Die längste Menschenkette der Welt spannte sich am 23.8.1989 von Vilnius (Litauen) über Riga (Lettland) nach Tallinn (Estland) |
Vor einiger Zeit schrieb ich meinem
Bekannten Wowa eine Mail, ob er sich nicht über meinen Besuch in Riga freuen
würde? Schließlich sei ich noch nie in der estnischen Hauptstadt gewesen, und
überhaupt täte es mich freuen, ihn einmal in seiner Wahlheimat wiederzusehen.
Wowa, eigentlich Wladimir, ist ein in Moskau geborener Sprachwissenschaftler,
der zehn oder zwölf Sprache fließend spricht und von wahrscheinlich noch einmal
ebenso vielen den Grundwortschatz beherrscht sowie ihre „Struktur versteht“,
wie er sich wohl ausdrücken würde. Wir hatten uns in Ulan-Ude kennengelernt,
als er mit seiner Frau Kristina ein Jahr dort lebte, die in dieser Zeit für
ihre Doktorarbeit über den burjatischen Buddhismus forschte, und damals hatte
mich Wowa eingeladen, ihn doch einmal im Baltikum zu besuchen. Eine Einladung,
der ich gern nachkommen wollte, zumal die Menschen in Sibirien wegen meiner
äußeren Erscheinung und meines Akzentes im Russischen mitunter vermuten, ich
käme von dort. Der Verkäufer im Supermarkt um die Ecke hielt mich neulich für
einen Esten.
„Ich wohne nicht im lettischen
Riga, sondern in Vilnius“, kommt Wowas Antwort in fehlerfreiem Deutsch, „und
außerdem ist das die Hauptstadt von Litauen. Aber du kannst mich natürlich gern
hier besuchen.“ Peinlich berührt über meine bloßgestellte Unkenntnis der
baltischen Länder, buche ich einen Flug von Moskau nach Vilnius. Drei wenig bedeutsame
kleine Staaten, die den Übergang von der Sowjetunion zur Europäischen Union
vollzogen haben und jetzt Russlands Nachbarn im Westen sind, mehr fällt mir
nicht ein, ach ja, und dass die NATO dort nach der Krimkrise ihre Präsenz
verstärkt hat. Diesem Unwissen kann abgeholfen werden, denke ich und besteige
voller Erwartung eine Aeroflot-Maschine, die mich in anderthalb Stunden von der
einen in die andere Hauptstadt bringt.
Dem Vermieter der von mir gebuchten,
kleinen und gemütlichen AirBNB-Dachgeschosswohnung
in einer der engen Gassen der Vilniuser Altstadt fällt mein Nachname ins Auge.
Ranft, da gäbe es hier noch einen, ob wir verwandt seien? Im Internet stoße ich
später auf Christian Michael Ranft, einen deutschen Holzhändler, der schon seit
langem in Litauen wohnt, und überlege einen Moment, ihn anzumailen und ein
Treffen vorzuschlagen: haben Sie nicht Lust, mit mir ein wenig über unsere
möglichen gemeinsamen Vorfahren zu plaudern? Doch ich verwerfe die Idee wieder,
da ich kaum etwas beizusteuern hätte zum Gespräch: mein Großvater
väterlicherseits ist in einer Pflegefamilie aufgewachsen, damit endet für mich die
Nachverfolgung der Linie Ranft schon nach zwei Generationen.
In der stimmungsvollen Altstadt von
Vilnius, die größte erhaltene historische Altstadt Osteuropas und UNESCO-Weltkulturerbe,
kommt der Spaziergänger auf Schritt und Tritt an einer Kirche vorbei, meist katholischen
Barockbauten mit charakteristischem Doppelturm; die Dunkelheit in der St.
