Donnerstag, 28. Februar 2019

Auf Besuch in Burjatien

Als wir Mitte Januar aus Deutschland zurückkamen, hatte Maja schon eine Woche Schule verpassst – theoretisch. Praktisch waren die Schulen in der ganzen Stadt auf Anordnung des Gesundheitsministeriums geschlossen wegen einer grassierenden Virusinfektion, auch in der Musikschule fiel der Unterricht aus. Ende Januar war dann der erste Schultag im neuen Jahr. Maja kam nach Hause und tobte eine Stunde lang herum, wir sollten ihr unverzüglich ein Smartphone kaufen; sie ist wohl eine der wenigen in der Klasse, die nur ein einfaches Knopftelefon hat. Zweite Klasse, und alle Kinder laufen schon mit Smartphone herum, ob das in Deutschland auch so ist? Am liebsten hätte ich noch ein zweites Kind in einer deutschen Schule, um vergleichen zu können. Werden in Deutschland auch für vierzehn Tage die Bildungseinrichtungen geschlossen aus Quarantänegründen? Ich kann mich nicht erinnern. Am Morgen des nächsten Tages wachte Maja mit Fieber auf und lag drei Tage krank im Bett. Ich konnte meine Frau überreden, mit dem Rufen des Notarztes zu warten, bis die Temperatur auf über 39 Grad angestiegen war; der Notarzt diagnostizierte eine Akute Virale Atemwegsinfektion und verschrieb virenhemmend wirkende Tabletten. Ein wenig skeptisch wurde ich, als ich herausfand, dass die Wirkstoffe in Westeuropa nicht zugelassen sind und es in Deutschland nicht üblich ist, gegen Viren Tabletten zu schlucken. Ich glaube, in Russland ist man sehr schnell mit dem Griff zu Medikamenten, und schon bei geringem Fieber brechen die Leute in Panik aus. In der Apotheke gibt es alles Mögliche rezeptfrei.
Der erste Schultag für Maja hat also nicht so viel gebracht – hätten wir doch lieber noch eine Woche Urlaub gemacht!
Inzwischen ist die Kleine längst wieder gesund und unser Alltag eingezogen: ab dreizehn Uhr Schule, vormittags Musikschule. Anlässlich des Tages des Vaterlandsverteidigers am 23. Februar, dem russischen Männertag, gab es einen kleinen Auftritt mit dem Kinderchor: „Unsere Heimat ist stark“, sangen die Kinder, „es gibt Panzerfahrer/ Matrosen/ Artilleristen/ gute Schützen/ Raketen und Schiffe / Unsere Kosmonauten sind das Wunder der ganzen Erde / unsere Heimat ist stark und beschützt den Frieden!“ Patriotische Heimatlieder habe ich in meiner Pionierzeit auch gesungen. „Unsre Heimat / das sind nicht nur die Städte und Dörfer…“ oder „Wie unser kleiner Trompeter / ein lustiges Rotgardistenblut“.
Ein eigenes Smartphone finde ich für ein 8-jähriges Kind zu früh, dafür habe ich Maja eine Digitalkamera gegeben. Die Lehrer schreiben kurz vor Stundenende die Hausaufgaben an die Tafel und geben keine Zeit zum Abschreiben: alle zücken ihr Handy, klick, fertig.
Abends, nachdem die Kleine vorgelesen bekommen hat und schläft, lesen meine Frau und ich zusammen auf Russisch Tolstojs Anna Karenina, einer meiner Lieblingsromane. Ich lese das Buch schon zum vierten Mal. Das letzte Mal war vor etwa acht Jahren während meiner Studentenzeit; inzwischen bin ich älter als Wronskij, Lewin und Oblonskij und habe ganz andere Gedanken zu ihnen.

