Ich sah eine alte Schreibmaschine im Kopier-Kämmerchen
meines Institutes. Sie stand auf dem Boden neben anderen musealen technischen
Geräten, neben Polylux, Diaprojektor, verstaubten Druckern, funktionsunfähigen Scannern
und großen, schweren Bildschirmen. Die altehrwürdigen Gebäude der Universität
sind voller solcher Orte, durch welche schon seit Jahrzehnten kein Bewusstsein
mehr gedrungen ist, wo nie aufräumende, ordnende Kräfte gewirkt haben.
Ähnlich der Arbeit eines Archäologen kann man hier Schicht für Schicht die
vergangenen Zeiten freilegen und sich ein Bild vom Universitätsleben vor 10
Jahren machen, von den wilden 90ern oder aus dem letzten Jahrzehnt der Sowjetunion.
Die Schreibmaschine habe ich mit nach Hause genommen.
Niemand wird ihren Verlust bemerken, aber natürlich bringe ich sie irgendwann
zurück. Zunächst steht sie bei uns in der Wohnung und erfreut die kleine Maja,
die schon etwa ein Drittel der Buchstaben kennt und neugierig versucht, erste
Wörter zu schreiben – glücklicherweise ist das Farbband noch nicht ganz
ausgetrocknet! Die Zahl drei fehlt, da der russische Buchstabe für das
stimmhafte s fast genauso aussieht. Das einfache, in Jugoslawien hergestellte
Modell weckt Erinnerungen an meine Kindheit, als ich auf der „Erika“ meiner
Eltern herumtippte und mich bei den Großeltern mit Vorliebe an eine große,
schwarze Schreibmaschine setzte und Fantasietexte verfasste. Es ist
erstaunlich, was von solch einem mechanischen Gerät im Digitalzeitalter für
eine Faszination ausgeht; ich freue mich über den Fund im Kopier-Kämmerchen mehr,
als wenn mir jemand ein neues Smartphone geschenkt hätte.
Maja geht zweimal pro Woche zur Schach-AG, und ich spiele
mit ihr fast jeden Tag eine Übungspartie. Die Buchstaben a bis g auf dem
Spielfeld werden auch in der russischen Schachtradition mit lateinischen
Buchstaben bezeichnet. Der Schäferzug,
die bekannteste und schnellste Eröffnungsfalle, heißt djetskij mat: Kindermatt.
Ich öffnete ein Päckchen aus Deutschland und förderte daraus
eine Packung Knäckebrot und eine Pumpernickelbrot zutage. Einige in Deutschland
selbstverständliche Lebensmittel sind in Ulan-Ude nicht erhältlich, andere nur
im Edel-Supermarkt „Sputnik“ im Stadtzentrum zu Preisen, die sich hier wohl nur
eine Oberschicht leisten kann, zum Beispiel eine Ecke leckersten
Blauschimmelkäse für umgerechnet zehn Euro, hergestellt in Südamerika oder
Moskau, da europäische Lebensmittel immer noch mit einem Embargo belegt sind.
Fenchel-Anis-Kümmel-Tee wurde mir schon geschickt oder Lakritz-Süßigkeiten, für
die einen sehr begehrt, von meinen Studenten und Dozenten mit einem säuerlichen
„erinnert irgendwie an Medizin“ kommentiert. Umgekehrt werde ich zum Jahreswechsel
Zedernnüsse, Gebirgshonig,
Lärchenharz-Kaugummi, Sanddorn-Öl und Machorka-Bauerntabak
mit in die Heimat bringen, vielleicht noch Mischka-Konfekt
und Faulbaumpulver zum Backen.
Ich fuhr mit meinen Praktikanten-Kollegen vom Lehrstuhl,
Florian und Valentin, in die Steppe an den Fluss Selenga. Von einem als Schlafender Löwe bekannten Hügel
schweift der Blick über das mäandrierende, eis- und schneebedeckte Flussband
kilometerweit nach Süden Richtung Mongolei. Schon jetzt, Ende November, ist das
Wasser fast völlig gefroren, und an den Ufern sitzen die ersten Angler neben
oder in kleinen beheizbaren, mit Autos auf den Fluss heraus gezogenen
Holzhütten und gehen ihrer geduldigen Beschäftigung nach. In einer Niederung
zwischen zwei der felsigen Erhebungen machten wir ein Lagerfeuer. Obwohl es Minusgrade
sind, brannte das trockene Holz sofort und die Flammen fraßen sich dort, wo
kein Schnee liegt, zügig durch das gelbe, abgestorbene Gras, so dass wir sie
hin und wieder austreten mussten.
