Für die Busfahrt von Ulan-Ude nach Ulan-Bator hatte ich mir
extra einen Fensterplatz geben lassen und war enttäuscht, dass ich trotzdem
nichts sehen konnte – die Scheibe war von innen mit einer dünnen, festen,
undurchsichtigen Eisschicht bedeckt. Mit dem Fingernagel kratzte ich mir
gelegentlich ein kleines Sichtfenster frei, um einen Blick in die weiße, weite,
menschenleere Landschaft zu erhaschen, die wir durchfuhren. Nach wenigen
Minuten war mein Fensterchen schon wieder von Kondenswasser bedeckt, das sich
schnell in Eis verwandelte, und ich musste nachkratzen oder auf die Aussicht
verzichten.
Die Abfertigung an der russisch-mongolischen Grenze dauerte
fast zwei Stunden. Alle Passagiere mussten aussteigen, ihr komplettes Gepäck
nehmen und durch die russische Zollabfertigung gehen, wo es durchleuchtet
wurde. Dann ging es zur Passkontrolle. Danach Gepäck einladen, in den Bus
steigen, dieser fuhr hundert Meter, und dann das gleiche Spiel auf der
mongolischen Seite: Gepäck ausladen, Zollabfertigung, Passkontrolle – seit einiger
Zeit können Russen und EU-Bürger visafrei in die Mongolei einreisen, man bekommt
einen Einreisestempel und darf bis zu 30 Tagen bleiben.
„Ulaan“ heißt auf mongolisch „rot“. Was „Ude“ bedeutet, ist
nicht so ganz klar. „Baatar“ heißt „Held“. Die mongolische Hauptstadt ist also
der „Rote Held“, und sie hat diesen Namen erst nach der Ausrufung des
Kommunismus in der Mongolei in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts bekommen.
In Ulan-Bator war ich zu Gast bei meinem deutschen Kollegen Christian, der
ebenso wie ich Deutsch unterrichtet, allerdings nicht nur an einer, sondern
gleich an zwei Universitäten. In seiner luxuriösen Wohnung in einem Neubau im
Zentrum standen zwei merkwürdige weiße große Kästen herum. Was ist denn das
hier, fragte ich ihn und deutete auf die fast hüfthohen Apparate, die mir wie
eine Mischung aus Mini-Waschmaschine und futuristischem Staubsauger vorkamen. „Das
sind Raumluft-Reiniger“, meinte Christian, „hast Du denn nichts gemerkt?“ Er
führte mich auf den Balkon, und da roch ich es deutlich: die Luft war gesättigt
von einem leichten, aber durchdringenden Verbrennungsduft, so ähnlich wie der
Waldbrandgeruch in Ulan-Ude im letzten Sommer, aber irgendwie abgasartiger,
chemischer. Am Stadtrand von Ulan-Bator stehen zehntausende von Jurten, die mit
allem Möglichen beheizt werden, erklärte mir mein Gastgeber, mit Kohle, Holz,
Plastik und sonstigem Müll, und die Abgase bleiben als Dunstglocke über der im
Tal gelegenen Stadt stehen. Einige der Jurten sind sogar direkt im Zentrum, zum
Beispiel hier vor unserer Nase – und tatsächlich, zwischen den Hochhäusern eingequetscht
stand eine der weißen, runden Behausungen, aus deren Schornstein dicker grauer
Rauch quoll.
Bei minus fünfundzwanzig Grad machte ich mich am nächsten
Vormittag auf zum Stadtbummel. Mit gläsernen Hotelburgen und breiten,
sechsspurigen Hauptstraßen wirkt Ulan-Bator im Zentrum sehr großstädtisch und
modern. Vor dem Parlamentsgebäude sitzt in gigantischer Breite, buddhagleich
thronend, Dschingis-Khan, ihm gegenüber auf einem Pferd Suchbaatar, der
kommunistische Staatsgründer der Mongolei, dem das Land 1921 seine Unabhängigkeit
von China verdankt. Im größten Tempel der Gandan-Kloster-Anlage steht eine über
20 Meter hohe vergoldete Figur einer indischen vierarmigen Gottheit. In dem
Gebäude herrschten Minusgrade und geheimnisvolles Halbdunkel, erhellt durch
viele Kerzen; aus Räucherschalen drang von einem grünen Pulver hervorgerufener
leckerer Weihrauch-Duft.
