Samstag, 11. April 2020

Die Generalprobe



Ende März schließt Russland seine Landesgrenzen für den Personenverkehr. Da unklar ist, wie lange die Schließung andauern und wie sich die Coronavirus-Krise im Land entwickeln wird, überlege ich, mit Frau und Tochter nach Deutschland überzusiedeln – drei Monate früher als  geplant. Auch meine Entsendeorganisation hat allen Kollegen geraten, nach Deutschland zurückzukehren und den Deutschunterricht von dort aus per Internet fortzuführen.
Es gelingt mir, die Frage der Visa für Niso und Maja schnell und unbürokratisch zu klären: die beiden können mit den Schengenvisa übersiedeln, die bereits in ihren Pässen sind, obwohl diese im Normalfall nur für touristische Reisen gedacht sind und auf jeden Fall nach Ablauf zur Ausreise verpflichten. Aber zurzeit herrscht kein Normalfall. Am Sonntag, den fünften April, so erfahre ich, fliegt das letzte Flugzeug von Moskau nach Berlin, eine Aeroflot-Maschine. Ich buche den Flug, und jetzt muss auf einmal alles ganz schnell gehen. Eine knappe Woche bleibt Zeit, um zusammenzupacken und die Wohnung zu räumen.
Einen letzten kleinen Ausflug auf einen Hügel in die Steppe vor der Stadt unternehme ich mit unserem französischen Unterrichtspraktikanten Alexandre. In den fast fünf Jahren meiner Tätigkeit am Lehrstuhl für Deutsch und Französisch habe ich mit vielen Praktikanten zusammengearbeitet: Natalja, Anna und Florian aus Österreich, Lukas aus der Schweiz und Valentin aus Frankreich. Im Gegensatz zu den anderen fällt es mir schwer, zu Alexandre ein freundschaftliches Verhältnis zu finden. Der junge Mann kleidet sich in Anzug und Krawatte, begrüßt mich jedesmal mit einer unterwürfigen Verbeugung und siezt mich, das angebotene Du konsequent ignorierend.
„Das ist die Selenga, sie kommt von hier aus der Mongolei“, sage ich und weise auf den Fluss Richtung Süden, als wir auf dem Hügel oben angekommen sind.
„Von hier aus der Mongolei“, sagt Alexandre und deutet eine Verbeugung an.
„Und dort fließt sie dann weiter zum Baikalsee“, erkläre ich mit einem Fingerzeig nach Norden.
„Weiter zum Baikalsee“, antwortet Alexandre.
„Die Leute bleiben tatsächlich zuhause wegen dem Virus, es sind wenig Autos auf der Straße.“
„Wenig Autos auf der Straße, ja.“
„Hier war auch früher nicht so viel Verkehr, aber es sind deutlich weniger geworden.“
„Oh ja, weniger, nicht wenig. Entschuldigung. Weniger, natürlich“, haucht der junge Mann und verbeugt sich in der Annahme, ich habe einen sprachlichen Fehler in seiner Rede korrigiert.
„Ich setze dich am Sowjetplatz ab, gut?“, frage ich auf der Rückfahrt, als wir wieder in der Stadt sind.
„Wenn es Ihnen angenehm wäre“, flötet Alexandre.
Es ist mir vor allem angenehm, so einen Schleimer wie dich endlich loszuwerden, denke ich und atme durch, als er das Auto verlassen hat.
Obwohl in Ulan-Ude die gleiche De-facto-Ausgangssperre herrscht wie in Moskau – man darf die Wohnung nur verlassen, um ins nächstgelegene Lebensmittelgeschäft zu gehen, in die Apotheke, um den Hund maximal hundert Meter auszuführen oder zur Arbeit zu gelangen, sofern diese nicht auch ruht – hat die Post geöffnet. Ich schicke die Pakete Nummer acht bis elf an meine Mutter ab. Niso beendet noch schnell ihre bereits begonnene Zahnbehandlung bei der besten Zahnärztin der Stadt, nämlich der einzigen, die nach westeuropäischem Standard arbeitet. Von meiner Vermieterin Lena hätte ich mich in normalen Zeiten gemütlich bei Tee und Torte verabschiedet. Nun aber sitzen wir in anderthalb Metern Abstand auf einer Bank am Spielplatz hinter dem Haus und schauen uns über unsere weißen Masken hinweg an.
„Mit deiner Abreise geht eine kleine Epoche für uns zuende“, sagt Lena, die auch meine Arbeitskollegin ist. „Eigentlich wollten wir dich mit einer gebührenden Zeremonie verabschieden, vielleicht mit einer Urkunde und einem Abzeichen für deine Verdienste für die Universität. Es kommt wirklich sehr unerwartet.“