Peter-und Paul-Kirche wird erst nach dem Einwurf von zwei Euro in einen
Automaten durch die Deckenlampen erhellt, für genau fünf Minuten. Im Kontrast
dazu die gedrungener wirkenden, weil am Quadrat und nicht am Rechteck als
Grundmaß orientierten russisch-orthodoxe Gotteshäuser, in denen keine Sitzbänke
stehen und das Abnehmen der Kopfbedeckung für Männer und das Aufsetzen einer
solchen für Frauen Pflicht ist. In Souvenirläden wird Bernsteinschmuck
verkauft, und auf dem großen Platz vor der klassizistischen Sankt-Stanislaus-Kathedrale thront auf seinem Ross der Stadtgründer Fürst Gediminas,
unter dessen Führung Litauen zur Großmacht aufstieg, dessen Territorium
zeitweise von der Ostsee bis zu den Toren Moskaus und zum Schwarzen Meer
reichte, eine Größe, der jedoch keine Dauer beschieden war.
Im ehemaligen Gebäude des
sowjetischen Geheimdienstes KGB befindet sich heute das „Museum der Okkupation
und des Freiheitskampfes“. Zum Ausgangspunkt seines staatlichen
Selbstverständnisses nimmt das moderne Litauen die Unabhängigkeitserklärung von
1918, als es sich nach dem Ersten Weltkrieg von Russland abtrennte. Der
Einmarsch der Roten Armee im Jahre 1940 nach der Aufteilung Osteuropas im Zuge
des Hitler-Stalin-Paktes, die
faschistische Besetzung des Landes 1941 und der erneute Einmarsch der
Sowjettruppen 1944 sehen viele Litauer als Okkupationen
– drei Okkupationen über ein halbes Jahrhundert hinweg, während in der
sowjetischen Geschichtsschreibung natürlich von einem freiwilligen Anschluss
die Rede war. Die Loslösung von der UdSSR, bei der es am Vilniuser Blutsonntag bei
der Erstürmung des Fernsehturmes durch das sowjetische Militär vierzehn Tote
gab, betrachten sie als Wiederherstellung ihrer rechtmäßigen Unabhängigkeit.
Ausführlich berichtet das Museum über die Aktivitäten der Litauischen Aktivistenfront
und über die Waldbrüder, die noch
lange nach Kriegsende im Untergrund gegen die Kommunisten kämpften. Ein nicht
unproblematisches Kapitel, werde ich von Wowa später erfahren, haben doch viele
Litauer die Nazis als Befreier begrüßt und waren am Holocaust an Vilniuser
Juden beteiligt, und zwar auch schon vor
dem Einmarsch der Wehrmacht. Davon wird in der Ausstellung nichts erzählt.
Im Keller des Museums laufen die
Besucher durch das ehemalige KGB-Gefängnis, betreten die düsteren, ehemals
feuchten Zellen, davon eine Nasszelle, in welcher der gefangene Dissident oder Volksfeind auf einer kleinen Erhöhung
hockte, während um ihn herum der Boden mit eiskaltem Wasser bedeckt war, und
besichtigen den Hinrichtungsraum mit einem Abflussloch für das Blut. Eine
Reiseleiterin erzählt einer Gruppe jüngerer Männer dazu Fakten und Jahreszahlen
in deutscher Sprache, muskulöse Typen mit kurzgeschorenen Haaren, ich höre den Dialekt
meiner Heimat.
„Na, auch aus Sachsen?“, frage ich
kumpelhaft in die Runde.
„Nicht alle“, kommt die Antwort
nach einigem Zögern. Und nach einer kleinen Pause, etwas unwillig: „Wir sind
Soldaten.“
Statt genauer nachzufragen, wähle
ich den Weg, der am wenigsten Mut erfordert und hole das Smartphone hervor:
seit 2017 ist in Litauen die NATO-Battlegroup
Lithuania stationiert, unter Führung
der deutschen Bundeswehr im Rahmen der etwa tausend Mann starken NATO Enhanced
Forward Presence als Abschreckung gegen Russland. Alles klar, Jungs!
Zur Erholung von der schweren
Geschichte betrete ich wenig später mit Wowa und Kristina ein Katzencafé. Am Eingang werden wir von einer jungen Dame in weißem
Hemd und schwarzer Fliege begrüßt und auf Russisch in die Regeln eingeführt:
fünfzehn Katzen leben hier, es ist verboten, sie am Schwanz zu ziehen,
aufzuwecken (im Falle, sie schlafen gerade) und sie mit Kuchen zu füttern; die
Mindestbestellsumme beträgt fünf Euro. In der Mitte des erstaunlich katzengeruchfreien Raumes steht eine große
Kletterburg, Rassekatzen verschiedener Farbe und Felllänge durchstreifen das
Lokal und holen sich von heißgetränkeschlürfenden Gästen Streicheleinheiten ab.
