Auf dem Platz der Revolution vor
dem Univermag-Kaufhaus habe ich zu
meinem großen Erstaunen den ersten Fahrradständer in Ulan-Ude gesehen. Ein
Fahrrad stand allerdings nicht daran. Den Plan, mir selbst eines zu kaufen,
habe ich vorerst hinausgeschoben. Ich wüsste nicht, wo ich es auf der Straße
vor meinem Haus oder vor der Uni anschließen sollte. Als einziges Objekt seiner
Art würde es sehr auffallen und bestimmt nicht lange stehenbleiben.
Maxim, den ich am Sonntag ins
Wahllokal begleitet hatte, hat die radikale Oppositionspartei Parnas gewählt, die aber keine Chance
auf die Überwindung der 5-Prozent-Hürde zum Einzug in die Duma hatte. Was mein
kritisch-westeuropäischer Blick im Wahllokal wahrnahm, sollte den Anforderungen
an demokratische Wahlen wohl standhalten: mit Vorhängen verschlossene
Wahlkabinen, eine lange Reihe von Wahlbeobachtern an der Seite – jede Partei
durfte zwei entsenden – und ein elektronisches Stimmauswertungs-Gerät, das die
Stimmen sofort erfasste, nachdem sie in die Urne gesteckt wurden. Wie es sich
gehört, gab es in und vor dem Wahllokal keine Parteienwerbung mehr. Die meisten
Russen verbrachten den sonnigen Sonntag wahrscheinlich lieber auf ihrer
Datsche, weshalb die Wahlbeteiligung mit unter 50% auf einem auch für russische
Verhältnisse Rekord-Tiefststand lag. Das Ergebnis ist keine Überraschung: ein
überwältigender Sieg für „Einiges Russland“, für die Partei des Präsidenten, und somit keine
Gefährdung der Stabilität im Lande –
ein wichtiges Kriterium nach dem Chaos, das dem Zusammenbruch der Sowjetunion
gefolgt war. „Ich weiß noch gut, wie wir in den 90er Jahren gelebt haben,
deshalb wähle ich Jedinaja Rossija“,
solche oder ähnliche Aussagen kann man oft hören.
Auch in diesem Studienjahr
versuche ich mich wieder als Chorleiter und probe jede Woche mit dem von mir
vor einem knappen Jahr gegründeten Instituts-Chor. Viele Erstsemestler sind neu
dazugekommen, mit 30 Teilnehmern – vor allem Studenten, aber auch Lehrkräfte –
gab es in der ersten Probe vor zwei Wochen einen Rekord. Am Donnerstag hatten
wir anlässlich einer Festveranstaltung einen kurzen Auftritt. Die Generalprobe
war schrecklich, aber das Konzert gut, ganz ordentlich klappten „Evening rise“,
„Ich armes kleines Teufli“ („Ich armes welsches
Teufli“ heißt es im Mozart-Original, aber wer versteht schon welsch?) und „Go down, Moses“. Kurz
vorher bekam ich einen Anruf von einer Journalistin des stattlichen Moskauer
Fernsehkanals OTR. Im Rahmen der Sendereihe „Aus der Sicht der Ausländer“
möchten sie mich gerne filmen und zu meinem Leben in Russland befragen, ob ich
einverstanden wäre? So waren dann beim Konzert ganz überraschend plötzlich
Reporterin und Kameramann anwesend, filmten den Chorauftritt, kamen am nächsten
Tag zu mir in den Deutschunterricht, stellten mir Fragen in meinem Büro, nahmen
mich beim Betrachten des Springbrunnens in der Innenstadt und beim
Straßenbahnfahren auf und – aufregender Höhepunkt – setzten mich gestern Abend
vor einen Rechner mit Skype-Schaltung
ins Moskauer Studio des Senders. Zuerst wurden die drei Minuten gesendet, die
das Ergebnis des zusammengeschnittenen Materials waren. Dann wurde ich life hinzugeschaltet und beantwortete Fragen
der beiden jungen Moderatoren, sieben Minuten lang: Warum ich ausgerechnet nach
Ulan-Ude gezogen sei, wie sich die Studenten benehmen würden, wie ich die
russischen Frauen fände und so weiter, an sich nichts Besonderes und ganz
unpolitisch. Trotzdem war ich ordentlich aufgeregt. Zehn Minuten im russischen
Staatsfernsehen, allein mir und meiner Arbeit gewidmet! Ich mag russische
klassische Literatur, hatte ich der Journalistin gesagt. „Thomas liebt Puschkin
und möchte demnächst alle Romane Dostojewskijs im Original lesen“, hörte ich
dann zu meiner großen Überraschung über mich. Ist das Fernsehen nicht ein
dummes, sinnentleertes Medium? Es muss alles unglaublich schnell gehen,
irgendwie effektvoll sein und Unterhaltungswert haben; Aussagen werden umgebaut
und ergänzt, wie es gerade passt.
Zwei überraschende
Personalwechsel stehen in meinem Arbeitsumfeld an. Unsere Lehrstuhlleiterin
kündigte vor einer Weile offiziell an, drei Tage später in den Schwangerschaftsurlaub
zu gehen. Die Direktorin meines Institutes für Philologie und
Massenkommunikation Polina, die ich mit Mutter und Schwester Christiane im Sommer
besucht hatte, wird ihren Posten auf eigenen Wunsch Ende Oktober räumen. Allgemein
besteht die Befürchtung, dass eine von außerhalb kommende Person die Stelle
übernimmt und zu viele altbewährte, gewachsene Strukturen über den Haufen
wirft. Ich finde ihren Rücktritt schade, weil Polina meinen Chor sehr gemocht und
unterstützt hat – bei ihrem Nachfolger muss ich mir meinen guten Ruf erst
wieder erarbeiten.
Langfristiges Planen ist keine
russische Stärke. Meine Freundin Niso hat neulich bei ihrer Arbeitsstelle,
einem Autoersatzzeile-Händler, angefragt, ob sie nicht Ende Dezember – also in
drei Monaten – eine Woche Urlaub nehmen könne. Was für unmögliche Fragen sie
stellen würde, hatte ihr die Personalchefin geantwortet, das würde doch jetzt
noch kein Mensch wissen, das müsse man dann sehen, wenn es soweit wäre, und sie
solle sich mal lieber auf ihre aktuellen Aufgaben konzentrieren.
Im Moment herrscht angenehmes
Übergangswetter hier, klare Luft, erfrischende Kühle, die Bäume beginnen sich
herbstlich zu färben. Mit Niso ging ich in den Hügeln hinter dem Kahlen Berg spazieren, jene Anhöhe, auf
der ein buddhistischer Tempel steht, mit tollem Blick über die Stadt, eines
meiner Ausflugsziele mit Mutter und Schwester im Juli. Wir pflückten Thymian
und Hagebutten und verzehrten auf einem Felsen sitzend vegetarische belegte
Brote. Nach der Rückkehr überkam uns Appetit auf Fleisch, und ich veranstaltete
eine Vergleichsverkostung aus drei Büchsen auf der Herdplatte aufgewärmter Tushonka,
dem typischen Dosenfleisch: Rind, Pferd und Hirsch. Rindfleisch: der typische,
kräftige Geschmack, etwas zäh; Pferdefleisch: weicher und blumiger; eine echte
Überraschung dann das Hirschfleisch: eine reichhaltige, unglaubliche
Geschmacksexplosion im Mund, das reinste Fest für die Sinne.
Herbstwald. Die untere Hälfte der Stämme ist schwarz - der letzte Waldbrand lag nicht lange zurück |
Niso bei der Thymianernte |
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