Ende März schließt Russland seine Landesgrenzen
für den Personenverkehr. Da unklar ist, wie lange die Schließung andauern und
wie sich die Coronavirus-Krise im Land entwickeln wird, überlege ich, mit Frau
und Tochter nach Deutschland überzusiedeln – drei Monate früher als geplant. Auch meine Entsendeorganisation hat
allen Kollegen geraten, nach Deutschland zurückzukehren und den Deutschunterricht
von dort aus per Internet fortzuführen.
Es gelingt mir, die Frage der Visa für Niso und
Maja schnell und unbürokratisch zu klären: die beiden können mit den Schengenvisa
übersiedeln, die bereits in ihren Pässen sind, obwohl diese im Normalfall nur
für touristische Reisen gedacht sind und auf jeden Fall nach Ablauf zur Ausreise
verpflichten. Aber zurzeit herrscht kein Normalfall. Am Sonntag, den fünften
April, so erfahre ich, fliegt das letzte Flugzeug von Moskau nach Berlin, eine
Aeroflot-Maschine. Ich buche den Flug, und jetzt muss auf einmal alles ganz schnell gehen.
Eine knappe Woche bleibt Zeit, um zusammenzupacken und die Wohnung zu räumen.
Einen letzten kleinen Ausflug auf einen Hügel in
die Steppe vor der Stadt unternehme ich mit unserem französischen
Unterrichtspraktikanten Alexandre. In den fast fünf Jahren meiner Tätigkeit am
Lehrstuhl für Deutsch und Französisch habe ich mit vielen Praktikanten
zusammengearbeitet: Natalja, Anna und Florian aus Österreich, Lukas aus der Schweiz
und Valentin aus Frankreich. Im Gegensatz zu den anderen fällt es mir schwer, zu
Alexandre ein freundschaftliches Verhältnis zu finden. Der junge Mann kleidet
sich in Anzug und Krawatte, begrüßt mich jedesmal mit einer unterwürfigen
Verbeugung und siezt mich, das angebotene Du konsequent ignorierend.
„Das ist die Selenga, sie kommt von hier aus der
Mongolei“, sage ich und weise auf den Fluss Richtung Süden, als wir auf dem
Hügel oben angekommen sind.
„Von hier aus der Mongolei“, sagt Alexandre und
deutet eine Verbeugung an.
„Und dort fließt sie dann weiter zum Baikalsee“,
erkläre ich mit einem Fingerzeig nach Norden.
„Weiter zum Baikalsee“, antwortet Alexandre.
„Die Leute bleiben tatsächlich zuhause wegen dem
Virus, es sind wenig Autos auf der Straße.“
„Wenig Autos auf der Straße, ja.“
„Hier war auch früher nicht so viel Verkehr, aber
es sind deutlich weniger geworden.“
„Oh ja, weniger,
nicht wenig. Entschuldigung. Weniger, natürlich“, haucht der junge
Mann und verbeugt sich in der Annahme, ich habe einen sprachlichen Fehler in
seiner Rede korrigiert.
„Ich setze dich am Sowjetplatz ab, gut?“, frage
ich auf der Rückfahrt, als wir wieder in der Stadt sind.
„Wenn es Ihnen angenehm wäre“, flötet Alexandre.
Es ist mir vor allem angenehm, so einen Schleimer
wie dich endlich loszuwerden, denke ich und atme durch, als er das Auto
verlassen hat.
Obwohl in Ulan-Ude die gleiche
De-facto-Ausgangssperre herrscht wie in Moskau – man darf die Wohnung nur
verlassen, um ins nächstgelegene Lebensmittelgeschäft zu gehen, in die
Apotheke, um den Hund maximal hundert Meter auszuführen oder zur Arbeit zu
gelangen, sofern diese nicht auch ruht – hat die Post geöffnet. Ich schicke die
Pakete Nummer acht bis elf an meine Mutter ab. Niso beendet noch schnell ihre bereits
begonnene Zahnbehandlung bei der besten Zahnärztin der Stadt, nämlich der
einzigen, die nach westeuropäischem Standard arbeitet. Von meiner Vermieterin
Lena hätte ich mich in normalen Zeiten gemütlich bei Tee und Torte
verabschiedet. Nun aber sitzen wir in anderthalb Metern Abstand auf einer Bank
am Spielplatz hinter dem Haus und schauen uns über unsere weißen Masken hinweg an.
„Mit deiner Abreise geht eine kleine Epoche für
uns zuende“, sagt Lena, die auch meine Arbeitskollegin ist. „Eigentlich wollten
wir dich mit einer gebührenden Zeremonie verabschieden, vielleicht mit einer Urkunde
und einem Abzeichen für deine Verdienste für die Universität. Es kommt wirklich
sehr unerwartet.“
Wir sind beide sehr gerührt. Ich spreche ihr
meinen aufrichtigen Dank für die gute Zusammenarbeit über all die Jahre aus.