Mein Kollege Mischa, ehemals Englischlehrer und nun Leiter
des Lehrstuhles für Theologie, holte uns mit seinem Lada ab. Eigentlich hatte er
mir am Morgen das Auto für den Ausflug geben wollen, doch da gerade Neuschnee
gefallen war, wir mit nicht geräumten Straßen rechnen mussten und ich mich noch
nicht zu den in russischen Verhältnissen routinierten Fahrern zählen kann, nahmen wir für die Hinfahrt den Minibus. Ob ich mit Benzingeld aushelfen könne,
fragte Mischa am Telefon, bevor er sich zu uns auf den Weg machte. Trotz Doktortitel
und Universitätsanstellung lebt er mit seiner Familie an der Grenze zur Armut,
wie er meint, seine drei Kinder trinken regelmäßig Milch und bekommen Fleisch,
wenn auch nicht jeden Tag, darauf ist er stolz; und natürlich hilft ihm Gott.
Jetzt für den Winter hat er eine zusätzliche Heizung unter den Beifahrersitz
gelegt, durch einen dicken Schlauch mit dem Motorraum verbunden. Ich musste
daran denken, was mir neulich jemand über Steppendurchquerungen erzählte in
Zeiten, als es noch keinen Handyempfang gab: wenn das Auto auf einer kaum
befahrenen Strecke mit Motorschaden liegenblieb, im Februar bei minus vierzig,
dann fingen die Leute an, die Reifen zu verbrennen, um nicht zu erfrieren,
einer nach dem anderen. Ein Reifen brennt etwa fünfzehn Minuten. Wenn nach
einer Stunde keine Hilfe in Sicht ist, dann gute Nacht.
Bei uns am Lehrstuhl für Deutsch und Französisch hat sich
zurzeit ein kleines internationales Lehrerkollektiv eingefunden. Florian kommt
aus Österreich und studiert in Wien Deutsch als Fremdsprache. Mit dem charmanten
Valentin aus Frankreich treffe ich mich gelegentlich zum Schachspielen. Urs aus
der Schweiz , dessen typisch Schweizer Name ‚Bär‘ bedeutet, ist eigentlich
hier, um Russisch zu lernen; damit ihm nicht so langweilig wird, unterrichtet
er noch ein wenig. Alle singen in meinem Chor mit, wie auch Leslie und Aurelia,
zwei Studentinnen aus Deutschland und Frankreich an der Historischen Fakultät –
Studierende aus Westeuropa sind eine außerordentliche Seltenheit an der
Burjatischen Staatlichen Universität, Ausländer kommen in der Regel aus China,
der Mongolei und Südkorea.
Ich las mit Vorliebe Bücher von Europäern, die aus eigenem
Erleben über Sibirien und Russland schreiben: Karin Haß, in der Taiga mit einem
ewenkischen Jäger verheiratet; Werner Beck, ein Jahr in einer Jurte am
Baikalsee lebend; Brigitte Reimann, die sozialistische Aufbruchsstimmung in ihrem
Sibirien-Tagebuch festhaltend; Stephan Orth, couchsurfend durch Russland
ziehend; Jens Mühling, sich in die chakassische Taiga zu einer Altgläubigen
aufmachend; der Baltendeutsche Traugott von Stackelberg, der nach Ausbruch des
ersten Weltkrieges nach Sibirien verbannt wurde; Klaus Bednarz, dessen "Ballade vom Baikalsee" die Region in Deutschland populär gemacht hat. Der Schriftsteller Christoph Ransmayr war in der
russischen Arktis unterwegs; der englische Literat Colin Thubron porträtiert das
Sibirien der späten 90er Jahre, und Franzose Sylvain Tesson schreibt über sein
Einsiedlerjahr in einer Holzhütte am Baikal, wobei ihn im Unterschied zu allen
übrigen das Trinken auszeichnet. „90%iger Alkohol für den Fall eines
Wodka-Engpasses“ steht in seiner Ausrüstungsliste.
Sieben Uhr morgens, ich werfe einen Blick auf das
Außenthermometer am Küchenfenster: minus zwanzig. Es liegt wenig Schnee, die
Temperatur wird gegen Nachmittag auf minus zehn angestiegen sein. Der heutige
Tag verspricht zu werden wie die letzten: sonnig, klar und knackig kalt. Der
sibirische Winter hat Einzug gehalten.