Dienstag, 19. Februar 2019

Auf Besuch bei den Tieren im Walde


„Neben indifferenten, uninteressanten Menschen, die ja überall in der Welt dutzend- und hundertweise herumlaufen und dem lieben Gott die Luft verpesten, habe ich auf meinen sibirischen Reisen so manche markante Persönlichkeit kennengelernt.“
Egon Freiherr von Kapherr, „Drei Jahre in Sibirien als Jäger und Forscher“, 1919

Vor dem Hauseingang treffe ich Anatolij, unseren bulligen, breiten Nachbarn, der zwei Etagen weiter oben wohnt. Die Umgebung seines rechten Auges ist blau; mitten auf der Nase und über der Nasenwurzel hat er zwei rote Wunden, als hätte ihn jemand mit dem Messer ins Gesicht geschnitten. „Na, wann geht’s los?“, fragt er. Schon lange planen wir, dass er mich einmal auf die Jagd mitnimmt. Ich will den Grund für seinen verunstalteten Anblick wissen.
„Beim Zweikampf von einem jungen Kerl eins auf die Schnauze bekommen“, sagt Anatolij. „Ich war schließlich früher Box-Meister und dachte, sowas kann ich noch.“
Eigentlich sähe es eher aus wie eine Messerattacke und nicht wie ein Faustschlag, meine ich.
„Keine Ahnung“, antwortet er, „ich war besoffen. Also am Wochenende fahren wir? Benzingeld hast du?“
Benzin und Lebensmittel gingen auf meine Kosten, sage ich voller Vorfreude auf das Erlegen eines Braunbären, nicht wissend, dass diese im Winter ja schlafen.
„Es gibt zwei Möglichkeiten: wir können nachts Scheinwerferjagd machen oder tagsüber zu Fuß pirschen. Vom Scheinwerfer leuchten die Augen des Wildes in der Dunkelheit, das ist aber illegal, wenn sie uns erwischen, kommen wir in den Knast. Für die zweite Variante habe ich eine Lizenz.“ Ich entscheide mich für den letztgenannten Vorschlag.
In diesem Jahr ist es bis Mitte Februar in Burjatien ungewöhnlich kalt. Wochenlang steigt das Thermometer auch am Tag nicht auf über minus zwanzig Grad. Das Katastrophenschutzministerium schickt SMS-Nachrichten an die Bevölkerung und warnt vor Temperaturen von bis zu minus fünfzig im Norden der Republik. Am Tage vor unserer geplanten Abreise sehe ich aus dem Fenster, wie Anatolij an seinem Toyota Landcruiser herumwerkelt. Als ich zu ihm komme, drückt er mir einen kleinen Gasflammer in die Hand und bittet mich darum, bestimmte erfrorene Schläuche und vor Kälte weißlich angelaufene Metallteile im Motorraum mit der offenen Flamme zu erhitzen, damit der Wagen anspringt. Ich bin etwas unschlüssig und erkundige mich, wo genau sich eigentlich der Tank befände? Anatolij baut verschiedene Akkumulatoren ein und wieder aus, sprüht irgendeine Schnellstarter-Flüssigkeit in den Ventilator, kippt Anti-Gefrier-Gel in den Diesel und beratschlagt sich mit verschiedenen Nachbarn, die zufällig vorbeikommen. Nach einer Weile geben wir auf und rufen den Autoaufwärm-Service. Ein junger Mann positioniert eine benzinbetriebene Wärmekanone unter dem Motorraum und hängt den Wagen seitlich mit einer Plane zu; tausendzweihundert Rubel kostet die Dienstleistung, nach einer halben Stunde ein traktorartiges Röhren: der Vier-Liter-Hubraum-Koloss des Geländewagens springt an.
So kam es, dass ich zum ersten Mal im Leben in einer echten sibirischen Winterhütte übernachtete, mit einem Jäger auf Pirsch ging und ein paar Schüsse aus einer Feuerwaffe abgab.