„Es sind komische Zeiten gerade“, sage ich. „Man
muss es mit Humor nehmen. Vielleicht klappt es auch nicht und wir kommen zurück.“
Meine Vermieterin verspricht, die Wohnung für alle
Fälle noch eine Weile nach unserer Abreise freizuhalten. Als wir uns
verabschieden, ist Mittag, eigentlich wollte ich mit Niso und Maja am nächsten
Tag zu den Schwiegereltern aufs Dorf fahren, aber ein mulmiges Gefühl
beschleicht mich. Das Republikoberhaupt hat die Bevölkerung gebeten, die Stadt
nicht zu verlassen. Was, wenn aus der Bitte morgen eine Anordnung wird? Als
beschließen wir, noch heute zu fahren. In Windeseile bepacken wir das Auto mit Dingen, die wir zurücklassen wollen: Kleidung, Spielsachen, leeren Flaschen und Dosen –
wertvolle Rohstoffe zum Einwecken –, Geschirr und dem elektrischen Samowar.
Drei Stunden später sind wir in Jelan. Letztes Teetrinken mit Majas Babuschka und Djeduschka, Katja und Nikolai, derselbe Nikolai, mich vor drei
Jahren nicht in seiner Familie haben wollte und nun doch verstanden hat, was
für ein guter Mensch sein Schwiegersohn ist. „Vielen Dank für ihre wundervolle
Tochter“, sage ich. Katja stehen die Tränen in den Augen, als sie Niso umarmt,
Nikolai weist sie zurecht. Und schon düsen wir zurück, um die zweihundert
Kilometer nach Ulan-Ude noch vor Einbruch der totalen Dunkelheit zu schaffen.
Auch der Lada Niva spürt die Abschiedssituation und rasselt melancholisch mit irgendeiner
ein wenig herausgesprungenen Kette unter der Motorhaube.
Das russische Sparkassenkonto auflösen,
Reisekrankenversicherung für Niso und Maja abschließen, tausend Kleinigkeiten
hier und dort bedenken. Aus Unaufmerksamkeit provoziere ich an einer Kreuzung
einen Auffahrunfall. Ich biege nach links ab, obwohl der entsprechende grüne
Pfeil noch nicht leuchtet. Dem scharf vor mir bremsenden Auto des Gegenverkehrs
fährt der Hintermann auf. Ich habe unsere Abreise im Kopf und keine Zeit für
Polizei, Versicherung und Formulare. Die beiden fluchenden Burjaten beruhigen
sich, als ich mich nach ihrer Selbsteinschätzung des Schadens zu einem
Geldautomaten bringen lasse und ihnen die Summe in bar in die Hand drücke. Um
die leicht gestresste Abreisenervosität zu Hause nicht weiter anzuheizen,
erzähle ich nichts von dem Ereignis. Niemand weiß von dem Unfall. Er bleibt
mein Geheimnis.
Zwei Tage vor dem Abflug verliert Maja den ersten
ihrer vier Eck-Milchzähne.
Am Samstag, den vierten April fliegen wir nach
Moskau. Einen Tag später soll es weiter nach Berlin gehen. Ich bin in
Hochstimmung und überlege, wie ich meinen Abschied von Russland in würdige Worte
kleide. Im August zweitausendfünfzehn bin ich mit drei Gepäckstücken hier
angekommen. Knapp fünf Jahre später reise ich mit sechs Gepäckstücken, Frau und
Kind zurück. Ist das nicht ein schöner Vergleich?
Nach der Landung auf dem Flughafen Domodedovo
schalte ich mein Handy an und lese eine SMS von Aeroflot, dass der für morgen
geplante letzte Flug nach Berlin gestrichen wurde. Es ist also genau das
eingetreten, wovor das deutsche Konsulat gewarnt hat. Flugverbindungen in
diesen Zeiten sind unberechenbar.
Der auf angenehme Art gesprächige Taxifahrer, der
uns in ein kleines Hotel bringt, hat keine Maske, aber ein ozonabsonderndes
Gerät in seinem Nissan installiert. Das helfe am besten, meint er, und im
Übrigen sollen wir nicht panisch werden, es gehe alles bald vorüber. Unterwegs
lese ich eine SMS aus Ulan-Ude von Mischa, dem ich meinen Lada Niva überlassen
habe und der uns mit ihm zum Flughafen gebracht hatte. Das Auto sei mit
Motorschaden liegengeblieben. Zum Glück erst auf dem Rückweg zu ihm nachhause.
„Der Niva ist beleidigt wegen meiner vorgezogenen
Abreise“, antworte ich. „Aber keine Sorge, er sieht mich wohl bald wieder.“
Nach einer Nacht im Hotel siedeln wir in die leerstehende
Wohnung von meinen Bekannten Anton und Julia über, die mit ihren zwei Kindern
auf die Datsche geflüchtet sind, um dort die Corona-Ausgangssperre abzuwarten.
