Sonntag, 3. Mai 2020

Vom Osten in den Osten



Am dreißigsten April bin ich mit meiner Frau und unserer Tochter in Deutschland gelandet. Wegen der Corona-Krise haben wir den Umzug um zwei Monate vorverlegt. Jetzt verbringen wir in Reitwein die gesetzlich vorgeschriebenen zwei Wochen Quarantäne, in einem kleinen Brandenburger Dorf ganz im Osten, wenige Kilometer von der polnischen Grenze entfernt.
Ein paar Tage vor der Abreise erfahre ich über die Krisenvorsorgeliste des Auswärtigen Amtes von einem Lufthansa-Sonderflug aus Moskau nach Frankfurt/Main. Tickets reservieren, Sachen packen. Erst achtundvierzig Stunden vor Abflug genehmigt die russische Regierung die Reise endgültig und ich bekomme die Flugscheine. Diesmal nehmen wir weniger Zeug mit als beim letzten Versuch. Es sind nur fünf statt sechs Gepäckstücke, da ich per Post noch ein weiteres Paket – das zwölfte – nach Deutschland geschickt habe. Von den anderen elf Paketen, vor über einem Monat an meine Mutter gesendet, sind inzwischen fünf angekommen. Vier hängen noch irgendwo zwischen Deutschland und Russland herum. Und die übrigen zwei musste ich wieder auf dem Hauptpostamt in Ulan-Ude in Empfang nehmen und ein zweites Mal abschicken. Sie hatten es schon bis Leipzig geschafft. Dort aber hat dem deutschen Zoll etwas nicht gefallen, unklar was, denn ich habe wirklich nur Bücher, Kleidung und Spiele eingepackt.
Am Tag vor dem Abflug fahre ich ans andere Ende Ulan-Udes zu meinem Freund Mischa, der als Abschiedsgabe von mir den Lada Niva bekommt. Vielleicht wird er ihn verkaufen und kann dann mit seiner Familie zum zweiten Mal in den Urlaub fahren. Mein Handy habe ich wie üblich dabei. Abends bekomme ich eine SMS: „Wnimanie! - Achtung! Sie haben die Regeln der Isolation verletzt. Wir bitten Sie, die Quarantäne zu beachten und die Wohnung nicht zu verlassen. Bei einem weiteren Regelverstoß wird die Information darüber an die zuständigen Behörden weitergegeben. Schützen Sie sich und Ihre Mitmenschen!“
Offiziell gilt immer noch die Ausgangssperre, aber die Disziplin der Menschen lässt merklich nach, die Spielplätze füllen sich wieder mit Leben. Vorübergehend wird Friseursalons die Arbeit gestattet, wenn bestimmte Hygieneauflagen erfüllt werden. Das Flugzeug der Fluggesellschaft S7 von Ulan-Ude nach Moskau ist fast leer. Kaum jemand fliegt jetzt in die Hauptstadt, das Zentrum der Corona-Pandemie in Russland. Die Lufthansa-Maschine weiter nach Frankfurt hingegen, ein Repatriierungsflug für deutsche Staatsbürger und ihre Familienangehörigen, ist bis auf den letzten Platz gefüllt.
Bei der Einreise in Deutschland scheint es für einen kurzen Moment, dass Niso und Maja nicht ins Land gelassen werden.
„Haben Sie einen gemeldeten Wohnsitz?“, fragt mich der junge Bundespolizist von hinter der Glasscheibe. Ich verneine.
„Dann sieht es für ihre Frau und Tochter nicht gut aus“, sagt er und greift zum Telefon. Er schiebt unsere drei Pässe zusammen, ohne sie zu stempeln oder zu scannen, und reicht sie einem Kollegen weiter, der mich bittet, ihn zur Wache zu begleiten.
Der Chef am Schreibtisch nimmt die Pässe und studiert das Begleitschreiben vom Novosibirsker Konsulat, in dem die Chefin der Visaabteilung bittet, Niso und Maja die Einreise mit den Schengenvisa zu gestatten, da – aufgrund der Pandemiesituation – die Visa für den Ehegattennachzug nicht in die Pässe geklebt werden konnten: wegen der Ausgangssperre konnte ich nicht nach Novosibirsk fliegen.
Eine Minute Warten in Unsicherheit.
Der Bundespolizist reicht mir Pässe und Schreiben zurück.
„Geht in Ordnung. Tschau!“
Wir sind in Deutschland. Ein neuer Lebensabschnitt beginnt.
Im ICE von Frankfurt Flughafen nach Berlin Ostbahnhof haben wir fast einen ganzen Wagen nur für uns. Mit über zweihundert Stundenkilometern geht es leise surrend durch ziemlich grüne Landschaften. Nach dem südsibirischen Steppengrau ein Wunder für unsere Augen.
Am nächsten Tag erinnere ich mich, dass Niso und Maja den üblichen Einreisestempel nicht bekommen haben und mein Pass nicht gescannt wurde. Nun, bei der Bundespolizei arbeiten eben auch nur Menschen, denke ich und rufe in Frankfurt an, um uns spätere mögliche Nachfragen und Ärger zu ersparen.
„Da sie mit einem Sonderflug gekommen sind, haben wir die Daten längst erfasst. Und der Aufenthalt ihrer Frau und Tochter ist zeitlich nicht begrenzt, deshalb gibt es keinen Stempel.“
Unser Bekannter Zhargal erzählt am Telefon, dass die beschränkenden Maßnahmen in  Burjatien, die man schon begonnen hatte zu lockern, wieder verschärft werden, da die Anzahl der Corona-Fälle stark im Zunehmen begriffen ist.
Der Osten und seine Geschichte lässt uns auch hier in Reitwein nicht los. In wenigen Kilometern Entfernung vom Haus unserer Freunde hatte Marschall Shukow seinen Befehlsstand, als er die Schlacht um die Seelower Höhen leitete, die größte Schlacht des Zweiten Weltkriegs auf deutschem Boden und die erste Etappe der Operation Berlin.
Maja springt auf der Wiese herum, sammelt Gänseblümchen, schaukelt mit dem einen oder anderen der drei Kinder und klettert auf Obstbäume.
„Bin ich wirklich in Deutschland?“, fragt mich Niso. Wir blicken in das sattes Grün des Gartens, lauschen dem Vogelgezwitscher und schweigen. Die Anspannung und Ungewissheit der letzten Wochen löst sich nur langsam.
„Ich glaube schon“, sage ich und beginne langsam zu begreifen, dass fast fünf Jahre „Mein Leben am Baikalsee“ nun tatsächlich zu Ende sind.




