Donnerstag, 6. Oktober 2016

Erster Oktober, erster Schnee

 

Auf dem Bahnhof in Ulan-Ude, kurz bevor ich einen Fernzug nach Westen bestieg, drückte mir ein Mann zentralasiatischen Aussehens 500 Rubel in die Hand und bat mich, einen Karton mit zwei Autoscheinwerfern mitzunehmen. Sein Bruder würde diese in Novosibirsk am Bahnsteig abholen. Es sei dringend, die Post bräuchte zu lange, und die Zugbegleiter würden nichts mehr annehmen, wie es früher noch möglich war. Nach kurzem Zögern willigte ich ein. Wo er herkäme? Aus Kirgisien, wohnt aber schon lange in Russland und verkauft auf dem Narodnyj rynok in der Nähe des Busbahnhofes Kleidung. Meine Freundin ist in Tadschikistan geboren, meinte ich, wahrscheinlich, um seine Sympathie zu gewinnen, das ist ja gleich um die Ecke dort. – Auf diese Weise übernahm ich meinen ersten inoffiziellen Kurierdienst mit der Bahn.
Auf einer fast 40-stündigen Zugfahrt nach Westen zogen endlose, leuchtend gelb belaubte Birkenwälder und Lärchen an mir vorbei. Auf einer Anhöhe kurz vor Taischet, dort, wo die BAM von der Transsibirischen Magistrale abzweigt, gab es dann eine Überraschung: der erste Schnee! Und das am ersten Oktober, wo astronomisch gesehen doch gerade mal der Herbst begonnen hat.
In Novosibirsk, wo ein Treffen mit in anderen sibirischen Städten arbeitenden deutschen Kulturmittlern anstand, quartierte ich mich als Gast bei der Familie meiner Kollegin Anja ein. Sie wohnt in Akademgorodok, ein Stadtteiles mitten im Wald, als Akademikersiedlung in den 50er Jahren gegründet und mit einer Vielzahl berühmter Institute. Am Bahnhof befindet sich ein Eisenbahnmuseum mit historischen Loks und Waggons unter freiem Himmel: ein Wagen der 4. Klasse aus den 30er Jahren mit zwei Kohleöfen inmitten des Fahrgastraumes, sowjetische Wagen aus DDR-Produktion der 70er (Ammendorfer Waggonwerk) und Gefängniswagen mit Abteilen ganz ohne Fenster. Wahrscheinlich machen viele europäische Transsib-Reisende einen Abstecher hierher, was den viermal teureren Ausländer-Eintrittspreis erklärt, den ich aber umging, da es mir gelang, akzentfrei auf russisch „eine Erwachsenenkarte, bitte“ zu sagen.
Anlässlich eines Empfanges zum Tag der deutschen Einheit konnte ich wieder einmal den deutschen Konsul erleben, der die deutsch-russische Freundschaft trotz aller politischen Differenzen beschwor. Der Novosibirsker Bürgermeister antwortete in seiner Rede in einem gleichen versöhnlichen Tonfall. Noch am Abend des 3. Oktober bestieg ich wieder den Zug Richtung Osten. Westlich des Baikals hatte sich die Landschaft in nur zwei Tagen komplett gewandelt und war jetzt weiß mit geschlossener Schneedecke. Der Winter ist die Jahreszeit, die man wohl am ehesten mit Sibirien verbindet; hier scheint er schon Anfang Oktober Einzug zu halten.

Realität vor 80 Jahren: ein Wagen der 4. Klasse mit harten Holzbänken und zwei Kohleöfen in der Mitte, zu sehen nur noch im Museum (oben); Realität auch heute noch: Beladung von Passagierwagen mit Kohle zum Heizen (unten)