Hundert Kilometer fahren wir zunächst durch ein steppenbedecktes, weites Tal nach Osten, um dann nach Norden in den Taigawald hinein abzubiegen, bis wir schließlich an einer Simovjó ankommen, wie die Hütten in Sibirien genannt werden, die meist im Winter von Jägern benutzt werden. Tritt man durch die niedrige Tür, geht es erst einmal einen halben Meter nach unten in die Erde hinein, die Wände bestehen aus übereinandergeschichteten Rundbalken von etwa fünfzehn bis zwanzig Zentimetern Durchmesser, die gerade Bretterdecke ist so niedrig, dass ich nicht stehen kann. Ein schräg darübergebautes offenes Dach ermöglicht es, dass der Schnee seitlich abrutschen kann. In einer Ecke des Raumes steht ein quaderförmiger Blechofen, um den herum Steine geschichtet sind; links und rechts eine Pritsche zum Schlafen, in der Mitte ein Tisch, an den Wänden Bretter als Ablage an zwei Seiten kleine, schmale Fensterchen. Zehn Kilometer bis zum nächsten Dorf, eigentlich kann man sagen, dass wir noch in der Zivilisation sind; kein Problem, wenn am Abfahrtstag das Auto nicht anspringen sollte, ein kleiner Fußmarsch ins Dorf, mehr nicht.
Anatolij bringt mir bei, wie man auf dem nahegelegenen Flüsschen Eis hackt zur Trinkwassergewinnung – Schnee zu schmelzen ist viel umständlicher, außerdem er enthält keine nützlichen Mineralstoffe wie das Eis – und lehrt mich das Entzünden eines Feuers ohne Zuhilfenahme von Papier, nur mit leicht entzündlichen Kiefernnadeln oder mit der Axt von einem harzigen Stamm abgeschabten Spänen. Zum Abendessen koche ich vor der Hütte Nudeln mit Dosenfleisch, während mein Nachbar sich innen um das Anheizen des Ofens kümmert; zum Frühstück, Mittagessen und Abendbrot des nächsten Tages wird es in Ermangelung eines selbsterlegten Hasen ebenfalls Nudeln mit Dosenfleisch geben, am Morgen des Abreisetages habe ich die Nase voll und beschließe Abwechslung: es gibt nur Nudeln. Ohne Dosenfleisch.
Die erste Nacht in der Hütte ist kühl, ich krieche tief in meinen Daunenschlafsack. Alle zwei Stunden steht jemand von uns auf und legt ein paar schon auf die richtige Länge zurechtgesägte Holzstücke in den Ofen nach. Die zweite Nacht wird deutlich gemütlicher, da Holz und Boden nun bereits durchwärmt sind. Kein Laut außer das Flackern und Knistern des Feuers, ich gehe nach draußen und blicke in Sterne und Mond, der sein fahles Licht durch die Kiefernwipfel auf die weiße Schneedecke wirft.
„Romantik, was?“, sagt Anatolij und lacht. Ich höre mir noch einmal seine Lebensgeschichte an: die älteste Tochter ist in Amerika und seine Ex-Frau gleich mit dort geblieben, er selbst hat auch einen Aufenthaltsstatus und könnte in den USA wohnen, will das aber nicht. Heimat ist unersetzbar. Hier in Burjatien kennt er, so scheint es, fast jeden, sicher hat das auch mit seiner früheren Arbeit als Chef der Gebietspolizei zu tun. Jetzt ist er Rentner, jagt, angelt, boxt mitunter oder versucht sein Auto zum Anspringen zu bringen. Zum Jagen hat er natürlich alle nötigen Lizenzen und den Waffenschein. „Fünf Jahre Freiheitsentzug, wenn dich jemand mit der Knarre hier erwischt“, sagt er, „aber keine Sorge, wir sind ja zusammen unterwegs.“