Montag, 20. April 2020

Selbstisolation


Seit der Rückkehr aus Moskau vor zehn Tagen sind wir fast nur zuhause. Alle, die aus der Hauptstadt ankommen – fast jeden Tag ein Flugzeug – stehen unter besonderer medizinischer Beobachtung. Jeden Tag bekommen Niso und ich je einen Anruf aus der Poliklinik mit der Frage nach unserem Wohlbefinden und der Erinnerung, die Regeln der Selbstisolation einzuhalten. Unangemeldet kam eine Ärztin vorbei und untersuchte uns auf Coronavirus-Symptome. Eine zweite Ärztin nahm gestern Abstriche aus Mund und Nase: der Corona-Test, welcher seit Neuestem gleich in Ulan-Ude ausgewertet wird. Im Falle eines positiven Ergebnisses bekommen wir heute Bescheid.
Uns geht es gut. Jeden Tag schickt Soja Dolgorovna, Majas Klassenlehrerin, per Viber Aufgaben, die alle Schüler bis zum Mittag erledigen sollen: online auf der Seite der Rossijskaja Elektronnaja Schkola oder per Hand ins Heft zu schreibende Übungen aus dem Lehrbuch, von denen dann ein Foto an die Klassenlehrerin zurückgeschickt wird. Ich hatte mit einer Studentengruppe den ersten Online-Gruppenunterricht per Zoom. Nachmittags arbeite ich mich auf unserem sich mehr und mehr verstimmenden Klavier Takt für Takt durch die beiden einfachsten Beethoven-Klaviersonaten (op. 49) und übe eine halbe Stunde mit Maja. Der Klavierstimmer weigert sich zu kommen und verweist auf die bis Ende April geltenden Bestimmungen der Selbstisolation. Natürlich hat er recht, ein alter Mann, Risikogruppe.
Maja ist viel ausgeglichener und folgsamer als zu Zeiten des normalen Schulbetriebs. Sie spielt selbstversunken mit dem Puppenhaus aus Karton, produziert geduldig eine Seifenblase nach der anderen auf ihrer Hand, sortiert unsere dreißig Bände der Großen Sowjetischen Enzyklopädie, fordert uns zum Einkaufen in ihrem Geschäft oder zum Kuhhandel-Spielen auf und geht nach draußen: mit mir eine kleine Runde an der Kirche joggen oder mit Niso auf dem gespenstisch kinderleeren Spielplatz herumspringen. Jeden Tag wäscht sie das Geschirr und räumt manchmal noch die Wohnung auf, um uns eine Freude zu machen. Abends spielt das neunjährige Mädchen mit großer Ausdauer in Wohn- und Schlafzimmer Verstecken und empfindet ein endloses Vergnügen daran, von uns gesucht zu werden, obwohl wir längst wissen, wo sie steckt und sie auch weiß, dass wir das wissen. Ich lese meiner Frau aus dem „Schrecklichen Jahrhundert“ vor, eine fast achthundert engbedruckte Seiten dicke Geschichte des bekannten burjatischen Schriftstellers Isai Kalaschnikov über das Leben und Wirken von Dschinghis Khan, und finde es dabei äußerst merkwürdig, dass Maja der komplizierten Erwachsenenlektüre mit Interesse zuhört, ohne sich zu langweilen. Manchmal schauen wir eine Astrid-Lindgren-Verfilmung auf Deutsch. Meine beiden Damen kennen die Handlung aus den Büchern in russischer Übersetzung und können folgen, auch ohne alles Gesprochene zu verstehen.
Seit wenigen Tagen sind in Ulan-Ude auch Bau- und Gartenmärkte wieder geöffnet, damit die Leute alles Nötige zur Eröffnung der Datschen-Saison besorgen können. Einhundertfünfzehn Corona-Fälle sind in Burjatien registriert. Nachdem es an einem Tag mehr Gesundgeschriebene als COVID-19-Neuinfektionen gab, zog das Oberhaupt der Republik die vorsichtige Schlussfolgerung, die Situation sei unter Kontrolle.