Kurz nach uns betreten einige muskulöse jüngere Männer mit kurzgeschorenen
Haaren das Katzencafé; ihre Gesichter kommen mir bekannt vor. Die junge Dame erläutert
wiederholt die Regeln, diesmal auf Englisch: nicht am Schwanz ziehen, nicht
wecken, nicht füttern.
„Hauptregel: die Katzen nicht
essen“, raune ich einem der Jungs auf Sächsisch ins Ohr und grinse.
„Nee, das ist wohl ein bisschen zu
viel für uns“, sagt ein anderer, nachdem die junge Dame fertig ist mit ihren
Erläuterungen, und schon sind meine Landsleute wieder draußen.
Obwohl schwere historische Themen
gerade hinter uns liegen, sind wir nach kurzer Zeit schon wieder bei
Politik, die auch nicht fröhlicher ist. Wowa ist entschiedener Putin-Gegner. Er
sei Ende der Neunziger in eine Moskauer Vorstadtschule gegangen und dort von Gopniki verprügelt worden, den damaligen
kleinkriminellen Gangstern, und ihre Sprache sei genauso gewesen wie die Putins
heute: matschomäßig und brutal. Bis zum Jahre 2000 habe er in einem freien Land
gelebt, das jetzt ein autoritäres Regime sei ohne wirkliche Meinungsfreiheit.
Behaupte mal einer in Russland öffentlich, die Krim sei Teil der Ukraine – dann
habe er doch gleich den FSB am Hals, wohingegen in der Ukraine jeder im
Fernsehen sagen könne, er scheiße auf die Krim, lasst sie doch den Russen! Wowa
sagt, er habe Freunde, die sich in der Oppositionsbewegung engagieren – in der
echten, nicht der Marionettenopposition wie Kommunisten und Liberalen – für ihn
selbst sei das aber zu gefährlich.
„Die Russen brauchen einen starken
Mann an der Spitze, sonst gibt es Chaos wie in den Neunzigern“, versuche ich es
mit einem vorsichtigen Gegenstandpunkt.
Was ich denn gegen die Neunziger hätte,
sagt Wowa, eine Zeit des Um- und Aufbruchs, nicht wie heute, wo jede wirkliche
Initiative von unten von den Machthabern erstickt werde.
"In russischen Medien gibt es durchaus Meinungsvielfalt", sage ich und führe ein paar Beispiele aus der Zeitungs- und Zeitschriftenwelt an. Kein Wunder, dass ich so denke, entgegnet Wowa, wer nicht fern sähe, habe keine Ahnung, was eigentlich los sei, gleichgeschaltete Propaganda von früh bis spät.
Weiter geht es mit dem Bus nach
Norden; an der Grenze von Litauen zu Lettland werden wir angehalten, ein
uniformierter Mitarbeiter des lettischen Immigationsdienstes kontrolliert die
Pässe der Passagiere. Ein deutscher Pass ist Eintrittskarte für alle drei baltischen
Staaten, die seit 2004 Mitglieder des Schengenraumes
sind. Meine Mitreisenden sind Litauer, Letten und Russen – Endstation der Fahrt ist St. Petersburg –
und außerdem zwei Ukrainer, die nicht belegen können, wo sie in Riga zu wohnen
gedenken. Sie beginnen mit dem bulligen Beamten zu diskutieren, bis er sie
auffordert, auszusteigen. Nach zehn Minuten kommen die beiden jungen Männer wieder, die Fahrt kann
weitergehen. Ukrainische Touristen können seit 2017 visafrei in den
Schengenraum reisen, allerdings nur mit zeitlicher Begrenzung, und sie müssen
auf Verlangen Unterkunft und finanzielle Mittel nachweisen.