Gerade haben wir Besuch aus der Heimat. Es kommt nicht so oft vor, dass sich jemand auf den Weg macht, um mich hinter dem Baikalsee zu besuchen. Mein Freund Simon ist mit seinem 11-jährigen Sohn Aeneas hier, der sich freut, mal einen richtigen Winter zu erleben und mit Maja auf den drei Meter hohen, sokúj genannten Eis- und Schneeauftürmungen herumrennt, die sich am Ufer des zugefrorenenen Sees gebildet haben, ein jedes Jahr wiederkehrendes Naturschauspiel. Mit dem Auto fahren wir bei Posolsk, wo ein orthodoxes Kloster direkt am Ufer steht, ein paar Meter auf das Eis hinaus, an einer Stelle, wo in die sokuj eine Art Durchbruch angelegt wurde und dahinter eine glatte Fläche, an deren Rand ein aus Eisziegeln gebautes Kreuz steht und in der Mitte die wieder gefrorenen Reste eines Loches sichtbar sind, in dem gebadet wurde – das traditionelle Eisbaden zum 19. Januar, ein an die Taufe Jesu erinnerndes Fest kreschtschenie.
Mit Simon zusammen habe ich ein Semester anthroposophische Theologie in Stuttgart studiert in einer Phase des intensiven Suchens und Ausprobierens nach dem Ende meines Zivildienstes in Leipzig. Der solidarische Landwirtschaft betreibende Bauer setzt sich bei uns zuhause ans Klavier und spielt Schubert, feingeistiger Kulturmensch und praktischer Arbeiter fallen in ihm auf interessante Weise zusammen. „Als ich die Gesichter der russischen Reisenden im Flugzeug studiert habe“, sagt Simon, „ist mir klargeworden, dass Europa ohne Russland nicht gehen wird. Man kann dieses Land nicht ignorieren oder ausgrenzen!“
Aeneas und Maja spielen Halli Galli und beschäftigen sich mit einer aus Holzleim und Rasiercreme selbst hergestellten schleimigen Masse, eine Art Kaugumme für die Hände; keine gemeinsame Sprache ist für Kinder ja zum Glück kein Problem. Mit Simon habe ich etwas, das mir sonst hier mitunter fehlt: lange Gespräche auf Deutsch. „Du hast dir wohl die Fremde gesucht, um die Bedeutung deiner Fähigkeiten besser zu spüren“, meint er, „dir wird hier eine bestimmte Achtung entgegengebracht, die du so in Deutschland nicht bekommst.“
Ende Februar gab es einen Wetterumschwung in Burjatien, seitdem sind es am Tage nur noch wenige Grad unter Null, die Sonne scheint und das Zwitschern der Vögel mancherorts lässt eine fast schon frühlingshafte Stimmung aufkommen – sehr ungewöhnlich für diese Zeit im Jahr. Gleichzeitig liegt ungewöhnlich wenig Schnee. Der Spätwinter ist touristische Hochsaison auf dem Baikalsee: die Zeit der Eiswanderungen. Damit meine Studenten besser verstehen, warum sie eigentlich Deutsch lernen, habe ich eine Reiseveranstalterin in die Uni eingeladen, damit sie den jungen Leuten etwas über das Touristengeschäft erzählt. „Es gibt einen großen Mangel an deutschsprachigen Reiseleitern in Burjatien“, sagt die junge Frau, „Moskauer Veranstalter schicken die deutschen Touristengruppen oft nur bis Irkutsk, weil es hier in Burjatien niemanden gibt, der sich in ihrer Sprache um die Besucher kümmert.“ Ich muss daran denken, wie schwierig es war, ein Hostel mit auch nur englischsprachigem Personal für meinen Vater zu finden. „Deutsche Touristen sind die dankbarsten überaupt, auch finanziell, das Trinkgeld übersteigt nicht selten das Einkommen, und auch das ist schon nicht schlecht, zwei- bis siebentausend Rubel am Tag!“ Die Studenten rollen mit den Augen, ich sehe einige schreiben. Vielleicht ist das ja mal ein Argument, das zieht für die Lernmotivation?

Wegen der zweiwöchigen Quarantäne im Januar werden die Frühlingsferien für Maja ausfallen. Da niemand längerfristig etwas plant, stört das auch keinen. Wann genau Schulferien sind, weiß sowieso niemand.Die Klassenlehrerin zuckt auf Anfrage mit den Schultern und verweist auf die noch nicht erfolgte Anweisung vom Direktor. Man erfährt es einige Tage im Voraus. Einzig das Ende der Sommerferien steht fest: diese dauern ungefähr von Ende Mai bis ganz genau zum letzten Augusttag. Darauf ist Verlass.