Samstag, 11. April 2020

Die Generalprobe



Ende März schließt Russland seine Landesgrenzen für den Personenverkehr. Da unklar ist, wie lange die Schließung andauern und wie sich die Coronavirus-Krise im Land entwickeln wird, überlege ich, mit Frau und Tochter nach Deutschland überzusiedeln – drei Monate früher als  geplant. Auch meine Entsendeorganisation hat allen Kollegen geraten, nach Deutschland zurückzukehren und den Deutschunterricht von dort aus per Internet fortzuführen.
Es gelingt mir, die Frage der Visa für Niso und Maja schnell und unbürokratisch zu klären: die beiden können mit den Schengenvisa übersiedeln, die bereits in ihren Pässen sind, obwohl diese im Normalfall nur für touristische Reisen gedacht sind und auf jeden Fall nach Ablauf zur Ausreise verpflichten. Aber zurzeit herrscht kein Normalfall. Am Sonntag, den fünften April, so erfahre ich, fliegt das letzte Flugzeug von Moskau nach Berlin, eine Aeroflot-Maschine. Ich buche den Flug, und jetzt muss auf einmal alles ganz schnell gehen. Eine knappe Woche bleibt Zeit, um zusammenzupacken und die Wohnung zu räumen.
Einen letzten kleinen Ausflug auf einen Hügel in die Steppe vor der Stadt unternehme ich mit unserem französischen Unterrichtspraktikanten Alexandre. In den fast fünf Jahren meiner Tätigkeit am Lehrstuhl für Deutsch und Französisch habe ich mit vielen Praktikanten zusammengearbeitet: Natalja, Anna und Florian aus Österreich, Lukas aus der Schweiz und Valentin aus Frankreich. Im Gegensatz zu den anderen fällt es mir schwer, zu Alexandre ein freundschaftliches Verhältnis zu finden. Der junge Mann kleidet sich in Anzug und Krawatte, begrüßt mich jedesmal mit einer unterwürfigen Verbeugung und siezt mich, das angebotene Du konsequent ignorierend.
„Das ist die Selenga, sie kommt von hier aus der Mongolei“, sage ich und weise auf den Fluss Richtung Süden, als wir auf dem Hügel oben angekommen sind.
„Von hier aus der Mongolei“, sagt Alexandre und deutet eine Verbeugung an.
„Und dort fließt sie dann weiter zum Baikalsee“, erkläre ich mit einem Fingerzeig nach Norden.
„Weiter zum Baikalsee“, antwortet Alexandre.
„Die Leute bleiben tatsächlich zuhause wegen dem Virus, es sind wenig Autos auf der Straße.“
„Wenig Autos auf der Straße, ja.“
„Hier war auch früher nicht so viel Verkehr, aber es sind deutlich weniger geworden.“
„Oh ja, weniger, nicht wenig. Entschuldigung. Weniger, natürlich“, haucht der junge Mann und verbeugt sich in der Annahme, ich habe einen sprachlichen Fehler in seiner Rede korrigiert.
„Ich setze dich am Sowjetplatz ab, gut?“, frage ich auf der Rückfahrt, als wir wieder in der Stadt sind.
„Wenn es Ihnen angenehm wäre“, flötet Alexandre.
Es ist mir vor allem angenehm, so einen Schleimer wie dich endlich loszuwerden, denke ich und atme durch, als er das Auto verlassen hat.
Obwohl in Ulan-Ude die gleiche De-facto-Ausgangssperre herrscht wie in Moskau – man darf die Wohnung nur verlassen, um ins nächstgelegene Lebensmittelgeschäft zu gehen, in die Apotheke, um den Hund maximal hundert Meter auszuführen oder zur Arbeit zu gelangen, sofern diese nicht auch ruht – hat die Post geöffnet. Ich schicke die Pakete Nummer acht bis elf an meine Mutter ab. Niso beendet noch schnell ihre bereits begonnene Zahnbehandlung bei der besten Zahnärztin der Stadt, nämlich der einzigen, die nach westeuropäischem Standard arbeitet. Von meiner Vermieterin Lena hätte ich mich in normalen Zeiten gemütlich bei Tee und Torte verabschiedet. Nun aber sitzen wir in anderthalb Metern Abstand auf einer Bank am Spielplatz hinter dem Haus und schauen uns über unsere weißen Masken hinweg an.
„Mit deiner Abreise geht eine kleine Epoche für uns zuende“, sagt Lena, die auch meine Arbeitskollegin ist. „Eigentlich wollten wir dich mit einer gebührenden Zeremonie verabschieden, vielleicht mit einer Urkunde und einem Abzeichen für deine Verdienste für die Universität. Es kommt wirklich sehr unerwartet.“
