Dienstag, 20. September 2016

Meine zehn Minuten im russischen Staatsfernsehen - Von Überraschungen und keinen Überraschungen



Auf dem Platz der Revolution vor dem Univermag-Kaufhaus habe ich zu meinem großen Erstaunen den ersten Fahrradständer in Ulan-Ude gesehen. Ein Fahrrad stand allerdings nicht daran. Den Plan, mir selbst eines zu kaufen, habe ich vorerst hinausgeschoben. Ich wüsste nicht, wo ich es auf der Straße vor meinem Haus oder vor der Uni anschließen sollte. Als einziges Objekt seiner Art würde es sehr auffallen und bestimmt nicht lange stehenbleiben. 

Maxim, den ich am Sonntag ins Wahllokal begleitet hatte, hat die radikale Oppositionspartei Parnas gewählt, die aber keine Chance auf die Überwindung der 5-Prozent-Hürde zum Einzug in die Duma hatte. Was mein kritisch-westeuropäischer Blick im Wahllokal wahrnahm, sollte den Anforderungen an demokratische Wahlen wohl standhalten: mit Vorhängen verschlossene Wahlkabinen, eine lange Reihe von Wahlbeobachtern an der Seite – jede Partei durfte zwei entsenden – und ein elektronisches Stimmauswertungs-Gerät, das die Stimmen sofort erfasste, nachdem sie in die Urne gesteckt wurden. Wie es sich gehört, gab es in und vor dem Wahllokal keine Parteienwerbung mehr. Die meisten Russen verbrachten den sonnigen Sonntag wahrscheinlich lieber auf ihrer Datsche, weshalb die Wahlbeteiligung mit unter 50% auf einem auch für russische Verhältnisse Rekord-Tiefststand lag. Das Ergebnis ist keine Überraschung: ein überwältigender Sieg für  Einiges Russland“, für die Partei des Präsidenten, und somit keine Gefährdung der Stabilität im Lande – ein wichtiges Kriterium nach dem Chaos, das dem Zusammenbruch der Sowjetunion gefolgt war. „Ich weiß noch gut, wie wir in den 90er Jahren gelebt haben, deshalb wähle ich Jedinaja Rossija“, solche oder ähnliche Aussagen kann man oft hören.

Auch in diesem Studienjahr versuche ich mich wieder als Chorleiter und probe jede Woche mit dem von mir vor einem knappen Jahr gegründeten Instituts-Chor. Viele Erstsemestler sind neu dazugekommen, mit 30 Teilnehmern – vor allem Studenten, aber auch Lehrkräfte – gab es in der ersten Probe vor zwei Wochen einen Rekord. Am Donnerstag hatten wir anlässlich einer Festveranstaltung einen kurzen Auftritt. Die Generalprobe war schrecklich, aber das Konzert gut, ganz ordentlich klappten „Evening rise“, „Ich armes kleines Teufli“ („Ich armes welsches Teufli“ heißt es im Mozart-Original, aber wer versteht schon welsch?) und „Go down, Moses“. Kurz vorher bekam ich einen Anruf von einer Journalistin des stattlichen Moskauer Fernsehkanals OTR. Im Rahmen der Sendereihe „Aus der Sicht der Ausländer“ möchten sie mich gerne filmen und zu meinem Leben in Russland befragen, ob ich einverstanden wäre? So waren dann beim Konzert ganz überraschend plötzlich Reporterin und Kameramann anwesend, filmten den Chorauftritt, kamen am nächsten Tag zu mir in den Deutschunterricht, stellten mir Fragen in meinem Büro, nahmen mich beim Betrachten des Springbrunnens in der Innenstadt und beim Straßenbahnfahren auf und – aufregender Höhepunkt – setzten mich gestern Abend vor einen Rechner mit Skype-Schaltung ins Moskauer Studio des Senders. Zuerst wurden die drei Minuten gesendet, die das Ergebnis des zusammengeschnittenen Materials waren. Dann wurde ich life hinzugeschaltet und beantwortete Fragen der beiden jungen Moderatoren, sieben Minuten lang: Warum ich ausgerechnet nach Ulan-Ude gezogen sei, wie sich die Studenten benehmen würden, wie ich die russischen Frauen fände und so weiter, an sich nichts Besonderes und ganz unpolitisch. Trotzdem war ich ordentlich aufgeregt. Zehn Minuten im russischen Staatsfernsehen, allein mir und meiner Arbeit gewidmet! Ich mag russische klassische Literatur, hatte ich der Journalistin gesagt. „Thomas liebt Puschkin und möchte demnächst alle Romane Dostojewskijs im Original lesen“, hörte ich dann zu meiner großen Überraschung über mich. Ist das Fernsehen nicht ein dummes, sinnentleertes Medium? Es muss alles unglaublich schnell gehen, irgendwie effektvoll sein und Unterhaltungswert haben; Aussagen werden umgebaut und ergänzt, wie es gerade passt.