Wir sind beide sehr gerührt. Ich spreche ihr meinen aufrichtigen Dank für die gute Zusammenarbeit über all die Jahre aus.
„Es sind komische Zeiten gerade“, sage ich. „Man muss es mit Humor nehmen. Vielleicht klappt es auch nicht und wir kommen zurück.“
Meine Vermieterin verspricht, die Wohnung für alle Fälle noch eine Weile nach unserer Abreise freizuhalten. Als wir uns verabschieden, ist Mittag, eigentlich wollte ich mit Niso und Maja am nächsten Tag zu den Schwiegereltern aufs Dorf fahren, aber ein mulmiges Gefühl beschleicht mich. Das Republikoberhaupt hat die Bevölkerung gebeten, die Stadt nicht zu verlassen. Was, wenn aus der Bitte morgen eine Anordnung wird? Als beschließen wir, noch heute zu fahren. In Windeseile bepacken wir das Auto mit Dingen, die wir zurücklassen wollen: Kleidung, Spielsachen, leeren Flaschen und Dosen – wertvolle Rohstoffe zum Einwecken –, Geschirr und dem elektrischen Samowar. Drei Stunden später sind wir in Jelan. Letztes Teetrinken mit Majas Babuschka und Djeduschka, Katja und Nikolai, derselbe Nikolai, mich vor drei Jahren nicht in seiner Familie haben wollte und nun doch verstanden hat, was für ein guter Mensch sein Schwiegersohn ist. „Vielen Dank für ihre wundervolle Tochter“, sage ich. Katja stehen die Tränen in den Augen, als sie Niso umarmt, Nikolai weist sie zurecht. Und schon düsen wir zurück, um die zweihundert Kilometer nach Ulan-Ude noch vor Einbruch der totalen Dunkelheit zu schaffen. Auch der Lada Niva spürt die Abschiedssituation und rasselt melancholisch mit irgendeiner ein wenig herausgesprungenen Kette unter der Motorhaube.
Das russische Sparkassenkonto auflösen, Reisekrankenversicherung für Niso und Maja abschließen, tausend Kleinigkeiten hier und dort bedenken. Aus Unaufmerksamkeit provoziere ich an einer Kreuzung einen Auffahrunfall. Ich biege nach links ab, obwohl der entsprechende grüne Pfeil noch nicht leuchtet. Dem scharf vor mir bremsenden Auto des Gegenverkehrs fährt der Hintermann auf. Ich habe unsere Abreise im Kopf und keine Zeit für Polizei, Versicherung und Formulare. Die beiden fluchenden Burjaten beruhigen sich, als ich mich nach ihrer Selbsteinschätzung des Schadens zu einem Geldautomaten bringen lasse und ihnen die Summe in bar in die Hand drücke. Um die leicht gestresste Abreisenervosität zu Hause nicht weiter anzuheizen, erzähle ich nichts von dem Ereignis. Niemand weiß von dem Unfall. Er bleibt mein Geheimnis.
Zwei Tage vor dem Abflug verliert Maja den ersten ihrer vier Eck-Milchzähne.
Am Samstag, den vierten April fliegen wir nach Moskau. Einen Tag später soll es weiter nach Berlin gehen. Ich bin in Hochstimmung und überlege, wie ich meinen Abschied von Russland in würdige Worte kleide. Im August zweitausendfünfzehn bin ich mit drei Gepäckstücken hier angekommen. Knapp fünf Jahre später reise ich mit sechs Gepäckstücken, Frau und Kind zurück. Ist das nicht ein schöner Vergleich?
Nach der Landung auf dem Flughafen Domodedovo schalte ich mein Handy an und lese eine SMS von Aeroflot, dass der für morgen geplante letzte Flug nach Berlin gestrichen wurde. Es ist also genau das eingetreten, wovor das deutsche Konsulat gewarnt hat. Flugverbindungen in diesen Zeiten sind unberechenbar.
Der auf angenehme Art gesprächige Taxifahrer, der uns in ein kleines Hotel bringt, hat keine Maske, aber ein ozonabsonderndes Gerät in seinem Nissan installiert. Das helfe am besten, meint er, und im Übrigen sollen wir nicht panisch werden, es gehe alles bald vorüber. Unterwegs lese ich eine SMS aus Ulan-Ude von Mischa, dem ich meinen Lada Niva überlassen habe und der uns mit ihm zum Flughafen gebracht hatte. Das Auto sei mit Motorschaden liegengeblieben. Zum Glück erst auf dem Rückweg zu ihm nachhause.
„Der Niva ist beleidigt wegen meiner vorgezogenen Abreise“, antworte ich. „Aber keine Sorge, er sieht mich wohl bald wieder.“