Wir sind beide sehr gerührt. Ich spreche ihr meinen aufrichtigen Dank für die gute Zusammenarbeit über all die Jahre aus.
„Es sind komische Zeiten gerade“, sage ich. „Man muss es mit Humor nehmen. Vielleicht klappt es auch nicht und wir kommen zurück.“
Meine Vermieterin verspricht, die Wohnung für alle Fälle noch eine Weile nach unserer Abreise freizuhalten. Als wir uns verabschieden, ist Mittag, eigentlich wollte ich mit Niso und Maja am nächsten Tag zu den Schwiegereltern aufs Dorf fahren, aber ein mulmiges Gefühl beschleicht mich. Das Republikoberhaupt hat die Bevölkerung gebeten, die Stadt nicht zu verlassen. Was, wenn aus der Bitte morgen eine Anordnung wird? Als beschließen wir, noch heute zu fahren. In Windeseile bepacken wir das Auto mit Dingen, die wir zurücklassen wollen: Kleidung, Spielsachen, leeren Flaschen und Dosen – wertvolle Rohstoffe zum Einwecken –, Geschirr und dem elektrischen Samowar. Drei Stunden später sind wir in Jelan. Letztes Teetrinken mit Majas Babuschka und Djeduschka, Katja und Nikolai, derselbe Nikolai, mich vor drei Jahren nicht in seiner Familie haben wollte und nun doch verstanden hat, was für ein guter Mensch sein Schwiegersohn ist. „Vielen Dank für ihre wundervolle Tochter“, sage ich. Katja stehen die Tränen in den Augen, als sie Niso umarmt, Nikolai weist sie zurecht. Und schon düsen wir zurück, um die zweihundert Kilometer nach Ulan-Ude noch vor Einbruch der totalen Dunkelheit zu schaffen. Auch der Lada Niva spürt die Abschiedssituation und rasselt melancholisch mit irgendeiner ein wenig herausgesprungenen Kette unter der Motorhaube.
Das russische Sparkassenkonto auflösen, Reisekrankenversicherung für Niso und Maja abschließen, tausend Kleinigkeiten hier und dort bedenken. Aus Unaufmerksamkeit provoziere ich an einer Kreuzung einen Auffahrunfall. Ich biege nach links ab, obwohl der entsprechende grüne Pfeil noch nicht leuchtet. Dem scharf vor mir bremsenden Auto des Gegenverkehrs fährt der Hintermann auf. Ich habe unsere Abreise im Kopf und keine Zeit für Polizei, Versicherung und Formulare. Die beiden fluchenden Burjaten beruhigen sich, als ich mich nach ihrer Selbsteinschätzung des Schadens zu einem Geldautomaten bringen lasse und ihnen die Summe in bar in die Hand drücke. Um die leicht gestresste Abreisenervosität zu Hause nicht weiter anzuheizen, erzähle ich nichts von dem Ereignis. Niemand weiß von dem Unfall. Er bleibt mein Geheimnis.
Zwei Tage vor dem Abflug verliert Maja den ersten ihrer vier Eck-Milchzähne.
Am Samstag, den vierten April fliegen wir nach Moskau. Einen Tag später soll es weiter nach Berlin gehen. Ich bin in Hochstimmung und überlege, wie ich meinen Abschied von Russland in würdige Worte kleide. Im August zweitausendfünfzehn bin ich mit drei Gepäckstücken hier angekommen. Knapp fünf Jahre später reise ich mit sechs Gepäckstücken, Frau und Kind zurück. Ist das nicht ein schöner Vergleich?
Nach der Landung auf dem Flughafen Domodedovo schalte ich mein Handy an und lese eine SMS von Aeroflot, dass der für morgen geplante letzte Flug nach Berlin gestrichen wurde. Es ist also genau das eingetreten, wovor das deutsche Konsulat gewarnt hat. Flugverbindungen in diesen Zeiten sind unberechenbar.
Der auf angenehme Art gesprächige Taxifahrer, der uns in ein kleines Hotel bringt, hat keine Maske, aber ein ozonabsonderndes Gerät in seinem Nissan installiert. Das helfe am besten, meint er, und im Übrigen sollen wir nicht panisch werden, es gehe alles bald vorüber. Unterwegs lese ich eine SMS aus Ulan-Ude von Mischa, dem ich meinen Lada Niva überlassen habe und der uns mit ihm zum Flughafen gebracht hatte. Das Auto sei mit Motorschaden liegengeblieben. Zum Glück erst auf dem Rückweg zu ihm nachhause.
