Samstag, 17. September 2016

Von Grenzen und Wahlen



Russland ist ein Land der unscharfen Grenzen und fließenden Übergänge, Deutschland dagegen ein Land der klaren, kleinteiligen Abgrenzungen.

Beim Reisen durch Russland fließen dem Betrachter unendliche Weiten entgegen, nie aufhörende Ebenen bis zum Horizont, Taigawälder, in denen man sich zu Tode verirren kann, wenn man nicht aufpasst, die menschenleere Steppe. In russischen Wohnungen gibt es oft keine Zimmertüren, es ist nicht üblich, dass sich jeder in einen eigenen Raum zurückziehen kann; in Studentenheimen wohnen die jungen Leute nicht selten zu dritt oder zu viert in einem Zimmer. Grenzenlosigkeit gibt es nicht nur im Raum, sondern auch in der Zeit: Veranstaltungen fangen fast nie pünktlich an, eine Zeitangabe ist eher als Beginn eines möglichen Zeitfensters zu verstehen:  Auf Busfahrplänen werden Zeitintervalle angegeben, in denen der Bus kommt, keine genauen Abfahrtszeiten. In einem orthodoxen Gottesdienst kommen und gehen die Gläubigen, wann sie wollen. Mahlzeiten beginnen oft zeitversetzt, auch wenn sie an sich gemeinsam eingenommen werden; es fängt einfach jeder an zu essen, wann er möchte. Ewig langes Sitzen und ohrenbetäubend laute Musik bei Festveranstaltungen, Präsentationen auf der Bühne in kitschigstem Prunk und Glitter, Wodkatrinken bis zum Kontrollverlust – aus der Perspektive des Deutschen geht die Grenzenlosigkeit hier in Maßlosigkeit über.
Deutschland hingegen: ein überschaubarer Natur- und Kulturraum mit scharfen Übergängen. Hier eine Stadt, dann ein Feld, ein Weg, ein Feld und gleich wieder ein Dorf. Jedem sein Zimmer in der Wohnung – Privatraum muss sein. Genau sind die Grenzen auch in der Zeit: Veranstaltungen beginnen auf den Punkt, sich um 5 Minuten verspätende Straßenbahnen sind Grund zum Ärger. Mahlzeiten in der Familie beginnen nach dem gemeinsamen Startsignal „Guten Appetit“, Kinder werden erzogen, nicht einfach aufzuspringen, wenn der Teller leer ist; man erhebt sich gemeinsam. Vieles ist gemaßregelt, auf eine von der Vernunft gefundene Mitte hin orientiert. Wer will, kann das Thema Grenzen sogar in der Sprache finden: typisch für das Deutsche ist der Glottis-Stopp genannte Kehlkopfverschluss vor Vokalen, was der Sprache den in den Ohren vieler Ausländer etwas harten Klang verleiht, während im Russischen die Vokale weich ineinander überfließen.

Morgen finden die Wahlen zum russischen Parlament statt, der Moskauer Staatsduma. Auf großen Plakaten sind an Ulan-Udes Hauptstraßen etwa fünf Parteien präsent. Putins Partei „Einiges Russland“ erwartet, dass sich dessen Popularität im Wahlergebnis widerspiegelt und wirbt mit dem Slogan, die „Partei des Präsidenten“ zu sein. An anderer Stelle schauen die vier wuchtigen Buchstaben „LDPR“  der  Liberaldemokratische Partei mit dem Fernseh-Clown und Schreihals Shirinovskij an der Spitze auf das Wahlvolk herab. Die Kommunistische Partei mit Präsidentenkandidat  Sjuganov, der 1996 fast die Wahlen gegen Jelzin gewonnen hätte und seitdem aber keine Chance mehr hat, präsentiert sich mit der altbewährten Sowjet-Symbolik Hammer und Sichel, und die Partei „Gerechtes Russland“ verkündet: „Zeit, Gerechtigkeit zu wählen“. Im Stadtzentrum laufen von den Parteien bezahlte junge Leute herum und teilen Wahlwerbung aus. Aus meinem Briefkasten fische ich fast täglich mehr oder weniger interessante Zeitungen wie die kommunistische „Prawda“ mit der Losung „Proletarier aller Länder, vereinigt euch“ oder einen Zettel der „Russischen Partei der Rentner für Gerechtigkeit“ mit der Parole „Lasst euch nicht von Moskauer Oligarchen betrügen!“
Vier Parteien sind im Moment in der Duma vertreten, und es ist nicht zu erwarten, dass sich das nach den Wahlen ändern wird. Einigkeit besteht bei allen im Kurs der russischen Außenpolitik und darin, dass die Angliederung der Krim nach dem Putsch in Kiew – die Annexion nach der Revolution, würden westliche Politiker sagen – rechtmäßig und richtig war. Nur die Jábloko-Partei bezweifelt das und setzt auf einen Versöhnungskurs mit dem Westen, hat aber wie viele andere der insgesamt 14 zugelassenen Parteien keine Chance, die 5-Prozent-Hürde für den Einzug ins Parlament zu übersteigen. Im Unterschied zu den letzten Wahlen vor 5 Jahren ist die Abstimmung diesmal eine Mischung aus Verhältnis- und Mehrheitswahlsystem, das heißt, die Wähler geben zwei Stimmen ab, für eine Partei und für eine Person. Allerdings werden die Direktstimmen nicht auf die Prozente für die Parteien angerechnet, wie es bei der deutschen Bundestagswahl der Fall ist, sondern die beiden Wahlsysteme stehen unverbunden nebeneinander: die Hälfte der 450 Abgeordneten kommen über die Parteienliste in die Duma je nach den Prozenten, die die Partei bekommen hat, und die andere Hälfte sind die Gewinner im jeweiligen Wahlkreis. Ein solches System stärkt die Chancen der führenden Partei „Einiges Russland“, die bei den letzten Wahlen knapp unter die 50-Prozent-Marke gerutscht war. Am morgigen Wahlsonntag möchte ich gern meinen Freund Maxim bei der Stimmabgabe ins Wahllokal begleiten. Er weiß selbst noch nicht, wo er sein Häkchen machen wird – in Russland wird nicht angekreuzt, sondern ein Häkchen gesetzt. Ich bin neugierig, einmal ein russisches Wahllokal von innen zu sehen. „Wenn Sie jemand zwingt, ihre Stimme für eine bestimmte Partei abzugeben und den Wahlzettel zum Beweis zu fotografieren, dann seien Sie mutig!“, ist in der kommunistischen Wahlzeitung zu lesen. „Nehmen Sie ein kleines Fädchen, legen Sie es in Häkchenform in das Kästchen und machen Sie das Foto. Dann nehmen Sie das Fädchen weg und wählen Sie, wie Sie eigentlich wollten.“

Es gibt sie noch - die kommunistische "Prawda"
Wahlwerbung vor meiner Haustür: "Einiges Russland - die Partei des Präsidenten"
Wahlplakate: die vier wuchtigen Buchstaben der Liberaldemokraten (oben), Sowjet-Symbolik der Kommunisten (unten)

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