Nachdem ich am Vormittag Brennholz gesägt und gehackt habe, gibt mir Anatolij eine seiner beiden Jagdwaffen, ein doppelläufiges Gewehr vom Typ Bjelka (Eichhörnchen), 1964 in Izhewsk hergestellt, und stellt eine quadratische Holzplatte fünfzig Meter weiter an einen Baumstamm. Ein kurzes, trocken peitschendes Geräusch, das Fünfeinhalb-Millimeter-Geschoss schlägt fast in der Mitte ein Loch durch das anderthalb Zentimeter dicke Holz. Irgendwie hätte ich mir Schießen spektakulärer vorgestellt, lauter zumindest. Wie trägt man eigentlich so ein Teil beim Gehen? „Jäger tragen das Gewehr mit dem Lauf nach unten, Soldaten mit dem Lauf nach oben. Verdammt, hast du denn wirklich so wenig Ahnung?“ Ich erklärte, seine etwas derbe Sprache imitierend, dass ich kranken Leuten den Hintern abgewischt hätte, statt zur Armee zu gehen, was doch viel nützlicher gewesen sei. Anatolij knurrt verständnisvoll.
Mein Nachbar liest in der Taiga wie in einem Buch. Wo ich außer durchlöchertem Schnee nichts sehe, zeigt er mir Hasenpfade, auf denen später ein Zobel folgte, Reh- und Hirschspuren und solche, die von einem Wolf sein könnten. Als erstes lerne ich zu sehen, in welche Richtung das Tier ging, und wie man frische von alten Spuren unterscheiden kann; je härter der Schnee, desto älter. Leise vorwärtsstapfend begeben wir uns auf die Pirsch durch das ansteigende Tal nach oben, vorbei an Liegeplätzen des Wildes und immer wieder frischen Spuren, ich mit meiner Bjelka und Anatolij mit seinem viel wuchtigeren Selbstlader, aus dem er zehn Schuss hintereinander abfeuern könnte, ohne nachzuladen. Einige Male steckt mein Gefährte die beiden oben zusammengebundenen Stöcke, die er mitführt, in den Schnee, bringt das Gewehr darauf in Anschlag und schaut durch das Zielfernrohr. Nein, kein Hirsch, nur ein Baumstamm. Bis zum Einbruch der Dämmerung schleichen und lauschen wir, aber dabei wird es auch bleiben. Umsonst habe ich meine Frau gebeten, auf dem Balkon Platz für das Wildschwein zu machen!
„Du schenkst mir doch bestimmt eine deiner drei Taschenlampen“, meint Anatolij beim Aufbruch zurück, „ich brauche gerade eine!“ Ich erkläre ihm, dass es drei sehr verschiedene Modelle seien, eine von meinem Bruder, die zweite mit Elektroschock-Funktion zur Hundeabschreckung und die dritte mit Teleskopstab zum Ausziehen und ich auf keine verzichten möchte. „Man sagt, die Deutschen sind ein kleinliches Volk. Offensichtlich stimmt das!“ Er scheint aber nicht tiefgreifend beleidigt zu sein über das nicht bewilligte Geschenk. „Und, fährst du nochmal mit? Wenigstens ein paar Enten verspreche ich Dir das nächste Mal! Nicht böse, dass wir nichts erlegt haben?“ Ich schüttle den Kopf. Der Besuch bei den Tieren im Walde war auch ohne sie gesehen zu haben ein Erlebnis.

"Starke Fröste im Februar" - das Katastrophenschutzministerium warnt die Bevölkerung per SMS-Nachricht

Autoaufwärm-Service mit einer Wärmekanone
An und in der Winterhütte, zehn Kilometer vom Dorf entfernt in der Taiga
Wo ich nur Löcher sehe, erkennt Anatolij genau, wer wann wohin lief
Blick durchs Zielfernrohr - aber es war dann doch nur ein Baumstamm und kein Wild