„Der Niva ist beleidigt wegen meiner vorgezogenen Abreise“, antworte ich. „Aber keine Sorge, er sieht mich wohl bald wieder.“
Nach einer Nacht im Hotel siedeln wir in die leerstehende Wohnung von meinen Bekannten Anton und Julia über, die mit ihren zwei Kindern auf die Datsche geflüchtet sind, um dort die Corona-Ausgangssperre abzuwarten. Elfte Etage eines Hochhauses mit Blick auf ein Meer weiterer Hochhäuser, schicke zwei Zimmer mit Aquarium, E-Piano, Kinder-Kletterecke und hunderten Büchern, dafür kein Fernseher. Anton und Julia lieben die Annehmlichkeiten des Lebens und westeuropäische Kultur, reisen am liebsten nach Spanien, Italien und Kroatien und schütteln den Kopf über mein Herumreisen in den postsowjetischen Ländereien.
Flüge nach Deutschland sind nicht ausfindig zu machen, weder im Internet noch bei persönlicher Nachfrage am Aeroflot-Schalter im Flughafen.
Der deutsche Staat organisiert Rückholaktionen für seine Landsleute aus dutzenden Ländern der Welt. Russland ist nicht dabei. Die Viruskrise hier ist noch weniger heftig als anderswo, es gibt nur etwa zehntausend Infizierte.
Ich bekomme Emails mit abenteuerlichen Tipps, wie vielleicht die Ausreise aus Russland auf dem Landweg über Estland oder Finnland möglich wäre. Ein Stück Taxi, ein Stück zu Fuß, weiter über Madrid und dann eventuell nach Deutschland.
Abwechselnd mit Niso und mir sitzt die kleine Maja vor dem Computer und löst in einem Internet-Lernportal die Aufgaben, die ihre Klassenlehrerin aufgibt. Wir haben von unserer geplanten Übersiedlung noch nichts mitgeteilt, die strenge Soja Dolgorowna wundert sich nur, dass unsere Lösungen jeden Tag erst so spät eintreffen. Sie weiß nicht, dass zwischen ihr und uns fünf Stunden Zeitunterschied liegen und wir in Moskau sind. Muss sie auch nicht wissen. Denn nach kurzem Hin- und Herüberlegen entscheiden wir uns für die Rückkehr an den Baikalsee.
Riesige Digitalanzeigen an den Moskauer Schnellstraßen fordern die Menschen auf, zuhause zu bleiben und regelmäßig Hände zu waschen. Ansagen im Flughafen erinnern an den Abstand von anderthalb Metern zu den Mitmenschen. Vor den Abfluggates sitzen Gruppen von chinesischen Reisenden im weißen Einweg-Ganzkörperschutzanzug. Trotzdem quetschen sich die Fluggäste wie üblich dicht an dicht in den Zubringerbus, und auch das Flugzeug ist so voll, dass von Sicherheitsabstand beim Ein- und Aussteigen keine Rede sein kann.
In der Ankunftshalle im Flughafen Ulan-Ude sitzen an Tischen schutzbekleidete Ärzte und händigen allen Ankömmlingen ein Schreiben zur Kenntnisnahme und Unterschrift aus. Jeder, der aus Moskau kommt, ist zur vierzehntägigen Selbstisolation zu Hause verpflichtet. Man fürchtet, sich über die sechzig bereits registrierten Fälle hinaus noch mehr Coronavirus aus der Hauptstadt einzuschleppen. Sogar der Besuch von Geschäften, Apotheken und das Nutzen öffentlicher Verkehrsmittel ist verboten. Zweimal täglich Fiebermessen und das Ergebnis schriftlich festhalten, jeden Tag den eigenen Gesundheitszustand telefonisch durchgeben. Wohin, bleibt unklar. Vielleicht ist dieser Punkt nicht ganz ernstzunehmen.
Allen wird am Ausgang die Infrarotkamera ins Gesicht gehalten. Mir als Ausländer lässt man weitere Aufmerksamkeit zukommen, obwohl ich schon Ende Januar nach Russland eingereist bin, als es in Deutschland noch keine Corona-Fälle gab. Man bittet mich in den Raum der Chefärztin und reicht ein Quecksilberthermometer.
Die Vermieterin hat tatsächlich Humor und gibt uns den Schlüssel zurück. Nun sitzen wir wieder in unserer Wohnung in der Frunse-Straße, als wäre nichts gewesen. Geschirr, Bettwäsche und Kühlschrank, alles noch da. Vor genau einer Woche startete unser Umzugsversuch. Die Generalprobe sozusagen. Wenn sie schlecht läuft, wird die Aufführung bekanntlich gut.