Nach einer Nacht im Hotel siedeln wir in die leerstehende Wohnung von meinen Bekannten Anton und Julia über, die mit ihren zwei Kindern auf die Datsche geflüchtet sind, um dort die Corona-Ausgangssperre abzuwarten. Elfte Etage eines Hochhauses mit Blick auf ein Meer weiterer Hochhäuser, schicke zwei Zimmer mit Aquarium, E-Piano, Kinder-Kletterecke und hunderten Büchern, dafür kein Fernseher. Anton und Julia lieben die Annehmlichkeiten des Lebens und westeuropäische Kultur, reisen am liebsten nach Spanien, Italien und Kroatien und schütteln den Kopf über mein Herumreisen in den postsowjetischen Ländereien.
Flüge nach Deutschland sind nicht ausfindig zu machen, weder im Internet noch bei persönlicher Nachfrage am Aeroflot-Schalter im Flughafen.
Der deutsche Staat organisiert Rückholaktionen für seine Landsleute aus dutzenden Ländern der Welt. Russland ist nicht dabei. Die Viruskrise hier ist noch weniger heftig als anderswo, es gibt nur etwa zehntausend Infizierte.
Ich bekomme Emails mit abenteuerlichen Tipps, wie vielleicht die Ausreise aus Russland auf dem Landweg über Estland oder Finnland möglich wäre. Ein Stück Taxi, ein Stück zu Fuß, weiter über Madrid und dann eventuell nach Deutschland.
Abwechselnd mit Niso und mir sitzt die kleine Maja vor dem Computer und löst in einem Internet-Lernportal die Aufgaben, die ihre Klassenlehrerin aufgibt. Wir haben von unserer geplanten Übersiedlung noch nichts mitgeteilt, die strenge Soja Dolgorowna wundert sich nur, dass unsere Lösungen jeden Tag erst so spät eintreffen. Sie weiß nicht, dass zwischen ihr und uns fünf Stunden Zeitunterschied liegen und wir in Moskau sind. Muss sie auch nicht wissen. Denn nach kurzem Hin- und Herüberlegen entscheiden wir uns für die Rückkehr an den Baikalsee.
Riesige Digitalanzeigen an den Moskauer Schnellstraßen fordern die Menschen auf, zuhause zu bleiben und regelmäßig Hände zu waschen. Ansagen im Flughafen erinnern an den Abstand von anderthalb Metern zu den Mitmenschen. Vor den Abfluggates sitzen Gruppen von chinesischen Reisenden im weißen Einweg-Ganzkörperschutzanzug. Trotzdem quetschen sich die Fluggäste wie üblich dicht an dicht in den Zubringerbus, und auch das Flugzeug ist so voll, dass von Sicherheitsabstand beim Ein- und Aussteigen keine Rede sein kann.
In der Ankunftshalle im Flughafen Ulan-Ude sitzen an Tischen schutzbekleidete Ärzte und händigen allen Ankömmlingen ein Schreiben zur Kenntnisnahme und Unterschrift aus. Jeder, der aus Moskau kommt, ist zur vierzehntägigen Selbstisolation zu Hause verpflichtet. Man fürchtet, sich über die sechzig bereits registrierten Fälle hinaus noch mehr Coronavirus aus der Hauptstadt einzuschleppen. Sogar der Besuch von Geschäften, Apotheken und das Nutzen öffentlicher Verkehrsmittel ist verboten. Zweimal täglich Fiebermessen und das Ergebnis schriftlich festhalten, jeden Tag den eigenen Gesundheitszustand telefonisch durchgeben. Wohin, bleibt unklar. Vielleicht ist dieser Punkt nicht ganz ernstzunehmen.
Allen wird am Ausgang die Infrarotkamera ins Gesicht gehalten. Mir als Ausländer lässt man weitere Aufmerksamkeit zukommen, obwohl ich schon Ende Januar nach Russland eingereist bin, als es in Deutschland noch keine Corona-Fälle gab. Man bittet mich in den Raum der Chefärztin und reicht ein Quecksilberthermometer.
Die Vermieterin hat tatsächlich Humor und gibt uns den Schlüssel zurück. Nun sitzen wir wieder in unserer Wohnung in der Frunse-Straße, als wäre nichts gewesen. Geschirr, Bettwäsche und Kühlschrank, alles noch da. Vor genau einer Woche startete unser Umzugsversuch. Die Generalprobe sozusagen. Wenn sie schlecht läuft, wird die Aufführung bekanntlich gut.

Abschied von Katja und Nikolai, den Schwiegereltern auf dem Dorf


Schule findet russlandweit online statt (oben). Aufforderung zum Abstandhalten auf dem Flughafen (unten)
 
Blick aus dem Fenster der Moskauer Wohnung (oben)

Abgesperrte, leere Spielplätze (oben) und Desinfektion der Straßen in Moskau (unten)