Zwei überraschende Personalwechsel stehen in meinem Arbeitsumfeld an. Unsere Lehrstuhlleiterin kündigte vor einer Weile offiziell an, drei Tage später in den Schwangerschaftsurlaub zu gehen. Die Direktorin meines Institutes für Philologie und Massenkommunikation Polina, die ich mit Mutter und Schwester Christiane im Sommer besucht hatte, wird ihren Posten auf eigenen Wunsch Ende Oktober räumen. Allgemein besteht die Befürchtung, dass eine von außerhalb kommende Person die Stelle übernimmt und zu viele altbewährte, gewachsene Strukturen über den Haufen wirft. Ich finde ihren Rücktritt schade, weil Polina meinen Chor sehr gemocht und unterstützt hat – bei ihrem Nachfolger muss ich mir meinen guten Ruf erst wieder erarbeiten.
Langfristiges Planen ist keine russische Stärke. Meine Freundin Niso hat neulich bei ihrer Arbeitsstelle, einem Autoersatzzeile-Händler, angefragt, ob sie nicht Ende Dezember – also in drei Monaten – eine Woche Urlaub nehmen könne. Was für unmögliche Fragen sie stellen würde, hatte ihr die Personalchefin geantwortet, das würde doch jetzt noch kein Mensch wissen, das müsse man dann sehen, wenn es soweit wäre, und sie solle sich mal lieber auf ihre aktuellen Aufgaben konzentrieren.

Im Moment herrscht angenehmes Übergangswetter hier, klare Luft, erfrischende Kühle, die Bäume beginnen sich herbstlich zu färben. Mit Niso ging ich in den Hügeln hinter dem Kahlen Berg spazieren, jene Anhöhe, auf der ein buddhistischer Tempel steht, mit tollem Blick über die Stadt, eines meiner Ausflugsziele mit Mutter und Schwester im Juli. Wir pflückten Thymian und Hagebutten und verzehrten auf einem Felsen sitzend vegetarische belegte Brote. Nach der Rückkehr überkam uns Appetit auf Fleisch, und ich veranstaltete eine Vergleichsverkostung aus drei Büchsen auf der Herdplatte aufgewärmter Tushonka, dem typischen Dosenfleisch: Rind, Pferd und Hirsch. Rindfleisch: der typische, kräftige Geschmack, etwas zäh; Pferdefleisch: weicher und blumiger; eine echte Überraschung dann das Hirschfleisch: eine reichhaltige, unglaubliche Geschmacksexplosion im Mund, das reinste Fest für die Sinne.

Herbstwald. Die untere Hälfte der Stämme ist schwarz - der letzte Waldbrand lag nicht lange zurück
Niso bei der Thymianernte
Der buddhistische Tempel auf dem Kahlen Berg - Blick von der stadtabgewandten "Rückseite"
Rind, Hirsch oder Pferd - eine Vergleichsverkostung bringt die Unterschiede an den Tag
Schlechte Probe, ordentlicher Auftritt: unser Instituts-Chor am letzten Donnerstag

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