Donnerstag, 21. Januar 2016

Zwischen den Reisen

Kurz nach Mitternacht im Flugzeug von Moskau nach Sibirien. Ich bin gerade an meinem Fensterplatz ein wenig eingenickt, da geht in der Kabine das Licht an und es weckt mich die Stimme der Flugbegleiterin aus dem Lautsprecher. In einer halben Stunde erreichen wir den Zielflughafen Ulan-Ude, bitte anschnallen und die Sitzlehnen senkrecht stellen. Temperatur am Zielort: minus zweiunddreißig Grad. Voraussichtliche Ankunftszeit: acht Uhr dreißig. Acht Uhr dreißig? Ich reibe mir den Schlaf aus den Augen und schaue über den Flügel hinweg in den leeren, weiten Raum… tatsächlich, am Horizont kündet die Morgenröte von der aufgehenden Sonne – eine Nacht wird heute für mich nicht mehr stattfinden. Minus zweiunddreißig? Gott sei dank, in Sibirien ist die Welt noch in Ordnung! Während sich in Deutschland das Wetter nicht entscheiden kann, ob nun Winter sein soll oder nicht, das Thermometer um die null Grad pendelt und kaum Schnee liegt, ist hier am Baikalsee ordentlicher Frost, wie es sich gehört für den Januar.
Auf dem Hinflug mit der Fluggesellschaft AirBerlin von Moskau nach Berlin kam ich ein wenig mit dem Flugbegleiter ins Gespräch. Ich habe gehört, dass AirBerlin die Strecke zwischen Berlin und Moskau bald nicht mehr fliegt, meinte ich, lohnt es sich nicht mehr? Die Leute kaufen nur die allerbilligsten Plätze, meinte der junge Mann, und, ehrlich gesagt, er trauere den Russland-Flügen auch nicht nach. Warum das? Weil die Verständigung schwer ist, kaum Passagiere sprechen vernünftig Englisch? Nein, es seien unmögliche Uhrzeiten, früh am Morgen, und die Russen würden immer mal ausrasten an Bord und dann müsse man die Flughafenpolizei holen, fünf Mal in den letzten zwei Jahren, das sei auf allen Strecken Rekord. Soll das lieber die russische Partnergesellschaft S7 machen, die die Flüge ab Mitte Januar übernimmt.
In Moskau hatte ich einen Tag Aufenthalt, und zum ersten Mal erlebte ich es, dass mir in einem Imbiss statt Wechselgeld Taschentücher gegeben wurden. Ich kaufte im Bahnhof einen Kaffee und etwas Gebäck für 180 Rubel, gab 200 Rubel und bekam eine Packung nosovye platotschki hingeworfen. „Oder Sie geben noch 30 Rubel“, meinte die Verkäuferin barsch und gab damit zu verstehen, dass ihre kleinste Wechselgeldeinheit im Moment 50 Rubel wären.
Zwei Wochen Deutschlandurlaub liegen hinter mir, Besuche von Verwandten und Freunden in sieben ostdeutschen Städten, ich habe mich davon überzeugt, dass ich Fahrrad und Auto fahren noch nicht verlernt habe und einige neue Lehrwerke und Spiele für den Deutschunterricht eingekauft. An meine Uni in Ulan-Ude kam ich gerade zur rechten Zeit zurück, um an den etwas hektischen Planungen für das Besuchen einer Reihe von Schulen teilnehmen zu können. Es geht darum, Erstsemestler für das im September beginnende neue Studienjahr zu werben, proforientazionnaja rabota heißt das, „berufsorientierende Arbeit“. Die Nachwuchssituation ist schwierig, zwei Gruppen zu je acht Deutsch-Studierenden sollen mindestens zusammenkommen. Die Elftklässler – das letzte Schuljahr in Russland – müssen sich in den nächsten Tagen entscheiden, in welchen Fächern sie das Einheitliche Staatliche Examen (so heißt das russische Zentralabitur) ablegen. Davon hängt ab, an welchen Unis sie sich bewerben können. Und jetzt gilt es, die Wahl der Abiturienten so zu lenken, dass sie sich für die Fächer entscheiden, die als Bewerbungsvoraussetzungen für ein Deutschstudium gelten, nämlich: Literatur, Geschichte, eine Fremdsprache. Für die berufsorientierende Arbeit an den Schulen nehmen mich die Kolleginnen sehr gerne mit – ein echter Deutscher am Lehrstuhl, das ist schon ein Motivations-Faktor. Vor den versammelten Elftklässlern erzähle ich dann etwas Spannendes über Deutschland und die deutsche Sprache. Ich verschweige, dass nur etwa die Hälfte der Studis das Studium bis zum Ende durchzieht und auch davon höchstens die Hälfte dann wirklich beruflich etwas mit der deutschen Sprache macht. Gestern fuhr ich mit Lehrstuhlleiterin Elena 50 Kilometer nach außerhalb in die Schule der Siedlung Zaigrajevo, heute besuchte ich mit Irina die Schule Nummer 42 in der Stadt (in Russland tragen Schulen normalerweise Nummern statt Namen).


Kaum komme ich von einer Reise, geht es schon wieder auf die nächste. Neben mir steht ein (eher kleiner) gepackter Koffer für den Ausflug in eine Stadt, die als „kälteste Hauptstadt der Welt“ gilt: Ulan-Bator, 500 Kilometer südlich von Ulan-Ude, ganz bequem mit dem Bus in nur einem Tag zu erreichen. Meinen deutschen Kollegen, den ich dort besuchen möchte, bat ich, mir seine Adresse mitzuteilen. „Regency Residenz“, schreibt er, „Nähe Shangri-Hotel, Nähe Östlicher Kinderpark, Nähe Pizzaservice ‚Pizza Hut‘.“ So sieht also eine Anschrift aus, wenn es keine Straßennamen gibt – aber zum Glück werde ich vom Busbahnhof abgeholt.

Die russische und burjatische Flagge (oben) vor dem Schulgebäude (unten) in der Siedlung Zaigrajevo (ganz unten)