„Neben indifferenten, uninteressanten Menschen, die ja überall in der
Welt dutzend- und hundertweise herumlaufen und dem lieben Gott die Luft
verpesten, habe ich auf meinen sibirischen Reisen so manche markante
Persönlichkeit kennengelernt.“
Egon Freiherr von Kapherr, „Drei Jahre in Sibirien als Jäger und
Forscher“, 1919
Vor dem Hauseingang treffe ich Anatolij, unseren bulligen, breiten
Nachbarn, der zwei Etagen weiter oben wohnt. Die Umgebung seines rechten Auges
ist blau; mitten auf der Nase und über der Nasenwurzel hat er zwei rote Wunden,
als hätte ihn jemand mit dem Messer ins Gesicht geschnitten. „Na, wann geht’s los?“,
fragt er. Schon lange planen wir, dass er mich einmal auf die Jagd mitnimmt. Ich
will den Grund für seinen verunstalteten Anblick wissen.
„Beim Zweikampf von einem jungen Kerl eins auf die Schnauze bekommen“,
sagt Anatolij. „Ich war schließlich früher Box-Meister und dachte, sowas kann
ich noch.“
Eigentlich sähe es eher aus wie eine Messerattacke und nicht wie ein
Faustschlag, meine ich.
„Keine Ahnung“, antwortet er, „ich war besoffen. Also am Wochenende
fahren wir? Benzingeld hast du?“
Benzin und Lebensmittel gingen auf meine Kosten, sage ich voller
Vorfreude auf das Erlegen eines Braunbären, nicht wissend, dass diese im Winter
ja schlafen.
„Es gibt zwei Möglichkeiten: wir können nachts Scheinwerferjagd machen
oder tagsüber zu Fuß pirschen. Vom Scheinwerfer leuchten die Augen des Wildes
in der Dunkelheit, das ist aber illegal, wenn sie uns erwischen, kommen wir in
den Knast. Für die zweite Variante habe ich eine Lizenz.“ Ich entscheide mich
für den letztgenannten Vorschlag.
In diesem Jahr ist es bis Mitte Februar in Burjatien ungewöhnlich kalt.
Wochenlang steigt das Thermometer auch am Tag nicht auf über minus zwanzig
Grad. Das Katastrophenschutzministerium schickt SMS-Nachrichten an die
Bevölkerung und warnt vor Temperaturen von bis zu minus fünfzig im Norden der
Republik. Am Tage vor unserer geplanten Abreise sehe ich aus dem Fenster, wie Anatolij
an seinem Toyota Landcruiser herumwerkelt. Als ich zu ihm komme, drückt er mir einen
kleinen Gasflammer in die Hand und bittet mich darum, bestimmte erfrorene Schläuche
und vor Kälte weißlich angelaufene Metallteile im Motorraum mit der offenen Flamme
zu erhitzen, damit der Wagen anspringt. Ich bin etwas unschlüssig und erkundige
mich, wo genau sich eigentlich der Tank befände? Anatolij baut verschiedene
Akkumulatoren ein und wieder aus, sprüht irgendeine Schnellstarter-Flüssigkeit
in den Ventilator, kippt Anti-Gefrier-Gel in den Diesel und beratschlagt sich
mit verschiedenen Nachbarn, die zufällig vorbeikommen. Nach einer Weile geben
wir auf und rufen den Autoaufwärm-Service. Ein junger Mann positioniert
eine benzinbetriebene Wärmekanone unter dem Motorraum und hängt den Wagen
seitlich mit einer Plane zu; tausendzweihundert Rubel kostet die
Dienstleistung, nach einer halben Stunde ein traktorartiges Röhren: der
Vier-Liter-Hubraum-Koloss des Geländewagens springt an.
So kam es, dass ich zum ersten Mal im Leben in einer echten
sibirischen Winterhütte übernachtete, mit einem Jäger auf Pirsch ging und ein
paar Schüsse aus einer Feuerwaffe abgab.
