Donnerstag, 27. Februar 2020

Einsamkeit und Erkenntnis


Irgendwo in einer einsamen Hütte im sibirischen Winter sitzt ein Deutscher. Er hat kein Auto, kein Internet, kein Telefon und zehn Tage Zeit. Zeit, um zu meditieren und zu lesen, Zeit, um der Weltwahrheit auf den Grund zu gehen. Aus dem Fenster fällt sein Blick auf eine geschlossene Schneedecke mit Wildspuren und höchstens noch den Abdrücken seiner eigenen Füße. Ein alter Holzzaun, dünne Birken und eine Bergkulisse. Zwei Öfen in der Hütte müssen täglich geheizt werden, ein großer, weiß gekalkter Ziegelofen und ein kleiner Metallofen. Draußen absolute Stille, tagsüber minus zwanzig und nachts minus dreißig Grad.
Der Deutsche heißt Simon, ist Bio-Landwirt und wurde in der letzten Woche von mir zum Ort seines selbstgewählten Einsiedlerdaseins gebracht. Die Hütte befindet sich einige Kilometer vom burjatischen Dorf Uljun entfernt im Bargusin-Tal nordöstlich des Baikalsees. Um ehrlich zu sein, muss gesagt werden, dass die Einsiedelei keine ganz perfekte ist. Das Dorf ist in Fußreichweite. Wer die Ohren spitzt, kann mitunter das ganz ferne Geräusch einer Motorsäge erahnen. Sogar gibt es, welch Luxus, einen Stromanschluss, und – oh Wunder – Handyempfang. Aber Simon hat seine deutsche SIM-Karte deaktiviert und eine russische gar nicht erst gekauft.
„Auf diese Art der Absicherung habe ich keine Lust“, sagt er.
„Schau mal, ein fantastisches Bergpanorama“, sage ich. Der Lada Niva ist dicht vor dem Hütteneingang geparkt, um notfalls ein Stromkabel zum eingefrorenen Motor spannen zu können.
Mein Freund schaut mich an, als hätte ich etwas ganz Unlogisches gesagt, und blickt nach unten.
„Es ist so kalt, dass der Schnee nicht einmal an den Schuhen haften bleibt!“
Simon ist kein Landschaftsästhet, er würde niemals irgendwo hinfahren, um schöne Aussichten zu betrachten. Eigentlich ist er auch nicht nur Bio-Landwirt, sondern Weltverbesserer. Der stämmige Einundvierzigjährige hat die Gemeinschaft einer Solidarischen Landwirtschaft begründet, die an fünfzig Ausgabestellen zwischen Berlin und Leipzig fünfhundert Haushalte mit Obst und Gemüse beliefert, so produziert, wie sich Simon die Zukunft der Landwirtschaft vorstellt: gut für die Erde und gesund für den Menschen. Dafür will er in ganz Ostdeutschland Flächen aufkaufen und Apfelbäume aussäen, um das Land vor der Zerstörung durch die intensive konventionelle Landwirtschaft zu retten. Alte Apfelsorten sollen wiederbelebt und die Solidarische Landwirtschaft so groß wie möglich gemacht werden, damit niemand mehr in Supermärkten einkauft und die Menschen wieder einen Bezug zur Herkunft ihrer Lebensmittel bekommen. Und der Landwirtschaftliche Kurs, eine Vortragsreihe des Anthroposophie-Begründers Rudolf Steiner, sollte unter Landwirten Verbreitung finden.
„Rudolf Steiner gibt Antworten auf die großen Fragen unserer Zeit“, sagt Simon.
Weit und breit ist kein Papier zu finden, und ich bin ein wenig stolz darauf, meinem mir in allen praktischen Fragen sonst so überlegenen Freund zeigen zu können, wie man mit dünner Birkenrinde im Ofen ein Feuer entfacht. Eine Weile später steht Simon an dem kleinen Metallofen und rührt mit einem Holzquirl in einer gusseisernen Pfanne Pinienkerne, die sich appetitlich braun verfärben und einen leckeren Geruch verströmen. Wer zu Erkenntnis gelangen will, muss die eigenen Lebensgewohnheiten verwandelt, meint er und erlaubt sich nur eine Mahlzeit am Tag, kein Fleisch, keine Milchprodukte, kein Tee, kein Kaffee, zwischen den Phasen der geistigen Arbeit körperliche Aktivität: mit einem Eimer Wasser aus einem Loch des vereisten Bächleins schöpfen, Holz hacken oder die Außentoilette aufsuchen. Im Sommer eine erbärmlich stinkende Angelegenheit, jetzt im Winter gefriert die Scheiße in Minutenschnelle zu einer geruchlosen festen Masse.
„Es tut weh, zu sehen, dass die Leute hier nicht wissen, was ein Kompostklo ist“, erklärt er mir. „Statt Müll zu hinterlassen, könnte man bei jedem Toilettengang Sägespäne streuen. Dann hätte man einen guten Dünger, und im Sommer würde es auch nicht riechen.“
Die Hütte ist innen so geräumig, dass eine ganze Gruppe Platz finden könnte, die dicken Rundbalken sind innen mit neuen hellen Brettern verkleidet und haben auch außen eine Wagonka genannte zusätzliche Bretterisolierung. Für uns hat man vorbildlich aufgeräumt und sogar vorgeheizt, schließlich hat Simon für seine zehn Tage umgerechnet vierhundert Euro bezahlt, im Verhältnis zu den ortsüblichen Löhnen eine stolze Summe. Aus einer Ecke fördere ich einen mongolischen Teeziegel aus gepresstem Grüntee zutage, brühe mir einen Becher des koffeinhaltigen Getränks und komme mir vor wie der reinste Genuss- und Lebemensch.
„Ich dachte, das wäre ein Feueranzünder“, sagt Simon mit Blick auf den Teeziegel und nippt an seinem Weidenröschen-Aufguss. Nach der Landung in Ulan-Ude hatte er sich auf dem zentralen Markt ausgestattet mit Kräutertees, Granatäpfeln, Nüssen, Äpfeln, Haferflocken und Buchweizen für das bevorstehende Alleinsein. Dazu als Beigabe jeden Tag ein Löffel Heilerde, Flohsamen und Schwefelpulver, aus Deutschland mitgebracht. Ein Besuch des Lebensmittelgeschäftes in Uljun ist nicht geplant.
Abends liest mir mein Freund ein wenig Rudolf Steiner vor und Aristoteles; auf dem Tisch liegen noch das Neue Testament und Bücher der Holländerin Mike Moosmueller. Ein wenig beneide ich ihn ja und hätte auch gern zehn Tage zum Lesen und Nachdenken, wenn auch gern mit Kaffee und drei täglichen Mahlzeiten statt nur einer.
Nachts ein Sternenhimmel vom Feinsten. Am Morgen ist der Motor wider Erwarten nicht eingefroren (das Kabel hätte ohnehin nicht bis zur Steckdose gereicht); in der Reifenspur des Vortags rolle ich durch den Schnee in die Zivilisation zurück, vorbei an den Resten eines alten Mühlengebäudes und einer Kolchosen-Ruine ins Dorf, dann auf dem Bargusin-Trakt nach Süden. Fünf Fahrstunden später warten Familie und Arbeit.
Irgendwo in einer einsamen Hütte im sibirischen Winter sitzt seit zehn Tagen ein Deutscher. Keine Ahnung, wie es ihm geht. Morgen werde ich ihn abholen.