Sonntag, 3. Mai 2020

Vom Osten in den Osten



Am dreißigsten April bin ich mit meiner Frau und unserer Tochter in Deutschland gelandet. Wegen der Corona-Krise haben wir den Umzug um zwei Monate vorverlegt. Jetzt verbringen wir in Reitwein die gesetzlich vorgeschriebenen zwei Wochen Quarantäne, in einem kleinen Brandenburger Dorf ganz im Osten, wenige Kilometer von der polnischen Grenze entfernt.
Ein paar Tage vor der Abreise erfahre ich über die Krisenvorsorgeliste des Auswärtigen Amtes von einem Lufthansa-Sonderflug aus Moskau nach Frankfurt/Main. Tickets reservieren, Sachen packen. Erst achtundvierzig Stunden vor Abflug genehmigt die russische Regierung die Reise endgültig und ich bekomme die Flugscheine. Diesmal nehmen wir weniger Zeug mit als beim letzten Versuch. Es sind nur fünf statt sechs Gepäckstücke, da ich per Post noch ein weiteres Paket – das zwölfte – nach Deutschland geschickt habe. Von den anderen elf Paketen, vor über einem Monat an meine Mutter gesendet, sind inzwischen fünf angekommen. Vier hängen noch irgendwo zwischen Deutschland und Russland herum. Und die übrigen zwei musste ich wieder auf dem Hauptpostamt in Ulan-Ude in Empfang nehmen und ein zweites Mal abschicken. Sie hatten es schon bis Leipzig geschafft. Dort aber hat dem deutschen Zoll etwas nicht gefallen, unklar was, denn ich habe wirklich nur Bücher, Kleidung und Spiele eingepackt.
Am Tag vor dem Abflug fahre ich ans andere Ende Ulan-Udes zu meinem Freund Mischa, der als Abschiedsgabe von mir den Lada Niva bekommt. Vielleicht wird er ihn verkaufen und kann dann mit seiner Familie zum zweiten Mal in den Urlaub fahren. Mein Handy habe ich wie üblich dabei. Abends bekomme ich eine SMS: „Wnimanie! - Achtung! Sie haben die Regeln der Isolation verletzt. Wir bitten Sie, die Quarantäne zu beachten und die Wohnung nicht zu verlassen. Bei einem weiteren Regelverstoß wird die Information darüber an die zuständigen Behörden weitergegeben. Schützen Sie sich und Ihre Mitmenschen!“
Offiziell gilt immer noch die Ausgangssperre, aber die Disziplin der Menschen lässt merklich nach, die Spielplätze füllen sich wieder mit Leben. Vorübergehend wird Friseursalons die Arbeit gestattet, wenn bestimmte Hygieneauflagen erfüllt werden. Das Flugzeug der Fluggesellschaft S7 von Ulan-Ude nach Moskau ist fast leer. Kaum jemand fliegt jetzt in die Hauptstadt, das Zentrum der Corona-Pandemie in Russland. Die Lufthansa-Maschine weiter nach Frankfurt hingegen, ein Repatriierungsflug für deutsche Staatsbürger und ihre Familienangehörigen, ist bis auf den letzten Platz gefüllt.
Bei der Einreise in Deutschland scheint es für einen kurzen Moment, dass Niso und Maja nicht ins Land gelassen werden.
„Haben Sie einen gemeldeten Wohnsitz?“, fragt mich der junge Bundespolizist von hinter der Glasscheibe. Ich verneine.
„Dann sieht es für ihre Frau und Tochter nicht gut aus“, sagt er und greift zum Telefon. Er schiebt unsere drei Pässe zusammen, ohne sie zu stempeln oder zu scannen, und reicht sie einem Kollegen weiter, der mich bittet, ihn zur Wache zu begleiten.
Der Chef am Schreibtisch nimmt die Pässe und studiert das Begleitschreiben vom Novosibirsker Konsulat, in dem die Chefin der Visaabteilung bittet, Niso und Maja die Einreise mit den Schengenvisa zu gestatten, da – aufgrund der Pandemiesituation – die Visa für den Ehegattennachzug nicht in die Pässe geklebt werden konnten: wegen der Ausgangssperre konnte ich nicht nach Novosibirsk fliegen.
Eine Minute Warten in Unsicherheit.
Der Bundespolizist reicht mir Pässe und Schreiben zurück.
„Geht in Ordnung. Tschau!“
Wir sind in Deutschland. Ein neuer Lebensabschnitt beginnt.
Im ICE von Frankfurt Flughafen nach Berlin Ostbahnhof haben wir fast einen ganzen Wagen nur für uns. Mit über zweihundert Stundenkilometern geht es leise surrend durch ziemlich grüne Landschaften. Nach dem südsibirischen Steppengrau ein Wunder für unsere Augen.
Am nächsten Tag erinnere ich mich, dass Niso und Maja den üblichen Einreisestempel nicht bekommen haben und mein Pass nicht gescannt wurde. Nun, bei der Bundespolizei arbeiten eben auch nur Menschen, denke ich und rufe in Frankfurt an, um uns spätere mögliche Nachfragen und Ärger zu ersparen.
„Da sie mit einem Sonderflug gekommen sind, haben wir die Daten längst erfasst. Und der Aufenthalt ihrer Frau und Tochter ist zeitlich nicht begrenzt, deshalb gibt es keinen Stempel.“
Unser Bekannter Zhargal erzählt am Telefon, dass die beschränkenden Maßnahmen in  Burjatien, die man schon begonnen hatte zu lockern, wieder verschärft werden, da die Anzahl der Corona-Fälle stark im Zunehmen begriffen ist.
Der Osten und seine Geschichte lässt uns auch hier in Reitwein nicht los. In wenigen Kilometern Entfernung vom Haus unserer Freunde hatte Marschall Shukow seinen Befehlsstand, als er die Schlacht um die Seelower Höhen leitete, die größte Schlacht des Zweiten Weltkriegs auf deutschem Boden und die erste Etappe der Operation Berlin.
Maja springt auf der Wiese herum, sammelt Gänseblümchen, schaukelt mit dem einen oder anderen der drei Kinder und klettert auf Obstbäume.
„Bin ich wirklich in Deutschland?“, fragt mich Niso. Wir blicken in das sattes Grün des Gartens, lauschen dem Vogelgezwitscher und schweigen. Die Anspannung und Ungewissheit der letzten Wochen löst sich nur langsam.
„Ich glaube schon“, sage ich und beginne langsam zu begreifen, dass fast fünf Jahre „Mein Leben am Baikalsee“ nun tatsächlich zu Ende sind.




Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen