Russland ist ein Land der
unscharfen Grenzen und fließenden Übergänge, Deutschland dagegen ein Land der
klaren, kleinteiligen Abgrenzungen.
Beim Reisen durch Russland fließen
dem Betrachter unendliche Weiten entgegen, nie aufhörende Ebenen bis zum
Horizont, Taigawälder, in denen man sich zu Tode verirren kann, wenn man nicht
aufpasst, die menschenleere Steppe. In russischen Wohnungen gibt es oft keine
Zimmertüren, es ist nicht üblich, dass sich jeder in einen eigenen Raum
zurückziehen kann; in Studentenheimen wohnen die jungen Leute nicht selten zu
dritt oder zu viert in einem Zimmer. Grenzenlosigkeit gibt es nicht nur im
Raum, sondern auch in der Zeit: Veranstaltungen fangen fast nie pünktlich an,
eine Zeitangabe ist eher als Beginn eines möglichen Zeitfensters zu verstehen: Auf Busfahrplänen werden Zeitintervalle
angegeben, in denen der Bus kommt, keine genauen Abfahrtszeiten. In einem orthodoxen
Gottesdienst kommen und gehen die Gläubigen, wann sie wollen. Mahlzeiten
beginnen oft zeitversetzt, auch wenn sie an sich gemeinsam eingenommen werden;
es fängt einfach jeder an zu essen, wann er möchte. Ewig langes Sitzen und ohrenbetäubend
laute Musik bei Festveranstaltungen, Präsentationen auf der Bühne in
kitschigstem Prunk und Glitter, Wodkatrinken bis zum Kontrollverlust – aus der
Perspektive des Deutschen geht die Grenzenlosigkeit hier in Maßlosigkeit über.
Deutschland hingegen: ein
überschaubarer Natur- und Kulturraum mit scharfen Übergängen. Hier eine Stadt,
dann ein Feld, ein Weg, ein Feld und gleich wieder ein Dorf. Jedem sein Zimmer
in der Wohnung – Privatraum muss sein. Genau sind die Grenzen auch in der Zeit:
Veranstaltungen beginnen auf den Punkt, sich um 5 Minuten verspätende
Straßenbahnen sind Grund zum Ärger. Mahlzeiten in der Familie beginnen nach dem
gemeinsamen Startsignal „Guten Appetit“, Kinder werden erzogen, nicht einfach
aufzuspringen, wenn der Teller leer ist; man erhebt sich gemeinsam. Vieles ist
gemaßregelt, auf eine von der Vernunft gefundene Mitte hin orientiert. Wer
will, kann das Thema Grenzen sogar in der Sprache finden: typisch für das
Deutsche ist der Glottis-Stopp
genannte Kehlkopfverschluss vor Vokalen, was der Sprache den in den Ohren
vieler Ausländer etwas harten Klang verleiht, während im Russischen die Vokale
weich ineinander überfließen.
Morgen finden die Wahlen zum
russischen Parlament statt, der Moskauer Staatsduma. Auf großen Plakaten sind an
Ulan-Udes Hauptstraßen etwa fünf Parteien präsent. Putins Partei „Einiges
Russland“ erwartet, dass sich dessen Popularität im Wahlergebnis widerspiegelt
und wirbt mit dem Slogan, die „Partei des Präsidenten“ zu sein. An anderer
Stelle schauen die vier wuchtigen Buchstaben „LDPR“ der Liberaldemokratische
Partei mit dem Fernseh-Clown und Schreihals Shirinovskij an der Spitze auf das
Wahlvolk herab. Die Kommunistische Partei mit Präsidentenkandidat Sjuganov, der 1996 fast die Wahlen gegen
Jelzin gewonnen hätte und seitdem aber keine Chance mehr hat, präsentiert sich
mit der altbewährten Sowjet-Symbolik Hammer und Sichel, und die Partei „Gerechtes
Russland“ verkündet: „Zeit, Gerechtigkeit zu wählen“. Im Stadtzentrum laufen von
den Parteien bezahlte junge Leute herum und teilen Wahlwerbung aus. Aus meinem
Briefkasten fische ich fast täglich mehr oder weniger interessante Zeitungen
wie die kommunistische „Prawda“ mit der Losung „Proletarier aller Länder,
vereinigt euch“ oder einen Zettel der „Russischen Partei der Rentner für
Gerechtigkeit“ mit der Parole „Lasst euch nicht von Moskauer Oligarchen
betrügen!“
Vier Parteien sind im Moment in
der Duma vertreten, und es ist nicht zu erwarten, dass sich das nach den Wahlen
ändern wird. Einigkeit besteht bei allen im Kurs der russischen Außenpolitik
und darin, dass die Angliederung der
Krim nach dem Putsch in Kiew – die Annexion nach der Revolution, würden westliche Politiker sagen – rechtmäßig und
richtig war. Nur die Jábloko-Partei
bezweifelt das und setzt auf einen Versöhnungskurs mit dem Westen, hat aber wie
viele andere der insgesamt 14 zugelassenen Parteien keine Chance, die
5-Prozent-Hürde für den Einzug ins Parlament zu übersteigen. Im Unterschied zu
den letzten Wahlen vor 5 Jahren ist die Abstimmung diesmal eine Mischung aus Verhältnis-
und Mehrheitswahlsystem, das heißt, die Wähler geben zwei Stimmen ab, für eine
Partei und für eine Person. Allerdings werden die Direktstimmen nicht auf die
Prozente für die Parteien angerechnet, wie es bei der deutschen Bundestagswahl
der Fall ist, sondern die beiden Wahlsysteme stehen unverbunden nebeneinander:
die Hälfte der 450 Abgeordneten kommen über die Parteienliste in die Duma je
nach den Prozenten, die die Partei bekommen hat, und die andere Hälfte sind die
Gewinner im jeweiligen Wahlkreis. Ein solches System stärkt die Chancen der
führenden Partei „Einiges Russland“, die bei den letzten Wahlen knapp unter die
50-Prozent-Marke gerutscht war. Am morgigen Wahlsonntag möchte ich gern meinen
Freund Maxim bei der Stimmabgabe ins Wahllokal begleiten. Er weiß selbst noch
nicht, wo er sein Häkchen machen wird – in Russland wird nicht angekreuzt,
sondern ein Häkchen gesetzt. Ich bin
neugierig, einmal ein russisches Wahllokal von innen zu sehen. „Wenn Sie jemand
zwingt, ihre Stimme für eine bestimmte Partei abzugeben und den Wahlzettel zum
Beweis zu fotografieren, dann seien Sie mutig!“, ist in der kommunistischen
Wahlzeitung zu lesen. „Nehmen Sie ein kleines Fädchen, legen Sie es in
Häkchenform in das Kästchen und machen Sie das Foto. Dann nehmen Sie das
Fädchen weg und wählen Sie, wie Sie eigentlich wollten.“
Es gibt sie noch - die kommunistische "Prawda" |
Wahlwerbung vor meiner Haustür: "Einiges Russland - die Partei des Präsidenten" |
Wahlplakate: die vier wuchtigen Buchstaben der Liberaldemokraten (oben), Sowjet-Symbolik der Kommunisten (unten) |
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