Als wir
Mitte Januar aus Deutschland zurückkamen, hatte Maja schon eine Woche Schule
verpassst – theoretisch. Praktisch waren die Schulen in der ganzen Stadt auf
Anordnung des Gesundheitsministeriums geschlossen wegen einer grassierenden
Virusinfektion, auch in der Musikschule fiel der Unterricht aus. Ende Januar
war dann der erste Schultag im neuen Jahr. Maja kam nach Hause und tobte eine
Stunde lang herum, wir sollten ihr unverzüglich ein Smartphone kaufen; sie ist
wohl eine der wenigen in der Klasse, die nur ein einfaches Knopftelefon hat.
Zweite Klasse, und alle Kinder laufen schon mit Smartphone herum, ob das in
Deutschland auch so ist? Am liebsten hätte ich noch ein zweites Kind in einer
deutschen Schule, um vergleichen zu können. Werden in Deutschland auch für
vierzehn Tage die Bildungseinrichtungen geschlossen aus Quarantänegründen? Ich
kann mich nicht erinnern. Am Morgen des nächsten Tages wachte Maja mit Fieber
auf und lag drei Tage krank im Bett. Ich konnte meine Frau überreden, mit dem
Rufen des Notarztes zu warten, bis die Temperatur auf über 39 Grad angestiegen
war; der Notarzt diagnostizierte eine Akute Virale Atemwegsinfektion und
verschrieb virenhemmend wirkende Tabletten. Ein wenig skeptisch wurde ich, als
ich herausfand, dass die Wirkstoffe in Westeuropa nicht zugelassen sind und es
in Deutschland nicht üblich ist, gegen Viren Tabletten zu schlucken. Ich
glaube, in Russland ist man sehr schnell mit dem Griff zu Medikamenten, und
schon bei geringem Fieber brechen die Leute in Panik aus. In der Apotheke gibt
es alles Mögliche rezeptfrei.
Der erste
Schultag für Maja hat also nicht so viel gebracht – hätten wir doch lieber noch
eine Woche Urlaub gemacht!
Inzwischen
ist die Kleine längst wieder gesund und unser Alltag eingezogen: ab dreizehn
Uhr Schule, vormittags Musikschule. Anlässlich des Tages des Vaterlandsverteidigers am 23. Februar, dem russischen
Männertag, gab es einen kleinen Auftritt mit dem Kinderchor: „Unsere Heimat ist
stark“, sangen die Kinder, „es gibt Panzerfahrer/ Matrosen/ Artilleristen/ gute
Schützen/ Raketen und Schiffe / Unsere Kosmonauten sind das Wunder der ganzen
Erde / unsere Heimat ist stark und beschützt den Frieden!“ Patriotische Heimatlieder
habe ich in meiner Pionierzeit auch gesungen. „Unsre Heimat / das sind nicht
nur die Städte und Dörfer…“ oder „Wie unser kleiner Trompeter / ein lustiges
Rotgardistenblut“.
Ein eigenes Smartphone
finde ich für ein 8-jähriges Kind zu früh, dafür habe ich Maja eine
Digitalkamera gegeben. Die Lehrer schreiben kurz vor Stundenende die
Hausaufgaben an die Tafel und geben keine Zeit zum Abschreiben: alle zücken ihr
Handy, klick, fertig.
Abends,
nachdem die Kleine vorgelesen bekommen hat und schläft, lesen meine Frau und
ich zusammen auf Russisch Tolstojs Anna
Karenina, einer meiner
Lieblingsromane. Ich lese das Buch schon zum vierten Mal. Das letzte Mal war
vor etwa acht Jahren während meiner Studentenzeit; inzwischen bin ich älter als
Wronskij, Lewin und Oblonskij und habe ganz andere Gedanken zu ihnen.
