Während mein Nachbar besoffen grölend durchs
Treppenhaus läuft, packe ich den Koffer für den morgigen Abflug nach
Deutschland. Russland versinkt für die nächsten Tage in die alljährliche
Neujahres-Agonie: vom ersten bis zum zehnten Januar passiert kaum etwas, die
meisten Menschen arbeiten nicht, die Studenten haben frei.
Den Silvesterabend habe ich mit meinem guten
Bekannten Maxim und seiner Mutter und Schwester verbracht. Es gab "Hering im
Pelzmantel" (Fisch, bedeckt von Kartoffeln, Roter Beete und Sahne), Posy
(fleischgefüllte Teigtaschen, ein burjatisches Nationalgericht) und von mir
gebackene deutsche Weihnachtsplätzchen. Ich staunte über Maxims pianistische
Fähigkeiten, er spielte mir das cis-moll-Präludium von Rachmaninov auf seinem
Klavier vor sowie einen Walzer von Lew Tolstoj (!). Fünf Minuten vor Jahresende
trat Putin auf den Bildschirm und richtete sich mit seiner Neujahresansprache
an die ganze Nation. „Nicht alle können das Fest heute mit ihren Nächsten
feiern“, sagte der russische Präsident. „Manche müssen arbeiten, ihre
Dienstpflicht erfüllen, die Grenzen bewachen.“ Von Willenskraft, Festigkeit und
Charakterstärke war die Rede, von einem Ziel, das alle vereint, nämlich „der
Heimat dienen und für deren Schicksal Verantwortung zu
übernehmen“. An 70 Jahre Kriegsende erinnerte Putin und meinte, dass die
Heldenhaftigkeit der Vorfahren auch heute noch beispielgebend sein kann, um
sich den aktuellen Herausforderungen zu stellen. Dann erklang die russische
Hymne, von der Straße drang das Böllergewitter in die Stube.
Eine Ecke in meinem Koffer bleibt frei: Morgen
fahren mich Maschas Eltern zum Flughafen und geben mir wieder warme Kleidung
für ihre in Moskau lebende Tochter mit, die ich ihr vor der Weiterreise nach
Berlin übergeben werde. Ich freue mich darauf, Sibirien in der Morgendämmerung
von oben zu betrachten, in Deutschland Verwandte und Freunde wieder zu sehen
und bin gespannt auf die Veränderungen, die das Auftauchen von fast einer Million neuer Migranten im Land bewirkt hat - die Flüchtlingskrise ist erst nach meiner Abreise aktuell geworden. All meinen Lesern wünsche ich
einen guten Start ins Jahr 2016 und begrüße sie hier an dieser Stelle wieder
Ende Januar – mit weiteren Berichten aus dem Herzen Sibiriens, wie immer
authentisch, anschaulich und abwechslungsreich.
![]() |
"Hering im Pelzmantel" (oben), Posy (unten), Fischkuchen (ganz unten) |