In Riga hat sich die 61-jährige
Anita gut auf meine Ankunft vorbereitet, auf ihren ersten Couchsurfer: sie stellt mir ihr Wohnzimmer zur Verfügung, Bettdecke
und Handtücher liegen bereit, ich bekomme einen kostenlosen Stadtplan und einen
kleinen Zettel mit dem WLAN-Passwort. In der Küche darf ich jederzeit den
BOSCH-Kaffeeautomaten nutzen, leckerster Kaffee aus auf Knopfdruck frisch
gemahlenen Bohnen, kräftig und zugleich mild, wunderbar selbst für einen
Teeliebhaber wie mich. Anita war Personaldirektorin bei verschiedenen großen
Firmen, jetzt nennt sie sich Travel Blogger und verbringt ihre Zeit damit, in
nähere oder exotische Länder zu fliegen, zu fotografieren und darüber auf
Englisch zu schreiben, über zwanzigtausend Seitenaufrufe jeden Monat, das sind
schon andere Dimensionen als in meinem Blog. Anita spricht fließend Russisch,
obwohl sie es erst ab der zweiten Schulklasse als Fremdsprache gelernt hat,
lernen musste wie alle. Sonstwohin reist die rüstige Rentnerin, nur nach Russland
nicht, ein wenig fühlt sie sich unwohl in dem Land, das ihrem Urgroßvater sein
Haus weggenommen hat, zu viel hatte er besessen und wurde als Kulake enteignet. Zusammen spazieren wir
durch ein Stadtviertel mit hohen, frisch renovierten Jugendstilhäusern,
aufwendig verziert mit den charakteristischen Rundformen. Riga ist die Stadt
mit der größten Anzahl Gebäuden aus dieser Epoche. Wir begeben uns auf den Turm
der Akademie der Wissenschaften, im Stalinschen Zuckerbäckerstil erbaut, und schauen von oben auf die an
Norddeutschland erinnernde Altstadt, den breiten Fluss Daugava, zu deutsch Düna,
und den markanten, auf drei Füßen stehenden Fernsehturm, der dritthöchste
seiner Art in Europa. Mövengekreisch kündet von der nahen Ostsee. Riga, von
einem Bremer Bischof gegründet, war jahrhundertelang eine deutsche Handels- und
Hansestadt, bis zum Ende des 19. Jahrhunderts stellten die Deutsch-Balten den
Adel und den Großteil des Bürgertums.
Unweit des Okkupationsmuseums –
auch hier gibt es eines, das eine ganz ähnliche Geschichte erzählt wie das in
Vilnius – ragt die nach Westen blickende weibliche Figur der Freiheitsstatue in
die Höhe, 1935 im unabhängigen Lettland aufgestellt. Den Sowjets war sie ein
Dorn im Auge, sie trauten sich jedoch nicht, sie zu entfernen und errichteten
einige hundert Meter weiter eine Leninstatue mit Blick nach Osten. An der
Stelle Lenins steht nun ein Torbogen aus tausenden kleinen Lämpchen, die auf-
und abpulsierende leuchtende Bilder des Landes zeigen, die rot-weiße
Nationalflagge und der Schriftzug „100 Jahre Lettland“, ein beeindruckender
Anblick vor dem Hintergrund des winterlichen Graus und einer großen
russisch-orthodoxen Kirche. Dreißig Prozent Russen leben in Lettland, die
größtenteils nach dem Krieg als Arbeitskräfte für die angestrebte
Industrialisierung eingewandert sind oder umgesiedelt wurden. Nach der
Unabhängigkeit haben sie nicht automatisch die Staatsbürgerschaft
bekommen, sondern einen „Nichtbürger“-Pass, der es ihnen zum Beispiel nicht
erlaubt, an Wahlen teilzunehmen. Erst nach Ablegen eines lettischen Sprachtests
können die Russen hier den Letten gleichberechtigte Staatsbürger werden.
