Ulan-Ude ist von einer dicken, knirschenden Schneeschicht
eingehüllt; es sind nur wenige Grad unter Null. Der wattige Schnee bleibt hoch
auf den Ästen der Bäume liegen, ein geradezu märchenhafter Anblick. In den
letzten fünf Jahren hat es noch nie so viel auf einmal geschneit wie in den
vergangenen Tagen, sagt mein Bekannter Mischa.
Niso verteidigt heute ihre Bachelorarbeit und wird damit ihr
Fernstudium der Pädagogik im Vorschulalter abschließen. Zwölf Minuten stehen
für ihren Vortrag und die Beantwortung von Fragen durch die
Attestierungskommission zur Verfügung. Ihr Thema ist die Nützlichkeit von
Bewegungsspielen für die Entwicklung der Kinder im Kindergarten. Die meisten
ihrer Kommilitoninnen haben die Abschlussarbeit gekauft, da sie berufstätig
sind und überhaupt keine Zeit haben, sich wochen- oder monatelang hinzusetzen
und einen wissenschaftlichen Text zu verfassen. Fünfzehntausend Rubel kostet
eine Diplomarbeit, zusammen mit der Abschlusspräsentation werden es
zwanzigtausend. Meine Freundin hat sich mehr Mühe gemacht und ihre Arbeit
selbst mit Textstücken aus dem Internet zusammenkopiert. Ihre wissenschaftliche
Betreuerin hat anschließend viele Wörter durch Synonyme ersetzt, damit der Text
die vorgeschriebene Anti-Plagiat-Prüfung besteht. Unter Fernstudenten ist es
überhaupt nicht üblich, Abschlussarbeiten eigenständig anzufertigen. Es gibt
andere Dinge, auf die es viel eher ankommt; die Absolventen haben genaue
Anleitungen über die am Verteidigungstag zu tragende Kleidung erhalten (feierlich-schick,
nicht zu grell, aber auch nicht schwarz-weiß) und sollen im Dozentenzimmer
einen festlichen Tisch decken mit (von ihnen selbst spendierten) Speisen und
Getränken, damit die Mitglieder der staatlichen Attestierungskommission sich
zwischendurch stärken und erholen können.
Am letzten Wochenende habe ich auf einer Weiterbildung für
Deutschlehrer etwas über die Fraktur- und Kurrentschrift erzählt, Federn und
Tinte ausgeteilt und die Kolleginnen ermutigt, selbst einmal zu versuchen, die
alte Schrift zu schreiben. Ich erklärte, dass sie 1941 auf persönliche
Anordnung Hitlers abgeschafft wurde – schließlich war die Weltherrschaft
geplant, und die deutschen Buchstaben müssen für alle verständlich sein – und es
seitdem nur noch die heute übliche Lateinschrift gibt. Das Formen der
Kurrentbuchstaben ist für eine ungeübte Hand natürlich mühsam. „Das war wohl
Hitlers einzige gute Entscheidung – diese Schrift abzuschaffen“, meinte eine
Kollegin.
Jeden Abend lese ich der kleinen Maja ein Märchen vor, ein
russisches Volksmärchen, ein Grimm`sches oder ein von Hauff, Topelius oder
Puschkin verfasstes Kunstmärchen. Betone
ich ein Wort falsch, korrigiert Maja mich und reicht mir einen Bleistift, damit
ich einen Betonungsstrich setze. In der russischen Sprache muss jedes Wort
deutlich auf einer bestimmten Silbe betont werden, nur auf welcher – dafür gibt
es keine allgemeinen Regeln. Ich bin inzwischen schon ziemlich gut; der
Bleistift kommt nur ein oder zwei Mal pro Buchseite zum Einsatz.