Ich parke unseren Lada Niva meist so, dass er von
unseren zur Straße hinausgehenden Fenstern aus sichtbar ist. Daneben steht der
Toyota Landcruiser des Nachbarn. Sein schweres, auf die Kofferraumklappe
montiertes Ersatzrad ist gegen die dahinterstehende Ulme gepresst. Warum er
denn schon wieder den Baum küsse, möchte ich von Anatolij wissen, ob es
Probleme beim Einparken gäbe? „Das mache ich mit Absicht, damit es niemand
klaut“, erklärt er mir, „schon zweimal ist das Reserverad nachts einfach
verschwunden!“ Zum Glück ist meines unter der Motorhaube, so dass ich es nicht gegen Bäume drücken muss.
Wir wohnen in der zweiten Etage – nach russischer
Zählung in der ersten – einer Chruschtschowka,
eines fünfstöckigen, unverputzten Ziegelbaues aus den sechziger Jahren. Dieser
Gebäudetyp, den es auch in Plattenausführung gibt, ist in ganz Russland sehr
weit verbreitet. Die vielen kleinen Wohnungen der Chruschtschowkas lösten damals das Problem des Mangels an
Unterkünften und stehen in großem Kontrast zu den mächtigen, geräumigen
Neubauten aus der vorangegangenen Stalinzeit. Unsere stählerne Eingangstür ist
wie überall mit einem Elektromagneten verschlossen. Hält man einen kleinen magnetischen
Chip an ein dafür vorgesehenes Feld, wird dieser, von einem Piepton begleitet,
für einige Sekunden deaktiviert. Wenn der Strom ausfällt, was einige Male im
Jahr vorkommt, ist auch der Magnet außer Betrieb.
Die meisten der blauen Briefkästen auf halber
Treppe zwischen Erdgeschoss und erster Etage sind nicht abschließbar und stehen
halb offen. Wichtige Schreiben werden hier nicht eingeworfen. Manchmal findet
sich zwischen den Werbeflyern ein kleiner Zettel, der über ein auf der Post
bereitliegendes Einschreiben informiert wie zum Beispiel ein Brief von der
Steuerbehörde über die für das Jahr 2018 zu entrichtende Kfz-Steuer: in meinem
Falle 675 Rubel, umgerechnet etwa neun Euro.
Weder an Eingangstür noch an Briefkästen oder
Wohnungen erfährt man Familiennamen, es gibt nur Nummern. Anonymität ist
angesagt, grußlos aneinander vorbeigehen im Treppenhaus der Normalfall. In
meinem inzwischen fünften Jahr hier gibt es einige Ausnahmen: ich kenne den
jagenden Rentner Anatolij, plaudere mit der früher als Deutschlehrerin
arbeitenden Svetlana und grüße die regelmäßig zu Verwandten nach Deutschland
reisende Ljudmila mit ihrem kleinen weißen Hund, den Maja gern streichelt. Der
etwas schwerhörige Nachbar Robert hilft bei kleinen Reparaturen im Bad oder an
der Elektrik. Bisher hat sich noch niemand über unser Musizieren beschwert,
obwohl die Chruschtschowkas recht
hellhörig sind. Um keine Klagen zu provozieren, übe ich mit Maja nie später als
bis acht Uhr abends.
Auf einer Metalltafel rechts neben dem Hauseingang
hängen Werbezettel oder Informationsschreiben. Zurzeit informiert ein gelber
Zettel darüber, dass in fünf Tagen, am Fünfzehnten, die Heizsaison beginnt und die Bewohner der
oberen Etagen sorgfältig die Lüftungsventile an den Heizkörpern schließen sollen.
Eine weitere Liste verkündet gnadenlos die Schulden bei der Errichtung der kommunalen
Nebenkosten, also Heizung, Strom und Wasser, sowie die bereits angefallenen
Strafen: Wohnung 48 – 30745,76 Rubel und 16447,40 Rubel Strafe, das sind
zusammen zwei durchschnittliche Monatsgehälter. Wohnung 46, also die unsere,
taucht nicht auf, da meine Vermieterin sich von mir monatlich die Zählerstände
mitteilen lässt und immer pünktlich zahlt. Die hohen Stromkosten in Burjatien
sind ein immer wiederkehrendes Thema in der Bevölkerung und Grund zur Klage.
Für eine Kilowattstunde fallen 2,83 Kopeken an, umgerechnet vier Cent – mehr
als doppelt so teuer wie im benachbarten Irkutsker Gebiet. Die Möglichkeit,
verschiedene Stromanbieter zu wählen und entsprechende Preisunterschiede gibt
es nicht.