Abschied von Katja und Nikolai, den Schwiegereltern auf dem Dorf


Schule findet russlandweit online statt (oben). Aufforderung zum Abstandhalten auf dem Flughafen (unten)
 
Blick aus dem Fenster der Moskauer Wohnung (oben)

Abgesperrte, leere Spielplätze (oben) und Desinfektion der Straßen in Moskau (unten)


Donnerstag, 9. April 2020

Versuch eines Umzugs nach Deutschland

Liebe Landsleute,
CoVID-19 beschäftigt uns alle und dominiert die Nachrichten weltweit, auch hier in Sibirien und Fernost. Zusammen mit den anderen deutschen Vertretungen in Russland beobachtet das Generalkonsulat die Situation sehr genau.
Es erreichen uns Anfragen, ob es angezeigt ist, in dieser Situation nach Deutschland zurückzukehren. Dies ist eine individuelle Entscheidung, die jeder nach Maßgabe seiner persönlichen Situation selber treffen muss. Wir möchten Sie zur Entscheidungsfindung aber auf einige Parameter hinweisen:
Es ist davon auszugehen, dass die Zahl der Corona-Infizierten weltweit und auch hier weiter steigen und damit, wie andernorts, auch für das hiesige Gesundheitssystem eine wachsende, erhebliche Belastung darstellen wird. Das ist insbesondere für Angehörige der Risikogruppen (Personen über sechzig Jahre, Personen mit Vorbelastungen wie Bluthochdruck u. a.) von Bedeutung.
Die Flugverbindungen von Russland nach Deutschland sind bereits stark reduziert worden. Direktflüge werden nur noch von Aeroflot angeboten, mehrmals täglich von Moskau nach Berlin. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass auch Flugverbindungen von Sibirien und Fernost nach Moskau eingeschränkt werden.
Aus einer Mail vom Deutschen Generalkonsulat aus Novosibirsk, 20.3.

Ursprünglich wollten wir Anfang Juli übersiedeln. Nun würden wir jedoch gerne früher ausreisen, nämlich bevor die Corona-Krise in Ulan-Ude in vollem Gange ist.
Aus meiner Mail an die Visastelle des Deutschen Generalkonsulats in Novosibirsk, 25.3.

Liebe Landsleute,
wie uns Aeroflot mitteilte, gibt es bis zum 5. April 2020 noch Flüge von Moskau nach Berlin. Allerdings ist davon auszugehen, daß auch von diesen Flugplanungen abgewichen werden könnte.
Deswegen nochmals unsere Bitte an Sie:
Wenn Sie vorhaben Russland zu verlassen, sollten Sie Ihre Entscheidung jetzt treffen und versuchen einen entsprechenden Flug zu buchen.
Es ist kein Evakuierungsflug von Nowosibirsk aus geplant.
Ab heute sind gemäß Verordnung von PM Mischustin die Landgrenzen auf unbestimmte Zeit für Reisende geschlossen. Davon ausgenommen ist nur ein sehr beschränkter Personenkreis wie z.B.  Kraftfahrer, Besatzungen von Luftfahrzeugen, See- und Binnenschiffen.
Falls Sie sich entscheiden sollten hier zu bleiben, können Sie Ihre Aufenthaltsgenehmigung verlängern lassen, wenn diese ablaufen sollte.
Aus einer Mail vom Deutschen Generalkonsulat aus Novosibirsk, 30.3.

