Samstag, 25. November 2017

Die Schreibmaschine




















Ich sah eine alte Schreibmaschine im Kopier-Kämmerchen meines Institutes. Sie stand auf dem Boden neben anderen musealen technischen Geräten, neben Polylux, Diaprojektor, verstaubten Druckern, funktionsunfähigen Scannern und großen, schweren Bildschirmen. Die altehrwürdigen Gebäude der Universität sind voller solcher Orte, durch welche schon seit Jahrzehnten kein Bewusstsein mehr gedrungen ist, wo nie aufräumende, ordnende Kräfte gewirkt haben. Ähnlich der Arbeit eines Archäologen kann man hier Schicht für Schicht die vergangenen Zeiten freilegen und sich ein Bild vom Universitätsleben vor 10 Jahren machen, von den wilden 90ern oder aus dem letzten Jahrzehnt der Sowjetunion.
Die Schreibmaschine habe ich mit nach Hause genommen. Niemand wird ihren Verlust bemerken, aber natürlich bringe ich sie irgendwann zurück. Zunächst steht sie bei uns in der Wohnung und erfreut die kleine Maja, die schon etwa ein Drittel der Buchstaben kennt und neugierig versucht, erste Wörter zu schreiben – glücklicherweise ist das Farbband noch nicht ganz ausgetrocknet! Die Zahl drei fehlt, da der russische Buchstabe für das stimmhafte s fast genauso aussieht. Das einfache, in Jugoslawien hergestellte Modell weckt Erinnerungen an meine Kindheit, als ich auf der „Erika“ meiner Eltern herumtippte und mich bei den Großeltern mit Vorliebe an eine große, schwarze Schreibmaschine setzte und Fantasietexte verfasste. Es ist erstaunlich, was von solch einem mechanischen Gerät im Digitalzeitalter für eine Faszination ausgeht; ich freue mich über den Fund im Kopier-Kämmerchen mehr, als wenn mir jemand ein neues Smartphone geschenkt hätte.
Maja geht zweimal pro Woche zur Schach-AG, und ich spiele mit ihr fast jeden Tag eine Übungspartie. Die Buchstaben a bis g auf dem Spielfeld werden auch in der russischen Schachtradition mit lateinischen Buchstaben bezeichnet. Der Schäferzug, die bekannteste und schnellste Eröffnungsfalle, heißt djetskij mat: Kindermatt.

Ich öffnete ein Päckchen aus Deutschland und förderte daraus eine Packung Knäckebrot und eine Pumpernickelbrot zutage. Einige in Deutschland selbstverständliche Lebensmittel sind in Ulan-Ude nicht erhältlich, andere nur im Edel-Supermarkt „Sputnik“ im Stadtzentrum zu Preisen, die sich hier wohl nur eine Oberschicht leisten kann, zum Beispiel eine Ecke leckersten Blauschimmelkäse für umgerechnet zehn Euro, hergestellt in Südamerika oder Moskau, da europäische Lebensmittel immer noch mit einem Embargo belegt sind. Fenchel-Anis-Kümmel-Tee wurde mir schon geschickt oder Lakritz-Süßigkeiten, für die einen sehr begehrt, von meinen Studenten und Dozenten mit einem säuerlichen „erinnert irgendwie an Medizin“ kommentiert. Umgekehrt werde ich zum Jahreswechsel Zedernnüsse, Gebirgshonig, Lärchenharz-Kaugummi, Sanddorn-Öl und Machorka-Bauerntabak mit in die Heimat bringen, vielleicht noch Mischka-Konfekt und Faulbaumpulver zum Backen.