Im August des Jahres 1989 hat sie
am Baltischen Weg teilgenommen, erzählt Anita. Es war die längste Menschenkette
der Welt und Ausdruck des Unabhängigkeitswunsches der baltischen Staaten: zwei
Millionen Leute auf sechshundert Kilometern von Vilnius über Riga bis Tallin standen an der Straße, in Riga
dicht aneinander Hand in Hand, auf dem Dorf, wo es nicht so viele waren, mit
von einem zum nächsten gespannten Tüchern, damit die Kette geschlossen bleibt.
Fünf Tote hatte es auch in Riga beim Sturm auf das Innenministerium durch
sowjetische Militärkräfte gegeben, im Sommer 1991 schließlich erkannte
Gorbatschow die Unabhängigkeit Litauens, Lettlands und Estlands an.
Die baltischen Länder sind klein,
jedes nicht größer als Bayern. Hundert Kilometer nördlich von Riga passiert der
ECOLINES-Bus schon die estnische Grenze (der in Deutschland omnipräsente FLIXBUS ist wohl noch nicht bis
hierher expandiert), diesmal ohne Halt und Passkontrolle. Ich sitze in der
oberen Etage links am Fenster, in der vergeblichen Hoffnung, einen Blick auf
die Ostsee zu erhaschen; die Straße führt nahe an der Küste vorbei, trotzdem versperren gebüschumrandete Felder oder Wälder den Blick auf das offenen Wasser, zuerst Mischwald, aus dem
nach und nach die Laubgehölze verschwinden, bis nur noch Nadelwald übrigbleibt.
Spätestens in Estland fahren wir durch die wunderschönste Winterlandschaft, mit
wattigem Weiß bedeckte Flächen wechseln mit Fichten oder Tannen ab, auf deren
graubraunen Zweigen plüschige Schneepakete liegen; hin und wieder wirbelt der
Wind dicke Flocken gegen die Busfenster. Der blaugraue Himmel dazu schafft eine
geheimnisvolle, etwas düstere Atmosphäre, ganz anders als ein sonnendurchfluteter
und trockener Winter in Sibirien. Immer wieder dazwischen ragt ein
spargeldürrer metallener Handymast auf: in Estland gibt es flächendeckendes
Handynetz und Highspeed-Internet im kleinsten Dorf.
Die Zimmer in meinem Hostel in der Tallinner
Altstadt heißen Uks, Kaks und Kolm. Ich beziehe eines von sechs Betten im Zimmer Kaks, was estnisch ist und Zwei bedeutet. Im Gegensatz zu den
baltischen Sprachen Lettisch und Litauisch – letztere hochinteressant für
Sprachwissenschaftler, wie Wowa sagen würde, da sie der vermuteten gemeinsamen
indoeuropäischen Ursprache am nächsten steht – ist estnisch eine finno-ugrische
Sprache und als solche dem Finnischen und Ungarischen verwandt. Die jungen
Leute an der Rezeption sprechen allerdings genauso viel Estnisch wie ich, nämlich
keines: sie kommen irgendwo anders her aus der globalisierten Backpacker-Welt,
sie können auch nicht Russisch, sondern Global
English, Spanisch und Französisch.
Von der Landesfahne abgesehen, die an der Wand des großen, mit relaxten
Polstersofas ausgestatteten Aufenthaltsraumes hängt, könnte das Tallinn Backpackers Hostel mit seinen open minded und easy going people auch ein Ort irgendwo anders im
vereinten EU-Europa sein.