Gerade haben
wir Besuch aus der Heimat. Es kommt nicht so oft vor, dass sich jemand auf den
Weg macht, um mich hinter dem Baikalsee zu besuchen. Mein Freund Simon ist mit
seinem 11-jährigen Sohn Aeneas hier, der sich freut, mal einen richtigen Winter
zu erleben und mit Maja auf den drei Meter hohen, sokúj genannten Eis- und Schneeauftürmungen herumrennt, die sich am
Ufer des zugefrorenenen Sees gebildet haben, ein jedes Jahr wiederkehrendes
Naturschauspiel. Mit dem Auto fahren wir bei Posolsk, wo ein orthodoxes Kloster
direkt am Ufer steht, ein paar Meter auf das Eis hinaus, an einer Stelle, wo in
die sokuj eine Art Durchbruch
angelegt wurde und dahinter eine glatte Fläche, an deren Rand ein aus
Eisziegeln gebautes Kreuz steht und in der Mitte die wieder gefrorenen Reste
eines Loches sichtbar sind, in dem gebadet wurde – das traditionelle Eisbaden
zum 19. Januar, ein an die Taufe Jesu erinnerndes Fest kreschtschenie.
Mit Simon
zusammen habe ich ein Semester anthroposophische Theologie in Stuttgart
studiert in einer Phase des intensiven Suchens und Ausprobierens nach dem Ende
meines Zivildienstes in Leipzig. Der solidarische Landwirtschaft betreibende
Bauer setzt sich bei uns zuhause ans Klavier und spielt Schubert, feingeistiger
Kulturmensch und praktischer Arbeiter fallen in ihm auf interessante Weise
zusammen. „Als ich die Gesichter der russischen Reisenden im Flugzeug studiert
habe“, sagt Simon, „ist mir klargeworden, dass Europa ohne Russland nicht gehen
wird. Man kann dieses Land nicht ignorieren oder ausgrenzen!“
Aeneas und
Maja spielen Halli Galli und beschäftigen sich mit einer
aus Holzleim und Rasiercreme selbst hergestellten schleimigen Masse, eine Art
Kaugumme für die Hände; keine gemeinsame Sprache ist für Kinder ja zum Glück
kein Problem. Mit Simon habe ich etwas, das mir sonst hier mitunter fehlt:
lange Gespräche auf Deutsch. „Du hast dir wohl die Fremde gesucht, um die
Bedeutung deiner Fähigkeiten besser zu spüren“, meint er, „dir wird hier eine bestimmte
Achtung entgegengebracht, die du so in Deutschland nicht bekommst.“
Ende Februar
gab es einen Wetterumschwung in Burjatien, seitdem sind es am Tage nur noch
wenige Grad unter Null, die Sonne scheint und das Zwitschern der Vögel
mancherorts lässt eine fast schon frühlingshafte Stimmung aufkommen – sehr ungewöhnlich
für diese Zeit im Jahr. Gleichzeitig liegt ungewöhnlich wenig Schnee. Der
Spätwinter ist touristische Hochsaison auf dem Baikalsee: die Zeit der
Eiswanderungen. Damit meine Studenten besser verstehen, warum sie eigentlich
Deutsch lernen, habe ich eine Reiseveranstalterin in die Uni eingeladen, damit
sie den jungen Leuten etwas über das Touristengeschäft erzählt. „Es gibt einen
großen Mangel an deutschsprachigen Reiseleitern in Burjatien“, sagt die junge
Frau, „Moskauer Veranstalter schicken die deutschen Touristengruppen oft nur
bis Irkutsk, weil es hier in Burjatien niemanden gibt, der sich in ihrer Sprache
um die Besucher kümmert.“ Ich muss daran denken, wie schwierig es war, ein Hostel mit auch
nur englischsprachigem Personal für meinen Vater zu finden. „Deutsche Touristen
sind die dankbarsten überaupt, auch finanziell, das Trinkgeld übersteigt nicht
selten das Einkommen, und auch das ist schon nicht schlecht, zwei- bis
siebentausend Rubel am Tag!“ Die Studenten rollen mit den Augen, ich sehe
einige schreiben. Vielleicht ist das ja mal ein Argument, das zieht für die
Lernmotivation?
Wegen der
zweiwöchigen Quarantäne im Januar werden die Frühlingsferien für Maja
ausfallen. Da niemand längerfristig etwas plant, stört das auch keinen. Wann
genau Schulferien sind, weiß sowieso niemand.Die Klassenlehrerin zuckt auf Anfrage mit den Schultern und verweist auf die noch nicht erfolgte Anweisung vom Direktor. Man erfährt es einige Tage im
Voraus. Einzig das Ende der Sommerferien steht fest: diese dauern ungefähr von
Ende Mai bis ganz genau zum letzten Augusttag. Darauf ist Verlass.