Liebe Landsleute,
heute hat die Regierung des Nowosibirsker Gebiet ab heute, 20.00 (Ortszeit), per Verordnung eine weitreichende Ausgangssperre für alle Personen eingeführt.
Entsprechende Verordnungen haben im Amtsbereich des Generalkonsulats Nowosibirsk folgende Regionen erlassen:
Republik Sacha (Jakutien), Verwaltungsgebiet Irkutsk, Verwaltungsgebiet Magadan, Verwaltungsgebiet Nowosibirsk, Verwaltungsgebiet Amur, Verwaltungsregion Primorje, Verwaltungsregion Transbaikal.
Inhaltlich sind diese Verordnungen an den Erlass des Gouverneurs des Moskauer Gebiets und des Oberbürgermeisters der Stadt Moskau vom 29. März angelehnt.
Das bedeutet:
- Personen  dürfen Ihre Wohnungen nur verlassen, um zur Arbeit zu kommen, zum Einkaufen (Supermärkte in der Nähe des Hauses), zum Medikamentenkauf in Apotheken, zum Müll wegbringen oder zum Ausführen von  Hunden (Entfernung 100 Meter vom Haus).
-  Alle Personen sind verpflichtet, einen Abstand von 1,5 Meter voneinander einzuhalten. 
Mit freundlichen Grüßen
Ihr Generalkonsulat
Aus einer Mail vom Deutschen Generalkonsulat aus Novosibirsk, 31.3.

Nach unseren derzeitigen Informationen sind die Rückflugmöglichkeiten nach Deutschland sehr eingeschränkt und unsicher:
Seit dem 27. März 2020 wurden alle internationalen Flüge (Linie und Charter) von und nach Russland eingestellt. Ausländische Staatsangehörige dürfen allerdings noch ins Ausland befördert werden.
Dienstag früh, 31.03.2020, wurden auch die letzten verfügbaren Flüge von den Flughäfen in Moskau in das Ausland gestrichen (incl. Aeroflot und Belavia).
Nach den uns gegebenen Informationen werde über ins Ausland durchzuführende Flüge tageweise entschieden.
Über folgende Aeroflotseiten werden aber teilweise noch Flüge angezeigt. Ob diese tatsächlich durchgeführt werden, ist uns nicht bekannt: (…)
Aus einer Mail von der Deutschen Botschaft Moskau, 31.3.

Aus der Deutschen Botschaft erreichte uns heute die Information, dass ungeachtet der offiziellen Einstellung aller internationalen Flüge seit dem 27. März 2020 aktuell noch zwei Flüge täglich durch Aeroflot  von Moskau nach Berlin bedient würden, mit denen ausländische Staatsangehörige ausreisen dürften.
Wie lange diese Möglichkeit noch besteht, sei ungewiss.
Angesichts der Ausgangssperre ist es ratsam, für den Fall eines Flughafentransfers innerhalb Moskaus nur mit Taxi und Bordkarte sich zu bewegen.
Leider ist die Nachrichtenlage aktuell teilweise verwirrend und auch widersprüchlich.
Aus einer Mail von meiner Entsendeorganisation aus Moskau, 31.3.

Bitte entscheiden Sie selbst und klären Sie vor allem mit Aeroflot, ob Ihre Ehefrau und die Tochter mitgenommen werden – die derzeit noch stattfindenden Flüge sind m.W. zur Rückholung RUS Staatsangehöriger aus der DEU (und anderen Staaten) gedacht, auf dem Hinweg werden DEU (und andere EU-) Staatsangehörige mitgenommen. Inwieweit außerdem RUS und andere Nicht-EU-Staatsangehörige befördert werden, entzieht sich meiner Kenntnis. Mit kurzfristigen Änderungen ist situationsbedingt zu rechnen.
In einer Reihe von Regionen sind bereits Ausgangssperren in Kraft – auch dies sollten Sie in Ihre weiteren Überlegungen einbeziehen. Für den Zwischenaufenthalt am Flughafen Moskau-Sheremet‘evo sollten Sie in Anbetracht seuchenmedizinischer Prozeduren ausreichend Zeit einplanen.
Aus einer Mail der Visastelle des Deutschen Generalkonsulates Novosibirsk, 31.3.