Die engen, hügeligen Gassen mit den
mittelalterlichen Gebäudefassaden begrüßen mich in wundervoller, märchenhafter
Winterstimmung. Um siebzehn Uhr ist es schon völlig dunkel, Laternen beleuchten
wild umherwirbelnde Schneeflocken und eine knirschende Neuschneedecke; auf dem
Markplatz versuchen Schneeräumfahrzeuge vergeblich, hinterherzukommen und
türmen weiße Berge vor dem Rathaus auf. Gegenüber einer häuserfreien Brache mit
einer Eislaufbahn entdecke ich ein Antiquariat mit Büchern auf Russisch,
Estnisch, Deutsch, Englisch, Dänisch und Französisch aus einhundertfünfzig
Jahren. „Freude und Arbeit“-Zeitschriften von 1937 mit dem Führer, der Europa
zur Abwehr der kommunistischen Pest einen möchte; ein DDR-Atlas aus den frühen
Fünfzigern, in dem Deutschland noch ungeteilt eingezeichnet ist;
Eisenbahn-Netzpläne aus der UdSSR, geografische Abhandlungen aus der Zarenzeit
und Fotobände des neuen, kapitalistischen Estland, alle Irrungen und Wirrungen
des zwanzigsten Jahrhunderts in Buchstaben und Bildern. Auf der anderen Seite
der Straße, vor der häuserfreien Fläche, informiert ein Schild über die
Zerstörung von Teilen der Tallinner Altstadt durch ein Bombardement im Jahre
1944, kein faschistisches, sondern eines der Roten Armee, und darüber, dass
diese in den darauffolgenden fünfzig Jahren leugnete, an dem Angriff auf zivile
Gebäude beteiligt gewesen zu sein. Es war wohl ein Racheakt der Roten Armee für den Kampf
estnischer Einheiten in den Reihen der Nazis; das steht allerdings nicht dort
geschrieben.
Googelt man free walking city tour,
findet man in jeder größeren europäischen Stadt eine Guide, der für ein meist jüngeres Publikum englischsprachige Stadtführungen anbietet,
kostenlos und auf Trinkgeldbasis. Mich und vier allerdings ältere Londoner
führt ein bärtiger Isländer durch Tallinn, der sich als seit zehn Jahren in
Estland lebender Archäologe vorstellt. Auf dem Domberg spazieren wir an der schmucken orthodoxen
Alexander-Newski-Kathedrale vorbei, Sinnbild für die Russifizierung der Region
Ende des 19. Jahrhunderts, und an den Mauern von Präsidenten- und
Parlamentsgebäude; weit und breit zeigt sich kein Wächter und keine Polizei.
Präsident und Parlamentarier in Estland sind ziemlich jung, erklärt uns Jonas,
der Guide, die alte Sowjetelite hat man endgültig zum Teufel gejagt, vielleicht
ist deshalb das Land eines der digitalisiertesten der Welt: die Steuererklärung
geht online in fünf Minuten, die Gründung einer GmbH am Laptop dauert einer
halben Stunde; gewählt wir neuerdings auch per Internet. Estnische
Programmierer haben 2003 Skype
erfunden. Estland ist die wohlhabendste der drei baltischen Republiken, schon
seit 2011 gibt es hier den Euro, während Lettland und Litauen erst 2016 und
2017 in die Euro-Zone dazugekommen sind. Das digitalisierteste Land ist auch
das unreligiöseste, eines der unreligiösesten weltweit mit über der Hälfte
Einwohnern als erklärten Atheisten. Erotische Massagestudios und Nachtclubs,
beim Rundgang durch Tallinner Straßen unübersehbar, würde man im katholischen
Vilnius vergebens oder zumindest deutlich länger suchen.
Am vorletzten Tag bin ich endgültig
genervt von meinen Sommerhalbschuhen, die jedes Mal nach zwei Stunden
Spaziergang durch die matschigen Straßen hoffnungslos durchweicht sind und an
der Heizung getrocknet werden müssen. Also bleibe ich am nächsten Vormittag im
Hostel und höre mir auf youtube Arvo
Pärt an, der einzige estnische, ja, der einzige baltische Komponist von
Weltrang, 1980 auf Druck Moskaus nach Österreich ausgewandert. Interessant
finde ich seine Dritte Sinfonie und das Credo, der Reiz der meditativ gemeinten Simplizität seiner späteren
Werke im sogenannten Tintinnabuli-Stil
bleibt mir verschlossen. Für den Nachmittag möchte ich mir noch ein Ziel in der
Stadt suchen. Ich entscheide mich dagegen, zum dritten Mal ein
Okkupationsmuseum aufzusuchen, das es natürlich auch hier gibt, und mache mich
statt dessen auf den Weg an den Stadtrand, wo auf einem menschenleeren
eingeschneiten Soldatenfriedhof ein etwa zwei Meter hoher Rotarmist aus Bronze
steht, der mit geneigtem Kopf und abgenommenem Helm nach unten schaut. Bis 2008
stand er im Zentrum, bis er auf Beschluss des Parlaments hierher verlegt wurde,
da die estnischstämmige Bevölkerung in dem Bronzesoldaten kein Symbol für die
Befreiung vom Faschismus, sondern für die Unterdrückung durch die Rote Armee
und das kommunistische Regime sah. Bei den gewaltsamen Auseinandersetzungen,
von der die Verlegung des Denkmals und die Umbettung der neben ihm begrabenen
sowjetischen Soldaten begleitet wurden, gab es Verletzte und einen Toten. Für
den estnischen Staat hatte das Verluste in Millionenhöhe zur Folge, weil in
Russland kaum noch estnische Lebensmittel gekauft wurden, russische Touristen ausblieben
und Warenströme auf nicht-estnische Häfen umgeleitet wurden – ein informeller
Boykott als Reaktion auf diese Nicht-Ehrung der Helden des Großen Vaterländischen Krieges, ein Sakrileg für das russische
Geschichtsverständnis.
