Irgendwo in einer einsamen Hütte im sibirischen
Winter sitzt ein Deutscher. Er hat kein Auto, kein Internet, kein Telefon und
zehn Tage Zeit. Zeit, um zu meditieren und zu lesen, Zeit, um der Weltwahrheit
auf den Grund zu gehen. Aus dem Fenster fällt sein Blick auf eine geschlossene
Schneedecke mit Wildspuren und höchstens noch den Abdrücken seiner eigenen
Füße. Ein alter Holzzaun, dünne Birken und eine Bergkulisse. Zwei Öfen in der
Hütte müssen täglich geheizt werden, ein großer, weiß gekalkter Ziegelofen und
ein kleiner Metallofen. Draußen absolute Stille, tagsüber minus zwanzig und
nachts minus dreißig Grad.
Der Deutsche heißt Simon, ist Bio-Landwirt und
wurde in der letzten Woche von mir zum Ort seines selbstgewählten Einsiedlerdaseins
gebracht. Die Hütte befindet sich einige Kilometer vom burjatischen Dorf Uljun
entfernt im Bargusin-Tal nordöstlich des Baikalsees. Um ehrlich zu sein, muss
gesagt werden, dass die Einsiedelei keine ganz perfekte ist. Das Dorf ist in
Fußreichweite. Wer die Ohren spitzt, kann mitunter das ganz ferne Geräusch
einer Motorsäge erahnen. Sogar gibt es, welch Luxus, einen Stromanschluss, und
– oh Wunder – Handyempfang. Aber Simon hat seine deutsche SIM-Karte deaktiviert
und eine russische gar nicht erst gekauft.
„Auf diese Art der Absicherung habe ich keine
Lust“, sagt er.
„Schau mal, ein fantastisches Bergpanorama“, sage
ich. Der Lada Niva ist dicht vor dem Hütteneingang geparkt, um notfalls ein
Stromkabel zum eingefrorenen Motor spannen zu können.
Mein Freund schaut mich an, als hätte ich etwas
ganz Unlogisches gesagt, und blickt nach unten.
„Es ist so kalt, dass der Schnee nicht einmal an
den Schuhen haften bleibt!“
Simon ist kein Landschaftsästhet, er würde niemals
irgendwo hinfahren, um schöne Aussichten zu betrachten. Eigentlich ist er auch
nicht nur Bio-Landwirt, sondern Weltverbesserer. Der stämmige
Einundvierzigjährige hat die Gemeinschaft einer Solidarischen Landwirtschaft begründet, die an fünfzig
Ausgabestellen zwischen Berlin und Leipzig fünfhundert Haushalte mit Obst und
Gemüse beliefert, so produziert, wie sich Simon die Zukunft der Landwirtschaft
vorstellt: gut für die Erde und gesund für den Menschen. Dafür will er in ganz
Ostdeutschland Flächen aufkaufen und Apfelbäume aussäen, um das Land vor der
Zerstörung durch die intensive konventionelle Landwirtschaft zu retten. Alte
Apfelsorten sollen wiederbelebt und die Solidarische
Landwirtschaft so groß wie möglich gemacht werden, damit niemand mehr in
Supermärkten einkauft und die Menschen wieder einen Bezug zur Herkunft ihrer
Lebensmittel bekommen. Und der Landwirtschaftliche
Kurs, eine Vortragsreihe des Anthroposophie-Begründers Rudolf Steiner,
sollte unter Landwirten Verbreitung finden.
„Rudolf Steiner gibt Antworten auf die großen
Fragen unserer Zeit“, sagt Simon.
Weit und breit ist kein Papier zu finden, und ich
bin ein wenig stolz darauf, meinem mir in allen praktischen Fragen sonst so
überlegenen Freund zeigen zu können, wie man mit dünner Birkenrinde im Ofen ein
Feuer entfacht. Eine Weile später steht Simon an dem kleinen Metallofen und
rührt mit einem Holzquirl in einer gusseisernen Pfanne Pinienkerne, die sich
appetitlich braun verfärben und einen leckeren Geruch verströmen. Wer zu
Erkenntnis gelangen will, muss die eigenen Lebensgewohnheiten verwandelt, meint
er und erlaubt sich nur eine Mahlzeit am Tag, kein Fleisch, keine
Milchprodukte, kein Tee, kein Kaffee, zwischen den Phasen der geistigen Arbeit
körperliche Aktivität: mit einem Eimer Wasser aus einem Loch des vereisten
Bächleins schöpfen, Holz hacken oder die Außentoilette aufsuchen. Im Sommer
eine erbärmlich stinkende Angelegenheit, jetzt im Winter gefriert die Scheiße
in Minutenschnelle zu einer geruchlosen festen Masse.
„Es tut weh, zu sehen, dass die Leute hier nicht
wissen, was ein Kompostklo ist“, erklärt er mir. „Statt Müll zu hinterlassen,
könnte man bei jedem Toilettengang Sägespäne streuen. Dann hätte man einen
guten Dünger, und im Sommer würde es auch nicht riechen.“
Die Hütte ist innen so geräumig, dass eine ganze
Gruppe Platz finden könnte, die dicken Rundbalken sind innen mit neuen hellen
Brettern verkleidet und haben auch außen eine Wagonka genannte zusätzliche Bretterisolierung. Für uns hat man
vorbildlich aufgeräumt und sogar vorgeheizt, schließlich hat Simon für seine
zehn Tage umgerechnet vierhundert Euro bezahlt, im Verhältnis zu den
ortsüblichen Löhnen eine stolze Summe. Aus einer Ecke fördere ich einen
mongolischen Teeziegel aus gepresstem
Grüntee zutage, brühe mir einen Becher des koffeinhaltigen Getränks und komme
mir vor wie der reinste Genuss- und Lebemensch.
„Ich dachte, das wäre ein Feueranzünder“, sagt
Simon mit Blick auf den Teeziegel und nippt an seinem Weidenröschen-Aufguss.
Nach der Landung in Ulan-Ude hatte er sich auf dem zentralen Markt ausgestattet
mit Kräutertees, Granatäpfeln, Nüssen, Äpfeln, Haferflocken und Buchweizen für
das bevorstehende Alleinsein. Dazu als Beigabe jeden Tag ein Löffel Heilerde,
Flohsamen und Schwefelpulver, aus Deutschland mitgebracht. Ein Besuch des
Lebensmittelgeschäftes in Uljun ist nicht geplant.
Abends liest mir mein Freund ein wenig Rudolf
Steiner vor und Aristoteles; auf dem Tisch liegen noch das Neue Testament und
Bücher der Holländerin Mike Moosmueller. Ein wenig beneide ich ihn ja und hätte
auch gern zehn Tage zum Lesen und Nachdenken, wenn auch gern mit Kaffee und
drei täglichen Mahlzeiten statt nur einer.
Nachts ein Sternenhimmel vom Feinsten. Am Morgen
ist der Motor wider Erwarten nicht eingefroren (das Kabel hätte ohnehin nicht
bis zur Steckdose gereicht); in der Reifenspur des Vortags rolle ich durch den
Schnee in die Zivilisation zurück, vorbei an den Resten eines alten
Mühlengebäudes und einer Kolchosen-Ruine ins Dorf, dann auf dem Bargusin-Trakt
nach Süden. Fünf Fahrstunden später warten Familie und Arbeit.
Irgendwo in einer einsamen Hütte im sibirischen
Winter sitzt seit zehn Tagen ein Deutscher. Keine Ahnung, wie es ihm geht.
Morgen werde ich ihn abholen.