Ich fuhr mit meinen Praktikanten-Kollegen vom Lehrstuhl, Florian und Valentin, in die Steppe an den Fluss Selenga. Von einem als Schlafender Löwe bekannten Hügel schweift der Blick über das mäandrierende, eis- und schneebedeckte Flussband kilometerweit nach Süden Richtung Mongolei. Schon jetzt, Ende November, ist das Wasser fast völlig gefroren, und an den Ufern sitzen die ersten Angler neben oder in kleinen beheizbaren, mit Autos auf den Fluss heraus gezogenen Holzhütten und gehen ihrer geduldigen Beschäftigung nach. In einer Niederung zwischen zwei der felsigen Erhebungen machten wir ein Lagerfeuer. Obwohl es Minusgrade sind, brannte das trockene Holz sofort und die Flammen fraßen sich dort, wo kein Schnee liegt, zügig durch das gelbe, abgestorbene Gras, so dass wir sie hin und wieder austreten mussten.
Mein Kollege Mischa, ehemals Englischlehrer und nun Leiter des Lehrstuhles für Theologie, holte uns mit seinem Lada ab. Eigentlich hatte er mir am Morgen das Auto für den Ausflug geben wollen, doch da gerade Neuschnee gefallen war, wir mit nicht geräumten Straßen rechnen mussten und ich mich noch nicht zu den in russischen Verhältnissen routinierten Fahrern zählen kann, nahmen wir für die Hinfahrt den Minibus. Ob ich mit Benzingeld aushelfen könne, fragte Mischa am Telefon, bevor er sich zu uns auf den Weg machte. Trotz Doktortitel und Universitätsanstellung lebt er mit seiner Familie an der Grenze zur Armut, wie er meint, seine drei Kinder trinken regelmäßig Milch und bekommen Fleisch, wenn auch nicht jeden Tag, darauf ist er stolz; und natürlich hilft ihm Gott. Jetzt für den Winter hat er eine zusätzliche Heizung unter den Beifahrersitz gelegt, durch einen dicken Schlauch mit dem Motorraum verbunden. Ich musste daran denken, was mir neulich jemand über Steppendurchquerungen erzählte in Zeiten, als es noch keinen Handyempfang gab: wenn das Auto auf einer kaum befahrenen Strecke mit Motorschaden liegenblieb, im Februar bei minus vierzig, dann fingen die Leute an, die Reifen zu verbrennen, um nicht zu erfrieren, einer nach dem anderen. Ein Reifen brennt etwa fünfzehn Minuten. Wenn nach einer Stunde keine Hilfe in Sicht ist, dann gute Nacht.

Bei uns am Lehrstuhl für Deutsch und Französisch hat sich zurzeit ein kleines internationales Lehrerkollektiv eingefunden. Florian kommt aus Österreich und studiert in Wien Deutsch als Fremdsprache. Mit dem charmanten Valentin aus Frankreich treffe ich mich gelegentlich zum Schachspielen. Urs aus der Schweiz , dessen typisch Schweizer Name ‚Bär‘ bedeutet, ist eigentlich hier, um Russisch zu lernen; damit ihm nicht so langweilig wird, unterrichtet er noch ein wenig. Alle singen in meinem Chor mit, wie auch Leslie und Aurelia, zwei Studentinnen aus Deutschland und Frankreich an der Historischen Fakultät – Studierende aus Westeuropa sind eine außerordentliche Seltenheit an der Burjatischen Staatlichen Universität, Ausländer kommen in der Regel aus China, der Mongolei und Südkorea.

Ich las mit Vorliebe Bücher von Europäern, die aus eigenem Erleben über Sibirien und Russland schreiben: Karin Haß, in der Taiga mit einem ewenkischen Jäger verheiratet; Werner Beck, ein Jahr in einer Jurte am Baikalsee lebend; Brigitte Reimann, die sozialistische Aufbruchsstimmung in ihrem Sibirien-Tagebuch festhaltend; Stephan Orth, couchsurfend durch Russland ziehend; Jens Mühling, sich in die chakassische Taiga zu einer Altgläubigen aufmachend; der Baltendeutsche Traugott von Stackelberg, der nach Ausbruch des ersten Weltkrieges nach Sibirien verbannt wurde; Klaus Bednarz, dessen "Ballade vom Baikalsee" die Region in Deutschland populär gemacht hat. Der Schriftsteller Christoph Ransmayr war in der russischen Arktis unterwegs; der englische Literat Colin Thubron porträtiert das Sibirien der späten 90er Jahre, und Franzose Sylvain Tesson schreibt über sein Einsiedlerjahr in einer Holzhütte am Baikal, wobei ihn im Unterschied zu allen übrigen das Trinken auszeichnet. „90%iger Alkohol für den Fall eines Wodka-Engpasses“ steht in seiner Ausrüstungsliste.

Sieben Uhr morgens, ich werfe einen Blick auf das Außenthermometer am Küchenfenster: minus zwanzig. Es liegt wenig Schnee, die Temperatur wird gegen Nachmittag auf minus zehn angestiegen sein. Der heutige Tag verspricht zu werden wie die letzten: sonnig, klar und knackig kalt. Der sibirische Winter hat Einzug gehalten.