Am dreißigsten April bin ich
mit meiner Frau und unserer Tochter in Deutschland gelandet. Wegen der
Corona-Krise haben wir den Umzug um zwei Monate vorverlegt. Jetzt verbringen
wir in Reitwein die gesetzlich vorgeschriebenen zwei Wochen Quarantäne, in einem kleinen Brandenburger Dorf ganz im Osten, wenige Kilometer von der polnischen Grenze entfernt.
Ein paar Tage vor der
Abreise erfahre ich über die Krisenvorsorgeliste des Auswärtigen Amtes von
einem Lufthansa-Sonderflug aus Moskau nach Frankfurt/Main. Tickets reservieren,
Sachen packen. Erst achtundvierzig Stunden vor Abflug genehmigt die russische
Regierung die Reise endgültig und ich bekomme die Flugscheine. Diesmal nehmen wir weniger
Zeug mit als beim letzten Versuch. Es sind nur fünf statt sechs Gepäckstücke,
da ich per Post noch ein weiteres Paket – das zwölfte – nach Deutschland
geschickt habe. Von den anderen elf Paketen, vor über einem Monat an meine Mutter
gesendet, sind inzwischen fünf angekommen. Vier hängen noch irgendwo zwischen
Deutschland und Russland herum. Und die übrigen zwei musste ich wieder auf dem
Hauptpostamt in Ulan-Ude in Empfang nehmen und ein zweites Mal abschicken. Sie
hatten es schon bis Leipzig geschafft. Dort aber hat dem deutschen Zoll etwas
nicht gefallen, unklar was, denn ich habe wirklich nur Bücher, Kleidung und
Spiele eingepackt.
Am Tag vor dem Abflug fahre
ich ans andere Ende Ulan-Udes zu meinem Freund Mischa, der als Abschiedsgabe
von mir den Lada Niva bekommt. Vielleicht wird er ihn verkaufen und kann dann
mit seiner Familie zum zweiten Mal in den Urlaub fahren. Mein Handy habe ich
wie üblich dabei. Abends bekomme ich eine SMS: „Wnimanie! - Achtung! Sie haben die Regeln der Isolation verletzt.
Wir bitten Sie, die Quarantäne zu beachten und die Wohnung nicht zu verlassen.
Bei einem weiteren Regelverstoß wird die Information darüber an die zuständigen
Behörden weitergegeben. Schützen Sie sich und Ihre Mitmenschen!“
Offiziell gilt immer noch
die Ausgangssperre, aber die Disziplin der Menschen lässt merklich nach, die
Spielplätze füllen sich wieder mit Leben. Vorübergehend wird Friseursalons die
Arbeit gestattet, wenn bestimmte Hygieneauflagen erfüllt werden. Das Flugzeug
der Fluggesellschaft S7 von Ulan-Ude nach Moskau ist fast leer. Kaum jemand
fliegt jetzt in die Hauptstadt, das Zentrum der Corona-Pandemie in Russland.
Die Lufthansa-Maschine weiter nach Frankfurt hingegen, ein Repatriierungsflug
für deutsche Staatsbürger und ihre Familienangehörigen, ist bis auf den letzten
Platz gefüllt.
Bei der Einreise in Deutschland
scheint es für einen kurzen Moment, dass Niso und Maja nicht ins Land gelassen
werden.
„Haben Sie einen gemeldeten
Wohnsitz?“, fragt mich der junge Bundespolizist von hinter der Glasscheibe. Ich
verneine.
„Dann sieht es für ihre Frau
und Tochter nicht gut aus“, sagt er und greift zum Telefon. Er schiebt unsere
drei Pässe zusammen, ohne sie zu stempeln oder zu scannen, und reicht sie einem
Kollegen weiter, der mich bittet, ihn zur Wache zu begleiten.
Der Chef am Schreibtisch
nimmt die Pässe und studiert das Begleitschreiben vom Novosibirsker Konsulat,
in dem die Chefin der Visaabteilung bittet, Niso und Maja die Einreise mit den
Schengenvisa zu gestatten, da – aufgrund der Pandemiesituation – die Visa für
den Ehegattennachzug nicht in die Pässe geklebt werden konnten: wegen der
Ausgangssperre konnte ich nicht nach Novosibirsk fliegen.
Eine Minute Warten in
Unsicherheit.
Der Bundespolizist reicht
mir Pässe und Schreiben zurück.
„Geht in Ordnung. Tschau!“
Wir sind in Deutschland. Ein
neuer Lebensabschnitt beginnt.
Im ICE von Frankfurt
Flughafen nach Berlin Ostbahnhof haben wir fast einen ganzen Wagen nur für uns.
Mit über zweihundert Stundenkilometern geht es leise surrend durch ziemlich
grüne Landschaften. Nach dem südsibirischen Steppengrau ein Wunder für unsere
Augen.
Am nächsten Tag erinnere ich
mich, dass Niso und Maja den üblichen Einreisestempel nicht bekommen haben und
mein Pass nicht gescannt wurde. Nun, bei der Bundespolizei arbeiten eben auch
nur Menschen, denke ich und rufe in Frankfurt an, um uns spätere mögliche Nachfragen
und Ärger zu ersparen.
„Da sie mit einem Sonderflug
gekommen sind, haben wir die Daten längst erfasst. Und der Aufenthalt ihrer
Frau und Tochter ist zeitlich nicht begrenzt, deshalb gibt es keinen Stempel.“
Unser Bekannter Zhargal
erzählt am Telefon, dass die beschränkenden Maßnahmen in Burjatien, die man schon begonnen hatte zu
lockern, wieder verschärft werden, da die Anzahl der Corona-Fälle stark im
Zunehmen begriffen ist.
Der Osten und seine
Geschichte lässt uns auch hier in Reitwein nicht los. In wenigen Kilometern
Entfernung vom Haus unserer Freunde hatte Marschall Shukow seinen Befehlsstand,
als er die Schlacht um die Seelower Höhen leitete, die größte Schlacht des
Zweiten Weltkriegs auf deutschem Boden und die erste Etappe der Operation
Berlin.
Maja springt auf der Wiese
herum, sammelt Gänseblümchen, schaukelt mit dem einen oder anderen der drei
Kinder und klettert auf Obstbäume.
„Bin ich wirklich in
Deutschland?“, fragt mich Niso. Wir blicken in das sattes Grün des Gartens,
lauschen dem Vogelgezwitscher und schweigen. Die Anspannung und Ungewissheit
der letzten Wochen löst sich nur langsam.
„Ich glaube schon“, sage ich
und beginne langsam zu begreifen, dass fast fünf Jahre „Mein Leben am
Baikalsee“ nun tatsächlich zu Ende sind.
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