Bei solchen Temperaturen ist das regelmäßige Aufwärmen in
einem Imbiss ein Muss, und wenn es nur für das Schlürfen von einer Tasse Tee
ist. Üblich in der Mongolei ist grüner Tee mit Milch, Fett und Salz. Überhaupt
ist die mongolische Küche fettig, fleischig und quarkig, ich habe es durchaus
genossen: leckere Schafsfleisch-Nudel-Suppe, Salatblättchen, eingerollt in dünne
Pferdefleisch-Scheibchen oder flüssiger, süßlicher Quark… wieder ganz anders
als russische Speisen. Im Supermarkt sind mir deutsche „Gut und Günstig“-Produkte
(von Edeka), russische Butter, türkische Schokolade und polnische Nussmischungen
aufgefallen, die Mongolei produziert außer Milch und Fleisch fast keine
Lebensmittel. Der Verkauf von Zigaretten ist offiziell verboten (!!), diese
werden nur auf Nachfrage unter der Theke hervorgeholt.
Beeindruckt hat mich die Fortbewegung in Ulan-Bator: man
stellt sich an die Straße und hält die Hand heraus – keine dreißig Sekunden
später hält ein Auto an, dessen Fahrer sich gerade etwas dazuverdienen möchte,
und bringt einen für wenige Geld zum gewünschten Ort. Christian und ich machten
einen Ausflug zum Sowjetischen Ehrenmal am Stadtrand, wo ein Panzer steht und
der Kampfesfreundschaft des russischen und mongolischen Volkes gedacht wird.
Die Mongolei war fast so etwas wie eine Sowjetrepublik, ein Satellitenstaat der
UdSSR; Opernhaus und Theater sowie viele der Plattenbauten haben russisches
Flair und könnten genausogut auch hier in Ulan-Ude stehen.
Wenn ich auch außer „Guten Tag“ (Säänbäänuu) und „Danke“ (Bajertla)
kein Wort Mongolisch verstehe, so hat mir doch die vertraute Schrift das
Zurechtfinden erleichtert: die Mongolen benutzen das kyrillische Alphabet,
erweitert um zwei Vokalbuchstaben. Die Mongolei ist angeblich das Land mit dem in
ganz Asien prozentual höchsten Anteil an Menschen, die Deutsch gelernt haben –
Ergebnis der engen Verbindungen zur DDR. Die jungen Damen auf der Post konnten
gut Englisch. Da die meisten Leute keinen Briefkasten haben, gibt es einige
Wände mit kleinen, nummerierten Fächern, von denen man seine Briefe abholt. - Ein
ausgezeichnetes, fast muttersprachlich perfektes Deutsch sprach Christians
mongolische Kollegin Sarnai, eine ganz wache, drahtige Frau, 40 Jahre alt, aber
10 Jahre jünger aussehend. „Du solltest auch etwas vom Land sehen“, meinte sie,
„Ulan-Bator ist noch längst nicht die Mongolei!“ Sie bot sich an, mir einen
Fahrer zu organisieren, der mich für 100000 Tugrik – umgerechnet knapp 50 Euro –
einen Tag lang umherfahren und zu einigen besonderen Orten im Umland der Hauptstadt bringen würde.
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Mühsam freigekratzt: Aussicht aus dem vereisten Busfenster |
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Zwei Deutschlehrer in Ulan-Bator: Mongolin Sarnai (links) und Christian, mein Gastgeber (rechts) |
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Eine qualmende Jurte im Stadtzentrum |
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Leben im Abgasdunst: Zwei Raumluft-Reiniger |
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Fettig, fleischig, milchig: die mongolische Küche mit Pferdefleisch-Häppchen (oben links), Lammfleisch-Nudel-Suppe und Grüntee mit Milch, Fett und Salz |
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Liebeserklärung auf Mongolisch: Stein-Herz auf dem vereisten Fluss |
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Leben ohne Briefkasten: wer will, bekommt ein Fach auf der Hauptpost |
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Erinnerung an die kommunistische Vergangenheit: das Sowjetische Ehrenmal mit Aussicht |
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Blick auf die Berge am nördllichen Stadtrand |
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Nasenspitzen-Abfriergefahr: Stadtbummel bei minus 25 Grad |
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Buddha-ähnlich thront Dschingis Khan (unten) vor dem Parlamentsgebäude (oben) |
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Das Gandan-Kloster ist Hauptsitz des mongolischen Buddhismus |
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Blick durch den städtischen Dunst zum Kloster |
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