Freitag, 8. Dezember 2017

Ein Wintermärchen

















Ulan-Ude ist von einer dicken, knirschenden Schneeschicht eingehüllt; es sind nur wenige Grad unter Null. Der wattige Schnee bleibt hoch auf den Ästen der Bäume liegen, ein geradezu märchenhafter Anblick. In den letzten fünf Jahren hat es noch nie so viel auf einmal geschneit wie in den vergangenen Tagen, sagt mein Bekannter Mischa.

Niso verteidigt heute ihre Bachelorarbeit und wird damit ihr Fernstudium der Pädagogik im Vorschulalter abschließen. Zwölf Minuten stehen für ihren Vortrag und die Beantwortung von Fragen durch die Attestierungskommission zur Verfügung. Ihr Thema ist die Nützlichkeit von Bewegungsspielen für die Entwicklung der Kinder im Kindergarten. Die meisten ihrer Kommilitoninnen haben die Abschlussarbeit gekauft, da sie berufstätig sind und überhaupt keine Zeit haben, sich wochen- oder monatelang hinzusetzen und einen wissenschaftlichen Text zu verfassen. Fünfzehntausend Rubel kostet eine Diplomarbeit, zusammen mit der Abschlusspräsentation werden es zwanzigtausend. Meine Freundin hat sich mehr Mühe gemacht und ihre Arbeit selbst mit Textstücken aus dem Internet zusammenkopiert. Ihre wissenschaftliche Betreuerin hat anschließend viele Wörter durch Synonyme ersetzt, damit der Text die vorgeschriebene Anti-Plagiat-Prüfung besteht. Unter Fernstudenten ist es überhaupt nicht üblich, Abschlussarbeiten eigenständig anzufertigen. Es gibt andere Dinge, auf die es viel eher ankommt; die Absolventen haben genaue Anleitungen über die am Verteidigungstag zu tragende Kleidung erhalten (feierlich-schick, nicht zu grell, aber auch nicht schwarz-weiß) und sollen im Dozentenzimmer einen festlichen Tisch decken mit (von ihnen selbst spendierten) Speisen und Getränken, damit die Mitglieder der staatlichen Attestierungskommission sich zwischendurch stärken und erholen können.

Am letzten Wochenende habe ich auf einer Weiterbildung für Deutschlehrer etwas über die Fraktur- und Kurrentschrift erzählt, Federn und Tinte ausgeteilt und die Kolleginnen ermutigt, selbst einmal zu versuchen, die alte Schrift zu schreiben. Ich erklärte, dass sie 1941 auf persönliche Anordnung Hitlers abgeschafft wurde – schließlich war die Weltherrschaft geplant, und die deutschen Buchstaben müssen für alle verständlich sein – und es seitdem nur noch die heute übliche Lateinschrift gibt. Das Formen der Kurrentbuchstaben ist für eine ungeübte Hand natürlich mühsam. „Das war wohl Hitlers einzige gute Entscheidung – diese Schrift abzuschaffen“, meinte eine Kollegin.

Jeden Abend lese ich der kleinen Maja ein Märchen vor, ein russisches Volksmärchen, ein Grimm`sches oder ein von Hauff, Topelius oder Puschkin verfasstes Kunstmärchen.  Betone ich ein Wort falsch, korrigiert Maja mich und reicht mir einen Bleistift, damit ich einen Betonungsstrich setze. In der russischen Sprache muss jedes Wort deutlich auf einer bestimmten Silbe betont werden, nur auf welcher – dafür gibt es keine allgemeinen Regeln. Ich bin inzwischen schon ziemlich gut; der Bleistift kommt nur ein oder zwei Mal pro Buchseite zum Einsatz.