Samstag, 22. Oktober 2016

12 + 12 = 72



















Am Montag Morgen schaute ich aus dem Fenster und erlebte eine Überraschung: dicke Schneeflocken tanzten vom Himmel herab, und die ganze Stadt war in eine flauschig und gemütlich aussehende, strahlend weiße Schneedecke gehüllt. Die Verkehrsgeräusche von der Straße drangen wie gedämpft ans Ohr, und Autos sowie Fußgänger bewegten sich gleichsam tastend und langsam vorwärts. Inzwischen liegt der Schnee nur noch in Resten, aber seine Zeit wird kommen, bald wird er auch die südlichen Gegenden Sibiriens unerbittlich im Griff haben, ein halbes Jahr lang.
In der nächsten Woche steht ein besonderes Ereignis an, ein Seminar mit Gästen aus der Ferne. Vier Dozenten werden anreisen, aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, sie werden Vorträge halten über linguistische Themen und über Literaturwissenschaft, auch ich beteilige mich und spreche – als Grammatik-Fan, der ich nun einmal bin – über das Passiv und über die Zeitformen im Deutschen. Das Publikum werden Studenten sein und etwa 30 Lehrkräfte aus burjatischen Schulen und von anderen Universitäten, für die diese Veranstaltung als Weiterbildungsmaßnahme gilt. In dieser Woche habe ich Gebäck und Einweg-Geschirr eingekauft für die Kaffeepause zwischen den Vorlesungen, habe Programmzettel ausgedruckt, schicke Tüten gepackt mit Mappen, die jeder Seminarteilnehmer bekommt und viele Kleinigkeiten mit den Kollegen abgesprochen. Organisation war bisher nicht unbedingt meine Hauptbeschäftigung, ich lerne dabei täglich dazu und erhalte täglich neue, interessante Einblicke. Manchmal staune ich auch ein wenig.

Gestern kam Anatoli zu mir ins Büro, ein Mann um die sechzig, viel beschäftigt, mit wichtigen, großen Dingen im Kopf, die graue Eminenz bei uns am Lehrstuhl, zuständig für internationale Kontakte. Er hat jahrelang die Deutsch-Abteilung geleitet und kennt die Leute, die man kennen muss, um irgendetwas zu erreichen. Ich habe bei ihm immer den Eindruck, dass er in Gedanken ganz weit weg ist, nicht richtig in der Gegenwart, und dass er die täglichen Abläufe nur wie aus großer Ferne wahrnimmt, aber dabei die entscheidenden Fäden im Hintergrund spannt. Jedenfalls kam er zu mir ins Büro, wie immer leicht in Eile, und fragte nach den Teilnahmebescheinigungen für die Lehrer, die diese nach Seminarende bekommen sollen. Ein wichtiges Dokument, denn Lehrkräfte müssen ihrerseits nachweisen, dass sie sich regelmäßig fortbilden.
Habe ich schon ausgedruckt, meinte ich und zeigte sie ihm, ein schickes farbiges Papier: Hiermit wird bestätigt, dass Herr/Frau soundso am Seminar teilgenommen hat, usw. usw.
Die Seminardauer fehlt, meinte Anatoli. Zweiundsiebzig akademische Stunden.
Kein Problem, schreibe ich dazu, erwiderte ich und wurde dann kurz stutzig: Zweiundsiebzig? Montag und Dienstag zwölf, Mittwoch und Donnerstag nochmal zwölf, sind gleich vierundzwanzig, zählte ich vor und sah ihn fragend an.
Die häusliche Vor- und Nachbereitung kommt doch dazu, sagte Anatoli. Das rechnen wir immer so.
Ich blickte ihn schweigend an und dachte mir meinen Teil.
Na gut, dann schreibst du sechsunddreißig, hörte ich ihn sagen und spürte seine Hand freundschaftlich auf meine Schulter klopfen. Wir verstehen uns doch, ich weiß, du bist flexibel und wir finden immer eine Lösung. Und schon war er wieder draußen.  

So entstehen also Zahlen auf russischen Dokumenten. Aber was können die armen Lehrkräfte dafür, dass ihnen irgendein Ministerium eine utopisch große Weiterbildungs-Stundenmenge vorschreibt? Wenn das ganze System sinnlos ist, kann nicht an einer Stelle auf einmal ein Deutscher sitzen und alles korrekt machen wollen.-

Mein Chor ist zurzeit in einem kläglichen Zustand. Nur wenige Studenten kommen regelmäßig zur Probe, jedesmal tauchen neue auf und andere, auf die ich schon glaubte mich verlassen zu können, verschwinden. Mein Versuch, „Die Gedanken sind frei“ mehrstimmig oder wenigstens zweistimmig zu singen – ein deutsches Volkslied mit interessantem, für Deutschlerner sehr nützlichem Text – scheiterte leider. Niemand konnte sich eine zweite Stimme merken. Überhaupt ist es schwer, Stücke in Original-Tonhöhe zu singen. Die Frauen kommen nicht so hoch, aber wenn ich die Melodie tiefer nehme, kann ich zur Unterstützung nicht mit dem Klavier mitspielen. Männerstimmen gibt es fast keine. „Heut ist ein Fest bei den Fröschen am See“, das klappte einigermaßen. Aber mit diesem Kinderkanon kann man kaum einen Auftritt veranstalten…

Gestern Abend war ich in einer öffentlichen Banja, der russischen Sauna. Am besten hat mir eine Einrichtung mit der Aufschrift „russkij dusch“ im Vorraum gefallen. Ein Stück über Kopfhöhe ist ein Eimer angebracht mit einer Schnur daran. Wenn man an ihr zieht, dreht sich der Eimer um und leert seinen Inhalt – eiskaltes Wasser – schlagartig über dem Kopf aus.