Dienstag, 26. Januar 2016

Ulan-Bator

Für die Busfahrt von Ulan-Ude nach Ulan-Bator hatte ich mir extra einen Fensterplatz geben lassen und war enttäuscht, dass ich trotzdem nichts sehen konnte – die Scheibe war von innen mit einer dünnen, festen, undurchsichtigen Eisschicht bedeckt. Mit dem Fingernagel kratzte ich mir gelegentlich ein kleines Sichtfenster frei, um einen Blick in die weiße, weite, menschenleere Landschaft zu erhaschen, die wir durchfuhren. Nach wenigen Minuten war mein Fensterchen schon wieder von Kondenswasser bedeckt, das sich schnell in Eis verwandelte, und ich musste nachkratzen oder auf die Aussicht verzichten.
Die Abfertigung an der russisch-mongolischen Grenze dauerte fast zwei Stunden. Alle Passagiere mussten aussteigen, ihr komplettes Gepäck nehmen und durch die russische Zollabfertigung gehen, wo es durchleuchtet wurde. Dann ging es zur Passkontrolle. Danach Gepäck einladen, in den Bus steigen, dieser fuhr hundert Meter, und dann das gleiche Spiel auf der mongolischen Seite: Gepäck ausladen, Zollabfertigung, Passkontrolle – seit einiger Zeit können Russen und EU-Bürger visafrei in die Mongolei einreisen, man bekommt einen Einreisestempel und darf bis zu 30 Tagen bleiben.
„Ulaan“ heißt auf mongolisch „rot“. Was „Ude“ bedeutet, ist nicht so ganz klar. „Baatar“ heißt „Held“. Die mongolische Hauptstadt ist also der „Rote Held“, und sie hat diesen Namen erst nach der Ausrufung des Kommunismus in der Mongolei in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts bekommen. In Ulan-Bator war ich zu Gast bei meinem deutschen Kollegen Christian, der ebenso wie ich Deutsch unterrichtet, allerdings nicht nur an einer, sondern gleich an zwei Universitäten. In seiner luxuriösen Wohnung in einem Neubau im Zentrum standen zwei merkwürdige weiße große Kästen herum. Was ist denn das hier, fragte ich ihn und deutete auf die fast hüfthohen Apparate, die mir wie eine Mischung aus Mini-Waschmaschine und futuristischem Staubsauger vorkamen. „Das sind Raumluft-Reiniger“, meinte Christian, „hast Du denn nichts gemerkt?“ Er führte mich auf den Balkon, und da roch ich es deutlich: die Luft war gesättigt von einem leichten, aber durchdringenden Verbrennungsduft, so ähnlich wie der Waldbrandgeruch in Ulan-Ude im letzten Sommer, aber irgendwie abgasartiger, chemischer. Am Stadtrand von Ulan-Bator stehen zehntausende von Jurten, die mit allem Möglichen beheizt werden, erklärte mir mein Gastgeber, mit Kohle, Holz, Plastik und sonstigem Müll, und die Abgase bleiben als Dunstglocke über der im Tal gelegenen Stadt stehen. Einige der Jurten sind sogar direkt im Zentrum, zum Beispiel hier vor unserer Nase – und tatsächlich, zwischen den Hochhäusern eingequetscht stand eine der weißen, runden Behausungen, aus deren Schornstein dicker grauer Rauch quoll.
Bei minus fünfundzwanzig Grad machte ich mich am nächsten Vormittag auf zum Stadtbummel. Mit gläsernen Hotelburgen und breiten, sechsspurigen Hauptstraßen wirkt Ulan-Bator im Zentrum sehr großstädtisch und modern. Vor dem Parlamentsgebäude sitzt in gigantischer Breite, buddhagleich thronend, Dschingis-Khan, ihm gegenüber auf einem Pferd Suchbaatar, der kommunistische Staatsgründer der Mongolei, dem das Land 1921 seine Unabhängigkeit von China verdankt. Im größten Tempel der Gandan-Kloster-Anlage steht eine über 20 Meter hohe vergoldete Figur einer indischen vierarmigen Gottheit. In dem Gebäude herrschten Minusgrade und geheimnisvolles Halbdunkel, erhellt durch viele Kerzen; aus Räucherschalen drang von einem grünen Pulver hervorgerufener leckerer Weihrauch-Duft.