Hundert Kilometer fahren wir zunächst durch ein steppenbedecktes,
weites Tal nach Osten, um dann nach Norden in den Taigawald hinein abzubiegen,
bis wir schließlich an einer Simovjó
ankommen, wie die Hütten in Sibirien genannt werden, die meist im Winter von
Jägern benutzt werden. Tritt man durch die niedrige Tür, geht es erst einmal
einen halben Meter nach unten in die Erde hinein, die Wände bestehen aus
übereinandergeschichteten Rundbalken von etwa fünfzehn bis zwanzig Zentimetern
Durchmesser, die gerade Bretterdecke ist so niedrig, dass ich nicht stehen
kann. Ein schräg darübergebautes offenes Dach ermöglicht es, dass der Schnee
seitlich abrutschen kann. In einer Ecke des Raumes steht ein quaderförmiger
Blechofen, um den herum Steine geschichtet sind; links und rechts eine Pritsche
zum Schlafen, in der Mitte ein Tisch, an den Wänden Bretter als Ablage an zwei
Seiten kleine, schmale Fensterchen. Zehn Kilometer bis zum nächsten Dorf,
eigentlich kann man sagen, dass wir noch in der Zivilisation sind; kein
Problem, wenn am Abfahrtstag das Auto nicht anspringen sollte, ein kleiner
Fußmarsch ins Dorf, mehr nicht.
Anatolij bringt mir bei, wie man auf dem nahegelegenen Flüsschen Eis
hackt zur Trinkwassergewinnung – Schnee zu schmelzen ist viel umständlicher,
außerdem er enthält keine nützlichen Mineralstoffe wie das Eis – und lehrt mich
das Entzünden eines Feuers ohne Zuhilfenahme von Papier, nur mit leicht
entzündlichen Kiefernnadeln oder mit der Axt von einem harzigen Stamm
abgeschabten Spänen. Zum Abendessen koche ich vor der Hütte Nudeln mit Dosenfleisch,
während mein Nachbar sich innen um das Anheizen des Ofens kümmert; zum
Frühstück, Mittagessen und Abendbrot des nächsten Tages wird es in Ermangelung
eines selbsterlegten Hasen ebenfalls Nudeln mit Dosenfleisch geben, am Morgen
des Abreisetages habe ich die Nase voll und beschließe Abwechslung: es gibt nur
Nudeln. Ohne Dosenfleisch.
Die erste Nacht in der Hütte ist kühl, ich krieche tief in meinen
Daunenschlafsack. Alle zwei Stunden steht jemand von uns auf und legt ein paar
schon auf die richtige Länge zurechtgesägte Holzstücke in den Ofen nach. Die
zweite Nacht wird deutlich gemütlicher, da Holz und Boden nun bereits
durchwärmt sind. Kein Laut außer das Flackern und Knistern des Feuers, ich gehe
nach draußen und blicke in Sterne und Mond, der sein fahles Licht durch die
Kiefernwipfel auf die weiße Schneedecke wirft.