Die Kommunisten haben die
baltischen Länder 1944 besetzt und Teile der Bevölkerung nach Sibirien deportiert,
weil nicht wenige 1941 mit den einmarschierenden Deutschen gemeinsame Sache
gemacht und gegen die Rote Armee gekämpft haben. Viele Balten haben die
Faschisten als Befreier empfangen, weil sie wiederum ein Jahr zuvor von den
Sowjets besetzt worden waren, als eine der Folgen des Hitler-Stalin-Paktes und
sicher auch als selbstverständliches Zurückholen von Gebieten, die vor dem
ersten Weltkrieg ohnehin zum zaristischen Imperium gehörten. Warum hat Peter
der Große 1710 seinem Reich das Baltikum einverleibt? Weil ihm die Ostseemacht Schweden,
zu denen Livland damals gehörte,
keine Ruhe ließ. Zuvor hatte der Deutsche
Orden das erste Staatsgebilde in der
Region errichtet. Geschichte ist kompliziert, und immer weiter in die
Vergangenheit zurückgeschobene Schuldzuweisungen bringen wohl keinen Frieden.
All dies ist beim Betrachten der
unspektakulären Figur weit weg. Meine Fußspuren sind die einzigen im Schnee,
vom Rauschen der nahen Autobahn abgesehen herrscht Grabesstille. Sogar einen
Grabstein mit einer deutschen Aufschrift entdecke ich: „Ihre Namen sind im Buche
des Lebens – dem Andenken der deutschen Krieger, die ihr Leben 1918 in Reval
ließen.“ Bis 1918 trug Tallinn diesen Namen, wie Riga ist es eine von Deutschen
erbaute Handels- und Hansestadt gewesen, bis es 1939 mit dem Deutschtum ein
Ende hatte und Hitler die Umsiedlung der Deutschbalten weiter nach Westen, in
neu eroberte polnische Gebiete anordnete.
Mit der Straßenbahn – der
europaweit einzige auf der schmalen Kapspur
– fahre ich zurück in die Altstadt. Die Wagen sind lang und modern wie in
Dresden oder Leipzig, nur gibt es einen wichtigen Unterschied: die Benutzung
öffentlicher Verkehrsmittel ist für Einwohner kostenlos; wer Tourist oder nicht
in Tallinn behördlich gemeldet ist, hält eine vorher mit Geld aufgeladene Magnetkarte
an den Entwerter. An Tankstellen gibt es tatsächlich weder Bargeld noch
Personal, bezahlt wird per Bankkarte an einem Terminal neben der Zapfsäule.
Gerade will ich meine Schritte
zurück ins Hostel lenken, da zieht ein rhythmisches Brüllen aus einer
benachbarten Seitenstraße meine Neugierde auf sich. Vor der Botschaft der
Russischen Föderation, an der majestätisch die weiß-blau-rote Fahne weht, haben
sich sechs Menschen aufgepflanzt und skandieren Anti-Putin-Parolen, dabei die
ukrainische und estnische Flagge schwenkend: „Putin – der Pirat des Asowschen
Meeres“, „Krim – Ukraine“, „Hitler kaputt – Putin kaputt“ oder „Raschismus
lassen wir nicht durchgehen“ (eine Wortneubildung aus Russland und Faschismus),
aggressive, energische Sprechchöre. Die Botschaft bleibt natürlich geschlossen,
ein paar japanische Touristen huschen verwundert vorbei, außer mir bleibt
niemand stehen.