Bei solchen Temperaturen ist das regelmäßige Aufwärmen in einem Imbiss ein Muss, und wenn es nur für das Schlürfen von einer Tasse Tee ist. Üblich in der Mongolei ist grüner Tee mit Milch, Fett und Salz. Überhaupt ist die mongolische Küche fettig, fleischig und quarkig, ich habe es durchaus genossen: leckere Schafsfleisch-Nudel-Suppe, Salatblättchen, eingerollt in dünne Pferdefleisch-Scheibchen oder flüssiger, süßlicher Quark… wieder ganz anders als russische Speisen. Im Supermarkt sind mir deutsche „Gut und Günstig“-Produkte (von Edeka), russische Butter, türkische Schokolade und polnische Nussmischungen aufgefallen, die Mongolei produziert außer Milch und Fleisch fast keine Lebensmittel. Der Verkauf von Zigaretten ist offiziell verboten (!!), diese werden nur auf Nachfrage unter der Theke hervorgeholt.
Beeindruckt hat mich die Fortbewegung in Ulan-Bator: man stellt sich an die Straße und hält die Hand heraus – keine dreißig Sekunden später hält ein Auto an, dessen Fahrer sich gerade etwas dazuverdienen möchte, und bringt einen für wenige Geld zum gewünschten Ort. Christian und ich machten einen Ausflug zum Sowjetischen Ehrenmal am Stadtrand, wo ein Panzer steht und der Kampfesfreundschaft des russischen und mongolischen Volkes gedacht wird. Die Mongolei war fast so etwas wie eine Sowjetrepublik, ein Satellitenstaat der UdSSR; Opernhaus und Theater sowie viele der Plattenbauten haben russisches Flair und könnten genausogut auch hier in Ulan-Ude stehen.
Wenn ich auch außer „Guten Tag“ (Säänbäänuu) und „Danke“ (Bajertla) kein Wort Mongolisch verstehe, so hat mir doch die vertraute Schrift das Zurechtfinden erleichtert: die Mongolen benutzen das kyrillische Alphabet, erweitert um zwei Vokalbuchstaben. Die Mongolei ist angeblich das Land mit dem in ganz Asien prozentual höchsten Anteil an Menschen, die Deutsch gelernt haben – Ergebnis der engen Verbindungen zur DDR. Die jungen Damen auf der Post konnten gut Englisch. Da die meisten Leute keinen Briefkasten haben, gibt es einige Wände mit kleinen, nummerierten Fächern, von denen man seine Briefe abholt. - Ein ausgezeichnetes, fast muttersprachlich perfektes Deutsch sprach Christians mongolische Kollegin Sarnai, eine ganz wache, drahtige Frau, 40 Jahre alt, aber 10 Jahre jünger aussehend. „Du solltest auch etwas vom Land sehen“, meinte sie, „Ulan-Bator ist noch längst nicht die Mongolei!“ Sie bot sich an, mir einen Fahrer zu organisieren, der mich für 100000 Tugrik – umgerechnet knapp 50 Euro – einen Tag lang umherfahren und zu einigen besonderen Orten im Umland der Hauptstadt bringen würde.

Mühsam freigekratzt: Aussicht aus dem vereisten Busfenster
Zwei Deutschlehrer in Ulan-Bator: Mongolin Sarnai (links) und Christian, mein Gastgeber (rechts)
Eine qualmende Jurte im Stadtzentrum
Leben im Abgasdunst: Zwei Raumluft-Reiniger
Fettig, fleischig, milchig: die mongolische Küche mit Pferdefleisch-Häppchen (oben links), Lammfleisch-Nudel-Suppe und Grüntee mit Milch, Fett und Salz
Liebeserklärung auf Mongolisch: Stein-Herz auf dem vereisten Fluss
Leben ohne Briefkasten: wer will, bekommt ein Fach auf der Hauptpost
Erinnerung an die kommunistische Vergangenheit: das Sowjetische Ehrenmal mit Aussicht
Blick auf die Berge am nördllichen Stadtrand
Nasenspitzen-Abfriergefahr: Stadtbummel bei minus 25 Grad
Buddha-ähnlich thront Dschingis Khan (unten) vor dem Parlamentsgebäude (oben)
Das Gandan-Kloster ist Hauptsitz des mongolischen Buddhismus
Blick durch den städtischen Dunst zum Kloster

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