Freitag, 1. Januar 2016

Heimaturlaub

Während mein Nachbar besoffen grölend durchs Treppenhaus läuft, packe ich den Koffer für den morgigen Abflug nach Deutschland. Russland versinkt für die nächsten Tage in die alljährliche Neujahres-Agonie: vom ersten bis zum zehnten Januar passiert kaum etwas, die meisten Menschen arbeiten nicht, die Studenten haben frei.
Den Silvesterabend habe ich mit meinem guten Bekannten Maxim und seiner Mutter und Schwester verbracht. Es gab "Hering im Pelzmantel" (Fisch, bedeckt von Kartoffeln, Roter Beete und Sahne), Posy (fleischgefüllte Teigtaschen, ein burjatisches Nationalgericht) und von mir gebackene deutsche Weihnachtsplätzchen. Ich staunte über Maxims pianistische Fähigkeiten, er spielte mir das cis-moll-Präludium von Rachmaninov auf seinem Klavier vor sowie einen Walzer von Lew Tolstoj (!). Fünf Minuten vor Jahresende trat Putin auf den Bildschirm und richtete sich mit seiner Neujahresansprache an die ganze Nation. „Nicht alle können das Fest heute mit ihren Nächsten feiern“, sagte der russische Präsident. „Manche müssen arbeiten, ihre Dienstpflicht erfüllen, die Grenzen bewachen.“ Von Willenskraft, Festigkeit und Charakterstärke war die Rede, von einem Ziel, das alle vereint, nämlich „der Heimat dienen und für deren Schicksal Verantwortung zu übernehmen“. An 70 Jahre Kriegsende erinnerte Putin und meinte, dass die Heldenhaftigkeit der Vorfahren auch heute noch beispielgebend sein kann, um sich den aktuellen Herausforderungen zu stellen. Dann erklang die russische Hymne, von der Straße drang das Böllergewitter in die Stube.
Eine Ecke in meinem Koffer bleibt frei: Morgen fahren mich Maschas Eltern zum Flughafen und geben mir wieder warme Kleidung für ihre in Moskau lebende Tochter mit, die ich ihr vor der Weiterreise nach Berlin übergeben werde. Ich freue mich darauf, Sibirien in der Morgendämmerung von oben zu betrachten, in Deutschland Verwandte und Freunde wieder zu sehen und bin gespannt auf die Veränderungen, die das Auftauchen von fast einer Million neuer Migranten im Land bewirkt hat - die Flüchtlingskrise ist erst nach meiner Abreise aktuell geworden. All meinen Lesern wünsche ich einen guten Start ins Jahr 2016 und begrüße sie hier an dieser Stelle wieder Ende Januar – mit weiteren Berichten aus dem Herzen Sibiriens, wie immer authentisch, anschaulich und abwechslungsreich.

"Hering im Pelzmantel" (oben), Posy (unten), Fischkuchen (ganz unten)