„Romantik, was?“, sagt Anatolij und lacht. Ich höre mir noch einmal
seine Lebensgeschichte an: die älteste Tochter ist in Amerika und seine Ex-Frau
gleich mit dort geblieben, er selbst hat auch einen Aufenthaltsstatus und
könnte in den USA wohnen, will das aber nicht. Heimat ist unersetzbar. Hier in
Burjatien kennt er, so scheint es, fast jeden, sicher hat das auch mit seiner
früheren Arbeit als Chef der Gebietspolizei zu tun. Jetzt ist er Rentner, jagt,
angelt, boxt mitunter oder versucht sein Auto zum Anspringen zu bringen. Zum
Jagen hat er natürlich alle nötigen Lizenzen und den Waffenschein. „Fünf Jahre
Freiheitsentzug, wenn dich jemand mit der Knarre hier erwischt“, sagt er, „aber
keine Sorge, wir sind ja zusammen unterwegs.“
Nachdem ich am Vormittag Brennholz gesägt und gehackt habe, gibt mir
Anatolij eine seiner beiden Jagdwaffen, ein doppelläufiges Gewehr vom Typ Bjelka (Eichhörnchen), 1964 in Izhewsk
hergestellt, und stellt eine quadratische Holzplatte fünfzig Meter weiter an
einen Baumstamm. Ein kurzes, trocken peitschendes Geräusch, das
Fünfeinhalb-Millimeter-Geschoss schlägt fast in der Mitte ein Loch durch das
anderthalb Zentimeter dicke Holz. Irgendwie hätte ich mir Schießen
spektakulärer vorgestellt, lauter zumindest. Wie trägt man eigentlich so ein
Teil beim Gehen? „Jäger tragen das Gewehr mit dem Lauf nach unten, Soldaten mit
dem Lauf nach oben. Verdammt, hast du denn wirklich so wenig Ahnung?“ Ich
erklärte, seine etwas derbe Sprache imitierend, dass ich kranken Leuten den
Hintern abgewischt hätte, statt zur Armee zu gehen, was doch viel nützlicher
gewesen sei. Anatolij knurrt verständnisvoll.
Mein Nachbar liest in der Taiga wie in einem Buch. Wo ich außer
durchlöchertem Schnee nichts sehe, zeigt er mir Hasenpfade, auf denen später
ein Zobel folgte, Reh- und Hirschspuren und solche, die von einem Wolf sein
könnten. Als erstes lerne ich zu sehen, in welche Richtung das Tier ging, und
wie man frische von alten Spuren unterscheiden kann; je härter der Schnee,
desto älter. Leise vorwärtsstapfend begeben wir uns auf die Pirsch durch das
ansteigende Tal nach oben, vorbei an Liegeplätzen des Wildes und immer wieder
frischen Spuren, ich mit meiner Bjelka
und Anatolij mit seinem viel wuchtigeren Selbstlader, aus dem er zehn Schuss
hintereinander abfeuern könnte, ohne nachzuladen. Einige Male steckt mein
Gefährte die beiden oben zusammengebundenen Stöcke, die er mitführt, in den
Schnee, bringt das Gewehr darauf in Anschlag und schaut durch das Zielfernrohr. Nein,
kein Hirsch, nur ein Baumstamm. Bis zum Einbruch der Dämmerung schleichen und
lauschen wir, aber dabei wird es auch bleiben. Umsonst habe ich meine Frau
gebeten, auf dem Balkon Platz für das Wildschwein zu machen!
„Du schenkst mir doch bestimmt eine deiner drei Taschenlampen“, meint
Anatolij beim Aufbruch zurück, „ich brauche gerade eine!“ Ich erkläre ihm, dass
es drei sehr verschiedene Modelle seien, eine von meinem Bruder, die zweite mit
Elektroschock-Funktion zur Hundeabschreckung und die dritte mit Teleskopstab
zum Ausziehen und ich auf keine verzichten möchte. „Man sagt, die Deutschen
sind ein kleinliches Volk. Offensichtlich stimmt das!“ Er scheint aber nicht
tiefgreifend beleidigt zu sein über das nicht bewilligte Geschenk. „Und, fährst
du nochmal mit? Wenigstens ein paar Enten verspreche ich Dir das nächste Mal!
Nicht böse, dass wir nichts erlegt haben?“ Ich schüttle den Kopf. Der Besuch
bei den Tieren im Walde war auch ohne sie gesehen zu haben ein Erlebnis.
"Starke Fröste im Februar" - das Katastrophenschutzministerium warnt die Bevölkerung per SMS-Nachricht |
Autoaufwärm-Service mit einer Wärmekanone |
An und in der Winterhütte, zehn Kilometer vom Dorf entfernt in der Taiga |
Wo ich nur Löcher sehe, erkennt Anatolij genau, wer wann wohin lief |
Blick durchs Zielfernrohr - aber es war dann doch nur ein Baumstamm und kein Wild |