage selbst; ersteres von 1809 bis 1917 als Großfürstentum Finnland Teil des Zarenreiches, letzteres bis 1918 zwischen Deutschland und Russland aufgeteilt.
Nach der Vorlesung sprach ich den burjatischen Professor noch einmal auf Kamtschatka an: haben nicht die eingeborenen Korjaken dort hundert und mehr Jahre lang blutigen Widerstand gegen die russischen Kolonisatoren geleistet? Und Chabarow, der mit seinen Kosaken blutig im Fernen Osten herumwütete?
Da hätte ich ja ein völlig verzerrtes Bild, bekam ich zur Antwort. Gewiss habe es einzelne Zusammenstöße der Kosakentrupps mit den Ureinwohnern gegeben, aber im Wesentlichen sei das Land doch leer gewesen und erst durch die Russen überhaupt zivilisiert worden. Im kollektiven historischen Gedächtnis sei bei keinem der sibirischen Völker verankert, dass sie gewaltsam unterworfen wurden.
Interessant fand ich zu hören, dass die Republik Burjatien nach der Oktoberrevolution zunächst deutlich größer war als heute. In den 30er Jahren befürchtete Stalin, dass eine zu starke burjatische Nation sich im Rahmen der Panmongolismus-Bewegung mit der Mongolei vereinigen könnte, weshalb man Ust-Ordynsk im Westen und Aginsk im Osten verwaltungstechnisch ausgliederte, die heute zu den Gebieten Irkutsk und Sabaikalsk gehören.

Heute beginnt das katholische Weihnachten, wie das in Westeuropa gefeierte Fest hier etwas vereinfachend genannt wird. Niso, Maja und ich werden in das Haus der Völkerfreundschaft gehen und dort einer von Russlanddeutschen und polnischen Exilanten organisierten Feier beiwohnen. Eine kleine Einstimmung auf die Festtage hatten wir in dieser Woche schon beim Besuch eines Orgelkonzertes in der katholischen Kirche bekommen, in der ein polnischer Organist auf der einzigen Orgel Burjatiens spielte, eine große Besonderheit für Sibirien. In russisch-orthodoxen Gotteshäusern gibt es außer der menschlichen Stimme keine Instrumente.

Eiskunst im Stadtzentrum. Im Hintergrund Lenin mit Schneehaube

Ein Ausflug an den vereisten Fluss