Mein Besuch bei den baltischen Nachbarn,
deren Länder ich in Zukunft sicher nicht mehr verwechseln werde, ist zu Ende. Ich
bin wieder in der russischen Hauptstadt und warte auf den Ausruf des Abfluges nach
Ulan-Ude. Der Taxifahrer, der mich von einem Flughafen zum anderen bringt – zum
Glück ist in Moskau das Taxifahren so billig wie in kaum einer anderen
europäischen Hauptstadt – erzählt mir gern und ausführlich von seinem
ostukrainischen Heimatdorf, wo sein Haus und Grundstück genau auf der Frontlinie
zwischen West und Ost lägen, weshalb er jetzt lieber in Moskau sei. In einer
der kostenlos ausliegenden Zeitungen am Abfluggate lese ich von einem geplanten
neuen Gesetz, das nicht korrekte Wiedergaben der Russischen Föderation auf
Landkarten unter Strafe stellen soll, etwa wenn Kaliningrad, die Kurilen oder
die Krim nicht dabei sind – wie vor ein paar Jahren versehentlich im Rahmen
einer Coca-Cola-Werbekampagne geschehen; anschließend entschuldigte sich das
Unternehmen öffentlich und berichtigte den Fehler. Für Estland, Lettland und
Litauen ist ihre mit Russland verbundene Vergangenheit Geschichte, abgelegt im
Kapitel Okkupation; der Kommunismus ist
auf dem Müllhaufen der Geschichte gelandet. Das Russische hat trotzdem die
Rolle einer überregionalen Verständigungssprache behalten, von den Leuten, die
etwa vierzig oder älter sind, sprechen es alle, von den jüngeren zumindest die
russischstämmigen – in Lettland und Estland immerhin ein Drittel der
Bevölkerung.
Von den vierzehn Ländern, welche
nach dem Zerfall der UdSSR von Russland unabhängig wurden, haben neben den drei
baltischen Republiken noch Georgien und die Ukraine einen ähnlichen, radikal
westlichen Weg eingeschlagen; im moldawischen Transnistrien und in Weißrussland
sind die sowjetischen Verhältnisse hingegen bis heute am deutlichsten konserviert
– noch. Es lohnt sich sicher, auch dort einmal vorbeizuschauen, um Licht- und
Schattenseiten von Lenins Erbe zu studieren, bevor die Zeiten vielleicht für
immer vorbei sind. Nach der Reise ist vor der Reise!
Nach dem Zerfall der Sowjetunion hat sich Litauen zügig auf den Weg Richtung EU begeben, wie auch die anderen beiden baltischen Länder |
In jeder der drei Hauptstädte gibt es ein Okkupationsmuseum. Hier der Blick in eine "Nasszelle" des sowjetischen Geheimdienstes KGB in Vilnius |
Im Katzencafé speisen die Gäste umgeben von von fünfzehn lebendigen Katzen. Zu den wichtigsten Regeln gehört: nicht am Schwanz ziehen und nicht mit Kuchen füttern (weiter unten) |
Wo einst Lenin stand, befindet sich in Riga heute ein futuristischer, pulsierend leuchtender Torbogen, dessen Bilder "Hundert Jahre Lettland" feiern |
Im Tallinner Hostel wohne ich in Zimmer Nummer Kaks (Zwei). Die Winterabende mit viel Schnee sind außergewöhnlich stimmungsvoll (unten) |
Deutsche Propagandazeitschriften von 1937 im Schaufenster eines Tallinner Antiquariates. Isländer Jonas führt uns durch die Altstadt und erläutert anschaulich die Geschichte Estlands (unten) |
Anti-Putin-Demo vor der Tallinner Russischen Botschaft. T-Shirt-Verkauf auf einem Moskauer Flughafen (unten) |