Montag, 20. April 2020

Selbstisolation


Seit der Rückkehr aus Moskau vor zehn Tagen sind wir fast nur zuhause. Alle, die aus der Hauptstadt ankommen – fast jeden Tag ein Flugzeug – stehen unter besonderer medizinischer Beobachtung. Jeden Tag bekommen Niso und ich je einen Anruf aus der Poliklinik mit der Frage nach unserem Wohlbefinden und der Erinnerung, die Regeln der Selbstisolation einzuhalten. Unangemeldet kam eine Ärztin vorbei und untersuchte uns auf Coronavirus-Symptome. Eine zweite Ärztin nahm gestern Abstriche aus Mund und Nase: der Corona-Test, welcher seit Neuestem gleich in Ulan-Ude ausgewertet wird. Im Falle eines positiven Ergebnisses bekommen wir heute Bescheid.
Uns geht es gut. Jeden Tag schickt Soja Dolgorovna, Majas Klassenlehrerin, per Viber Aufgaben, die alle Schüler bis zum Mittag erledigen sollen: online auf der Seite der Rossijskaja Elektronnaja Schkola oder per Hand ins Heft zu schreibende Übungen aus dem Lehrbuch, von denen dann ein Foto an die Klassenlehrerin zurückgeschickt wird. Ich hatte mit einer Studentengruppe den ersten Online-Gruppenunterricht per Zoom. Nachmittags arbeite ich mich auf unserem sich mehr und mehr verstimmenden Klavier Takt für Takt durch die beiden einfachsten Beethoven-Klaviersonaten (op. 49) und übe eine halbe Stunde mit Maja. Der Klavierstimmer weigert sich zu kommen und verweist auf die bis Ende April geltenden Bestimmungen der Selbstisolation. Natürlich hat er recht, ein alter Mann, Risikogruppe.
Maja ist viel ausgeglichener und folgsamer als zu Zeiten des normalen Schulbetriebs. Sie spielt selbstversunken mit dem Puppenhaus aus Karton, produziert geduldig eine Seifenblase nach der anderen auf ihrer Hand, sortiert unsere dreißig Bände der Großen Sowjetischen Enzyklopädie, fordert uns zum Einkaufen in ihrem Geschäft oder zum Kuhhandel-Spielen auf und geht nach draußen: mit mir eine kleine Runde an der Kirche joggen oder mit Niso auf dem gespenstisch kinderleeren Spielplatz herumspringen. Jeden Tag wäscht sie das Geschirr und räumt manchmal noch die Wohnung auf, um uns eine Freude zu machen. Abends spielt das neunjährige Mädchen mit großer Ausdauer in Wohn- und Schlafzimmer Verstecken und empfindet ein endloses Vergnügen daran, von uns gesucht zu werden, obwohl wir längst wissen, wo sie steckt und sie auch weiß, dass wir das wissen. Ich lese meiner Frau aus dem „Schrecklichen Jahrhundert“ vor, eine fast achthundert engbedruckte Seiten dicke Geschichte des bekannten burjatischen Schriftstellers Isai Kalaschnikov über das Leben und Wirken von Dschinghis Khan, und finde es dabei äußerst merkwürdig, dass Maja der komplizierten Erwachsenenlektüre mit Interesse zuhört, ohne sich zu langweilen. Manchmal schauen wir eine Astrid-Lindgren-Verfilmung auf Deutsch. Meine beiden Damen kennen die Handlung aus den Büchern in russischer Übersetzung und können folgen, auch ohne alles Gesprochene zu verstehen.
Seit wenigen Tagen sind in Ulan-Ude auch Bau- und Gartenmärkte wieder geöffnet, damit die Leute alles Nötige zur Eröffnung der Datschen-Saison besorgen können. Einhundertfünfzehn Corona-Fälle sind in Burjatien registriert. Nachdem es an einem Tag mehr Gesundgeschriebene als COVID-19-Neuinfektionen gab, zog das Oberhaupt der Republik die vorsichtige Schlussfolgerung, die Situation sei unter Kontrolle.