Elfte Etage eines Hochhauses mit Blick auf ein Meer weiterer Hochhäuser,
schicke zwei Zimmer mit Aquarium, E-Piano, Kinder-Kletterecke und hunderten
Büchern, dafür kein Fernseher. Anton und Julia lieben die Annehmlichkeiten des
Lebens und westeuropäische Kultur, reisen am liebsten nach Spanien, Italien und
Kroatien und schütteln den Kopf über mein Herumreisen in den postsowjetischen
Ländereien.
Flüge nach Deutschland sind nicht ausfindig zu
machen, weder im Internet noch bei persönlicher Nachfrage am Aeroflot-Schalter
im Flughafen.
Der deutsche Staat organisiert Rückholaktionen für
seine Landsleute aus dutzenden Ländern der Welt. Russland ist nicht dabei. Die
Viruskrise hier ist noch weniger heftig als anderswo, es gibt nur etwa
zehntausend Infizierte.
Ich bekomme Emails mit abenteuerlichen Tipps, wie
vielleicht die Ausreise aus Russland auf dem Landweg über Estland oder Finnland
möglich wäre. Ein Stück Taxi, ein Stück zu Fuß, weiter über Madrid und dann
eventuell nach Deutschland.
Abwechselnd mit Niso und mir sitzt die kleine Maja
vor dem Computer und löst in einem Internet-Lernportal die Aufgaben, die ihre
Klassenlehrerin aufgibt. Wir haben von unserer geplanten Übersiedlung noch
nichts mitgeteilt, die strenge Soja Dolgorowna wundert sich nur, dass unsere
Lösungen jeden Tag erst so spät eintreffen. Sie weiß nicht, dass zwischen ihr
und uns fünf Stunden Zeitunterschied liegen und wir in Moskau sind. Muss sie
auch nicht wissen. Denn nach kurzem Hin- und Herüberlegen entscheiden wir uns
für die Rückkehr an den Baikalsee.
Riesige Digitalanzeigen an den Moskauer
Schnellstraßen fordern die Menschen auf, zuhause zu bleiben und regelmäßig
Hände zu waschen. Ansagen im Flughafen erinnern an den Abstand von anderthalb
Metern zu den Mitmenschen. Vor den Abfluggates sitzen Gruppen von chinesischen
Reisenden im weißen Einweg-Ganzkörperschutzanzug. Trotzdem quetschen sich die
Fluggäste wie üblich dicht an dicht in den Zubringerbus, und auch das Flugzeug
ist so voll, dass von Sicherheitsabstand beim Ein- und Aussteigen keine Rede
sein kann.
In der Ankunftshalle im Flughafen Ulan-Ude sitzen
an Tischen schutzbekleidete Ärzte und händigen allen Ankömmlingen ein Schreiben
zur Kenntnisnahme und Unterschrift aus. Jeder, der aus Moskau kommt, ist zur
vierzehntägigen Selbstisolation zu Hause verpflichtet. Man fürchtet, sich über
die sechzig bereits registrierten Fälle hinaus noch mehr Coronavirus aus der
Hauptstadt einzuschleppen. Sogar der Besuch von Geschäften, Apotheken und das
Nutzen öffentlicher Verkehrsmittel ist verboten. Zweimal täglich Fiebermessen
und das Ergebnis schriftlich festhalten, jeden Tag den eigenen Gesundheitszustand
telefonisch durchgeben. Wohin, bleibt unklar. Vielleicht ist dieser Punkt nicht
ganz ernstzunehmen.
Allen wird am Ausgang die Infrarotkamera ins
Gesicht gehalten. Mir als Ausländer lässt man weitere Aufmerksamkeit zukommen,
obwohl ich schon Ende Januar nach Russland eingereist bin, als es in
Deutschland noch keine Corona-Fälle gab. Man bittet mich in den Raum der
Chefärztin und reicht ein Quecksilberthermometer.
Die Vermieterin hat tatsächlich Humor und gibt uns den Schlüssel zurück. Nun sitzen wir wieder in unserer Wohnung in der
Frunse-Straße, als wäre nichts gewesen. Geschirr, Bettwäsche und Kühlschrank,
alles noch da. Vor genau einer Woche startete unser Umzugsversuch. Die
Generalprobe sozusagen. Wenn sie schlecht läuft, wird die Aufführung
bekanntlich gut.
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Abschied von Katja und Nikolai, den Schwiegereltern auf dem Dorf |
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Schule findet russlandweit online statt (oben). Aufforderung zum Abstandhalten auf dem Flughafen (unten) |
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Blick aus dem Fenster der Moskauer Wohnung (oben) |
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Abgesperrte, leere Spielplätze (oben) und Desinfektion der Straßen in Moskau (unten) |