Ein buntes Plakat mit einem freundlich und gefasst
dreinblickenden Mann im weißen kurzärmeligen Poloshirt wirbt für Igor
Shutenkov, den Kandidaten für das Amt des Bürgermeisters. „Geben wir die Stadt
den Menschen zurück!“, lautet sein Motto. Shutenkov wird von der herrschenden
Partei „Einiges Russland“ unterstützt und hat schon seit einem Jahr das Amt des
Bürgermeisters vertretungsweise inne, ist also die im bisherigen Machtgefüge dafür
vorgesehene Person, tritt aber als
unabhängiger Kandidat an, da sich bei der Bevölkerung „Einiges Russland“
zurzeit nicht der besten Beliebtheit erfreut. Am Sonntag habe ich meinen
Bekannten Maxim zu den Wahlen begleitet und nichts festgestellt, was einem
westlichen Demokratenauge verdächtig erscheinen könnte: Wahlbeobachter aller
Parteien, eine automatische elektronische Auszählung der Stimmen sofort nach
der Abgabe der Stimmzettel und ein Informationsplakat mit Angaben zu allen
sechs Kandidaten. Einschließlich der Anzahl ihrer Autos, Grundstücke und Konten
mit Kontostand in Rubeln. Auf dem Weg zur Arbeit auf dem Sowjetplatz dann am
nächsten Tag sehe ich, wie sollte es anders sein, den von einer Menschenmenge
umringten Kandidaten der kommunistischen Partei, der als Zweitplatzierter
hinter Shutenkov verloren hat und die Annullierung des Ergebnisses fordert. Die
Wahlen seien schmutzig und unfair gewesen, sagt er. Ein paar Polizeiwagen und
Polizisten stehen in der Nähe, jagen die unangemeldete Kundgebung jedoch
vorerst nicht auseinander. Vielleicht hat der Kommunist ja recht. Sicher war
die Kampagne nicht fair, da die Medien auf der Seite Shutenkovs standen, und
bestimmt hat sich mancher ein paar hundert Rubel verdient, dem gesagt wurde, wo
er sein Häkchen setzen soll (man kreuzt nicht an, sondern setzt Häkchen). Es
ist so typisch russisch: nach vielen Wahlen gibt es irgendein Theater dieser
Art. Ein geordneter, transparenter politischer Wettbewerb hat keine Tradition.
Niso möchte Ende des Monats einen weiteren Versuch
unternehmen, die Führerscheinprüfung zu bestehen. Es ist gar nicht so einfach,
einen Termin beim Fahrlehrer zu bekommen: mal ist dieser mit anderen Schülern
überlastet oder aufs Dorf zur Kartoffellese gefahren und hat den anvisierten
Termin leider vergessen, mal ist das Fahrschulauto kaputt oder es heißt, es sei
„kein Benzin da“, sprich: die Fahrschule hat zum Tanken gerade kein Geld. Manchmal
fahre ich mit Frau und Kind zum Fahren üben auf die Bogorodskij-Insel, einer
grasbewachsenen, freien Niederung unweit des Stadtzentrums. Während Maja auf
dem Spielplatz vor der Datschensiedlung turnt, praktiziert Niso „Anfahren am
Berg“.
Nach dem Ablaufen meines alten und dem Erhalt des
neuen Jahresvisums wurde es erforderlich, die Registrierung meines Autos zu
verlängern. Um fünf Uhr morgens bin ich zur Stelle, um einen Platz in der
Registrierungsschlange zu bekommen. Auf dem an der Tür hängenden Zettel
schreibe ich meinen Namen an sechzehnte Stelle: die Warteliste ist schon am
Vortag begonnen worden. Wie üblich ist die Schlange unsichtbar und
materialisiert sich erst kurz vor Öffnung der Schalter um halb Neun. Fröstelnd
treten die Leute von einem Bein auf das andere, vergewissern sich aufgeregt über
ihren Wartelistenplatz, erörtern das weitere geplante Vorgehen – als ob gerade
gestern der Vorgang „Auto anmelden“ erfunden wurde – und diskutieren, ob es rechtmäßig sei, sich
schon am Abend einen Platz für den nächsten Tag zu sichern. „Wie Anstehen um
Lebensmittel zu Sowjetzeiten“, witzeln einige.
Mein fünftes und letztes russisches Jahresvisum im
Pass erlaubt mir den Aufenthalt bis September 2020. Länger wird auch nicht
nötig sein. Die kommende Heizsaison ist vorerst meine letzte. Ich freue ich auf
den bevorstehenden Winter, auf weißen Schnee und klares Baikaleis, auf
strahlende Sonne, blauen Himmel und knackige Fröste, bevor es im Sommer zurück in meine
deutsche Heimat geht, die für Niso und Maja erst noch Heimat werden muss.
Übersiedlung mit Frau und Kind, ein großes und aufregendes Projekt!