Am Montag Morgen schaute ich aus
dem Fenster und erlebte eine Überraschung: dicke Schneeflocken tanzten vom
Himmel herab, und die ganze Stadt war in eine flauschig und gemütlich
aussehende, strahlend weiße Schneedecke gehüllt. Die Verkehrsgeräusche von der
Straße drangen wie gedämpft ans Ohr, und Autos sowie Fußgänger bewegten sich
gleichsam tastend und langsam vorwärts. Inzwischen liegt der Schnee nur noch in
Resten, aber seine Zeit wird kommen, bald wird er auch die südlichen Gegenden
Sibiriens unerbittlich im Griff haben, ein halbes Jahr lang.
In der nächsten Woche steht ein
besonderes Ereignis an, ein Seminar mit Gästen aus der Ferne. Vier Dozenten
werden anreisen, aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, sie werden
Vorträge halten über linguistische Themen und über Literaturwissenschaft, auch
ich beteilige mich und spreche – als Grammatik-Fan, der ich nun einmal bin –
über das Passiv und über die Zeitformen im Deutschen. Das Publikum werden
Studenten sein und etwa 30 Lehrkräfte aus burjatischen Schulen und von anderen
Universitäten, für die diese Veranstaltung als Weiterbildungsmaßnahme gilt. In
dieser Woche habe ich Gebäck und Einweg-Geschirr eingekauft für die Kaffeepause
zwischen den Vorlesungen, habe Programmzettel ausgedruckt, schicke Tüten
gepackt mit Mappen, die jeder Seminarteilnehmer bekommt und viele Kleinigkeiten
mit den Kollegen abgesprochen. Organisation war bisher nicht unbedingt meine
Hauptbeschäftigung, ich lerne dabei täglich dazu und erhalte täglich neue,
interessante Einblicke. Manchmal staune ich auch ein wenig.
Gestern kam Anatoli zu mir ins
Büro, ein Mann um die sechzig, viel beschäftigt, mit wichtigen, großen Dingen
im Kopf, die graue Eminenz bei uns am
Lehrstuhl, zuständig für internationale Kontakte. Er hat jahrelang die
Deutsch-Abteilung geleitet und kennt die Leute, die man kennen muss, um
irgendetwas zu erreichen. Ich habe bei ihm immer den Eindruck, dass er in
Gedanken ganz weit weg ist, nicht richtig in der Gegenwart, und dass er die
täglichen Abläufe nur wie aus großer Ferne wahrnimmt, aber dabei die entscheidenden
Fäden im Hintergrund spannt. Jedenfalls kam er zu mir ins Büro, wie immer
leicht in Eile, und fragte nach den Teilnahmebescheinigungen für die Lehrer,
die diese nach Seminarende bekommen sollen. Ein wichtiges Dokument, denn
Lehrkräfte müssen ihrerseits nachweisen, dass sie sich regelmäßig fortbilden.
Habe ich schon ausgedruckt,
meinte ich und zeigte sie ihm, ein schickes farbiges Papier: Hiermit wird
bestätigt, dass Herr/Frau soundso am Seminar teilgenommen hat, usw. usw.
Die Seminardauer fehlt, meinte
Anatoli. Zweiundsiebzig akademische Stunden.
Kein Problem, schreibe ich dazu,
erwiderte ich und wurde dann kurz stutzig: Zweiundsiebzig? Montag und Dienstag
zwölf, Mittwoch und Donnerstag nochmal zwölf, sind gleich vierundzwanzig,
zählte ich vor und sah ihn fragend an.
Die häusliche Vor- und
Nachbereitung kommt doch dazu, sagte Anatoli. Das rechnen wir immer so.
Ich blickte ihn schweigend an und
dachte mir meinen Teil.
Na gut, dann schreibst du
sechsunddreißig, hörte ich ihn sagen und spürte seine Hand freundschaftlich auf
meine Schulter klopfen. Wir verstehen uns doch, ich weiß, du bist flexibel und
wir finden immer eine Lösung. Und schon war er wieder draußen.
So entstehen also Zahlen auf
russischen Dokumenten. Aber was können die armen Lehrkräfte dafür, dass ihnen
irgendein Ministerium eine utopisch große Weiterbildungs-Stundenmenge
vorschreibt? Wenn das ganze System sinnlos ist, kann nicht an einer Stelle auf
einmal ein Deutscher sitzen und alles korrekt machen wollen.-
Mein Chor ist zurzeit in einem
kläglichen Zustand. Nur wenige Studenten kommen regelmäßig zur Probe, jedesmal
tauchen neue auf und andere, auf die ich schon glaubte mich verlassen zu
können, verschwinden. Mein Versuch, „Die Gedanken sind frei“ mehrstimmig oder
wenigstens zweistimmig zu singen – ein deutsches Volkslied mit interessantem,
für Deutschlerner sehr nützlichem Text – scheiterte leider. Niemand konnte sich
eine zweite Stimme merken. Überhaupt ist es schwer, Stücke in Original-Tonhöhe
zu singen. Die Frauen kommen nicht so hoch, aber wenn ich die Melodie tiefer
nehme, kann ich zur Unterstützung nicht mit dem Klavier mitspielen.
Männerstimmen gibt es fast keine. „Heut ist ein Fest bei den Fröschen am See“,
das klappte einigermaßen. Aber mit diesem Kinderkanon kann man kaum einen
Auftritt veranstalten…
Gestern Abend war ich in einer
öffentlichen Banja, der russischen
Sauna. Am besten hat mir eine Einrichtung mit der Aufschrift „russkij dusch“ im Vorraum gefallen. Ein
Stück über Kopfhöhe ist ein Eimer angebracht mit einer Schnur daran. Wenn man
an ihr zieht, dreht sich der Eimer um und leert seinen Inhalt – eiskaltes Wasser
– schlagartig über dem Kopf aus.