Sonntag, 16. Oktober 2016

Macht und Geld



Kürzlich bekam ich eine Email von meinem Kollegen aus der westsibirischen Stadt Tjumen. Der Schriftsteller Ilija Trojanow würde nächstes Jahr zu einer Lesereise nach Russland kommen, ob ich nicht auch Lust hätte, ihn in Ulan-Ude zu empfangen und eine Lesung zu organisieren? Ein berühmter Autor zu Gast, warum nicht, antwortete ich erfreut. Meine Begeisterung schwand etwas, als ich den Titel des Buches las, aus dem Trojanow vorlesen möchte: Macht und Widerstand lautet er. Als westlicher Ausländer im heutigen Russland eine Veranstaltung mit diesem Titel zu bewerben birgt ein gewisses Risiko; es geht zwar um die Zustände im kommunistischen Bulgarien, aber manche Leute könnten es trotzdem falsch auffassen – Westler, die zum Sturz von Putin aufrufen, den nächsten Maidan veranstalten wollen? Dann ergeht es mir womöglich wie jener amerikanischen Doktorandin, die zum Verlassen des Landes inclusive fünfjähriger Einreisesperre aufgefordert wurde, weil sie die Burjaten zu ihrem „nationalen Selbstverständnis“ befragen wollte. Vielleicht könnte man auf das Plakat schreiben „Trojanow liest aus seinem neuen Buch“, ohne den Titel zu erwähnen? Ich muss die Sache noch einmal überdenken.
Am letzten Donnerstag kam ein kleiner, runzliger Burjate mit leichter Alkoholfahne zu mir ins Büro mit dem Auftrag, eine Wandtafel vor der Tür im Gang anzubringen: ein Brett in schickem Design, das ich bei einer Reklameagentur in Auftrag gegeben hatte, mit dem Namen meiner Organisation in goldenen Lettern und modernen Plastikfächern zum Einstecken von Infoprospekten zum kostenlosen Mitnehmen. Der Mann, offensichtlich verantwortlich für Reparaturen und Handwerkstätigkeiten im Haus, hatte eine kleine Tasche mit ein paar Werkzeugen dabei. Nach ein paar Versuchen, eine Schraube direkt mit der Hand in die Ziegelwand zu drehen, gab er kopfschüttelnd auf. Wie wäre es mit einer Bohrmaschine, schlug ich vor. Die gäbe man ihm nicht, er arbeite schließlich nur mit halber Stelle hier, bekam ich zur Antwort und sah ihn wieder von dannen ziehen.
Dass Universitätsdozenten in Russland wenig verdienen, ist bekannt, wie wenig genau, war mir bis vor kurzem unklar. Zufällig fiel mein Blick auf eine im Lehrerzimmer ausliegende Liste, aus der das Gehalt meiner Kollegen hervorgeht. Ein mit ganzer Stelle arbeitender Dozent kommt auf 19000 Rubel monatlich, sofern er über einen Doktortitel verfügt. Die Position der Lehrstuhlleitung wird mit 27000 Rubeln vergütet. Eine Assistentin mit Dreiviertelstelle kommt auf knapp 7000. Man teile die Summe durch 70 und denke daran, dass Lebensmittel, Kleidung und Haushaltswaren oft ähnlich teuer sind wie in  Deutschland – unglaublich. Irgendwie kann ich auch verstehen, warum das Engagement der Kollegen manchmal zu wünschen übrig lässt, warum manche mitten im Unterricht zum Kaffeetrinken verschwinden, nachdem sie die Studenten mit einer Aufgabe versorgt haben, warum kaum jemand pünktlich ist, einige mit Uralt-Lehrbüchern arbeiten und kein Interesse haben, sich in neue Lehrwerke einzuarbeiten. Meine Freundin Niso arbeitet bei einem Autoersatzteile-Händler und kommt auf 30000 Rubel monatlich, was als nicht schlecht gilt – sie hat allerdings auch eine 60-Stunden-Woche.
Ich habe Niso einen großen Wanderrucksack und einen minusgradetauglichen Schlafsack besorgt – kein leichtes Unterfangen hier, wo Geschäfte vom Typ Globetrotter selten, schlecht sortiert und meistens auf Jagd und Fischerei spezialisiert sind. Unser Wochenenausflug führte uns wieder vom Schlafenden Löwen aus am Ufer der Selenga entlang, mit Zeltübernachtung auf einem malerischen Bergsattel. Abends trafen wir auf zwei Fischer am Lagerfeuer, die mit Netzen Omul fingen, den berühmten Baikal-Fisch, der zum Ablaichen den Fluss hinauf schwimmt - eigentlich verboten, aber irgendwovon muss man ja leben. Es wehte ein kräftiger, frischer Wind, die Nacht war bewölkt und deshalb nicht allzu kalt. Trotzdem verwandelte sich unser im Vorzelt gelagertes Wasser in Eis. Gegen Morgen fielen die ersten ganz zarten und nach der Landung sofort wieder verschwindenden Schneeflocken. Burjatien - was für ein weites, menschenleeres und schönes Land!

Hauswurz (Sempervivum) - ein häufig anzutreffender Steppenbewohner

 Ein Teil unseres Kollegiums im Lehrerzimmer; links Lukas, Praktikant aus der Schweiz