Liebe Landsleute,
inzwischen gelten die ausgangsbeschränkenden Maßnahmen für unseren gesamten Amtsbezirk (davon ausgenommen nur der autonome Bezirk der Tschuktschen).
Aus einer Mail des Deutschen Generalkonsulates Novosibirsk, 1.4.

An diesem Wochenende gibt es die vorerst letzte Möglichkeit, von Russland nach Deutschland auszureisen. Ich habe entschlossen, mich zusammen mit meiner Frau und unserer Tochter auf dem Weg in meine Heimat zu machen. Deshalb sind wir am heutigen Samstag aus Ulan-Ude Richtung Westen abgeflogen.
Leider hatte ich keine Gelegenheit, mich von den meisten zu verabschieden und tue das deshalb auf diesem Wege. Ich möchte mich ganz herzlich bei euch allen für die fast fünfjährige gute Zusammenarbeit bedanken. Es hat mir viel Freude gemacht, mit euch zu arbeiten. Für mich war die Tätigkeit an der Burjatischen Staatlichen Universität eine spannende und interessante Herausforderung und ein wichtiger Abschnitt in meinem Leben. Auch privat wird mir Burjatien für immer in besonderer Erinnerung bleiben – schließlich habe ich hier die Frau meines Lebens kennengelernt und geheiratet.
Aus meiner Abschiedsmail an meine Arbeitskollegen in Ulan-Ude, 4.4.

Dear Passenger,
we have important information regarding your itinerary. Your flight SU 2312 on 04.05.2020 from MOSCOW to BERLIN has been cancelled.
For refunds, please, contact our aircompany.
We apologize for any inconvenience this may have caused you.
Mail von Aeroflot, 4.4.

Ja, alle Reisepläne, egal ob Baikal oder quer durch China, sind jetzt erstmal gestrichen. Ist ja wahnsinn, dass man derzeit nicht abschätzen kann, ob das ne mittlere Blaupause bleibt oder eine fatale Wirtschaftskrise samt ungeahnter Umwälzungen bedeutet. Naja, wir harren der Dinge bei einem Weißwurstfrüstück... denn vornehm geht die Welt zugrunde)))
Mail eines meiner Kollegen, 5.4.

Die russischen Behörden am 30. März 2020 um 0.00 Uhr Moskauer Zeit die Landgrenzen geschlossen. Die Dauer der Grenzschließung ist noch nicht absehbar.  
Seit dem 27. März wurden alle internationalen Flüge (Linie und Charter) von und nach Russland eingestellt. Ausländische Staatsangehörige dürfen allerdings noch ins Ausland befördert werden. Russischen Staatsangehörigen mit Daueraufenthaltsstatus in Deutschland ist zuletzt am 3.4. die Ausreise gestattet worden.
Seit 31. März sind auf Anweisung der russischen Behörden auch die verbliebenen wenigen Flüge stark reduziert worden, sie sind stark nachgefragt. Es wird empfohlen, sich persönlich bei m Aeroflot-Büro am Flughafen Moskau-Scheremetjewo zu erkundigen.
Über ins Ausland durchzuführende Flüge wird täglich neu entschieden.
Für internationale Flüge ist nur noch Flughafen SVO, Terminal F, geöffnet!
Über Repatriierungsflüge, an denen auch Deutsche teilnehmen können, informiert die Botschaft alle, die sich auf der Krisenvorsorgeliste ELEFAND registriert haben. 
Reisende auf dem Landweg sollten sich vorab mit der jeweiligen Grenzstelle in Verbindung zu setzen, bevor sie die Reise antreten. 
Bis auf weiteres hat die deutsche Bundesregierung keine Repatriierungsflüge für Russland geplant.  
Rettungsflugunternehmen organisieren für Covid19-Patienten keine Rückholungsflüge mehr nach Deutschland.
Aus einer Mail der Deutschen Botschaft Moskau, 6.4.

Ja, meine Abreise war auch für mich unerwartet. Und es gibt noch eine Überraschung: übermorgen kommen wir zurück nach Ulan-Ude. Unser Flug von Moskau nach Berlin wurde nämlich abgesagt und im ganzen April gibt es keine Reisemöglichkeit nach Deutschland. Zurzeit sind wir in Moskau.
Also sehen wir uns vielleicht bald wieder.
Man muss wohl in dieser Zeit viel Humor haben und auf Unerwartetes gefasst sein.
Aus meiner Mail an eine Kollegin, 7.4.