Fremde werden immer wieder über die echte
Begeisterung staunen, die ihnen im deutschen Konzertsaal entgegenflutet. Die
Musik verhilft den Deutschen mehr als alles andere zur Flucht aus sich selbst
und bietet sich ihnen als wirksamstes Mittel an, auf Augenblicke dem
Normendasein zu entfliehen. Weil der Deutsche Musik nötig hat wie keiner, hat
er es in ihr weiter gebracht als alle.
Aus: Walter Schubart, „Europa und die Seele des
Ostens“ (1938)
Neunzehn Uhr neunundfünfzig: es wird
dunkel im Großen Saal des Leipziger Gewandhauses, die Gespräche verstummen, ein
paar verspätete Gäste huschen durch die breiten Türen, die wenig später von den
schick gekleideten Türstehern zugezogen werden und sich mit einem dumpfen
Klicken schließen. Zwanzig Uhr: unter Applaus betritt das Orchester die Bühne
und stimmt kurz ein. Zwanzig Uhr zwei: der neue Chefdirigent Andris Nelsons
erscheint, verbeugt sich und hebt den Stab. Robert Schumann, Zweite Sinfonie
C-Dur, präzise, dynamisch, glasklar und packend, perfekt im Detail und
mitreißend in großem schwungvollen Bogen. In der nächsten dreiviertel Stunde
wagt außer in den Pausen zwischen den einzelnen Sätzen niemand zu husten, es
erscheinen keine Gruppen, die raschelnd und Gespräche führend mit halbstündiger
Verspätung hereinplatzen und auf der Suche nach ihrem Sitzplatz durch die
Reihen hetzen. Keiner der knapp zweitausend Menschen führt auch nur ein
einziges Telefongespräch, ja, nicht einmal ein Handy klingelt. Das Programmheft
– ein kleines Lexikon, kurze Informationen auf einen Blick oder eine detaillierte
Beschreibung, für jeden Informationsbedarf. Nach Konzertende bildet sich an der
Garderobe eine lange Schlange; die jungen Leute hinter dem Tresen laufen flink
hin- und her und reichen im Eiltempo Mäntel und Jacken heraus, so dass gar
nicht erst das Gefühl aufkommt, man hätte warten müssen. Willkommen im Lande
der klassischen Hochkultur! Präzision und Niveau, nie wäre es mir früher als
etwas Besonderes aufgefallen, als ich fast wöchentlicher Stammgast im
Gewandhaus war. Aber nun wohne ich in Sibirien, bin etwa einmal im Jahr hier im
Konzert und fühle mich in angenehmer Weise auf einen anderen Planeten versetzt.
Mit der achtjährigen Maja ist jeden Tag
ein halbes Stündchen klassische Hauskultur angesagt. Ich oder manchmal auch meine
Mutter üben mit ihr Lieder aus dem Plumpsack,
der DDR-Klavierschule für Anfänger, und Maja gefällt es besonders, wenn ich die
deutschen Texte dazu mitsinge, die sie mich immer von Neuem bittet zu
wiederholen. Liebe Schwester tanz mit
mir, beide Hände reich ich dir, einmal hin, einmal her, rundherum das ist nicht
schwer! Maja wiegt dreiundzwanzig Kilo, so viel wie mein für die Berge
gepackter Tourenrucksack, und lässt sich mit Vorliebe von mir auf die Schultern
nehmen, möchte hochgeworfen und getragen werden, des Herumalberns ist mitunter
kaum ein Ende. Am Morgen fahren wir jeden zweiten Tag mit den Fahrrädern zum
Einkaufen in den Konsum, vorbei an Feldern auf wunderbar glatten, asphaltierten
Radwegen. Kaum sind wir wieder zu Hause, sagt das Mädchen: „Ich möchte Fahrrad
fahren!“ Wohlgemerkt sagt sie es auf Deutsch; überhaupt fragt sie viel, wie
heißt dies und wie heißt jenes. „Wie sagt man auf Deutsch `Ja rodilas v Ulan-Ude?`“ – „Ich bin in Ulan-Ude geboren.“ – „Was
heißt `w`?“ – „In.“ – „In? Das ist aber
ein langes Wort!“ – Manchmal spielt sie schon regelrecht mit der Sprache. Ich
sage: „Achtung!“ Maja: „Neunung!“ Im Konsum kaufe ich gern
Dinge, die es in Ulan-Ude nicht gibt: Rosenkohl, Süßkartoffeln, Broccoli oder
Brötchen zum Aufbacken.
Niso und Maja gefällt es in meiner Heimat,
sicher nicht nur wegen der guten Musik, den bequemen Radwegen und dem leckeren
Essen. Sondern auch wegen der vielen schönen Begegnungen mit meinen Eltern,
einigen Verwandten und Freunden, denen ich mit ein wenig Stolz als Gastgeschenk
mein Buch „Drei Jahre am Baikalsee“ überreiche. Es ist ein schönes Gefühl, ein
eigenes Buch in den Händen zu halten, dessen Texte – leicht überarbeitete und
gekürzte Kapitel des Blogs – über drei Jahre hinweg mit durchaus einigem
Herzblut entstanden sind.
Als etwas schwierig erweist sich für uns anfangs
die niedrige nächtliche Raumtemperatur. Obwohl es in Russland im Winter draußen
deutlich kälter ist, schläft man sehr viel wärmer als in Deutschland üblich. Die Fernwärme ist für unseren Vermieter wohl kein großer Kostenfaktor und es ist egal, ob wir die Heizkörper auf „an“ oder „aus“ stellen - weitere Zwischenstufen gibt es nicht. Die Gasheizung in
dem Haus, wo wir in Deutschland meistens wohnen, ist so eingestellt, dass sie
nachts erst anspringt, wenn der Raum auf sechzehn Grad heruntergekühlt ist. Das
sind etwa sechs Grad weniger als unsere Schlaftemperatur in Ulan-Ude. Meine
Mutter versorgt uns hilfsbereit mit zusätzlichen Decken und Wärmflaschen; sie
selbst schlafe gern mit Mütze auf dem Kopf, was im Übrigen gut zu dem
Sibirienbuch von Karin Hass passe, das sie gerade lese und in dem von minus
fünfzig Grad die Rede seien. Ich erinnere mich an meine Zeltexpeditionen im
Altai und im Kaukasus und daran, wie gerne ich mich dick eingepackt in den
Daunenschlafsack rolle und es genieße, wenn sich an meiner Nase fast ein Eiszapfen
bildet; allerdings war das draußen in der Natur und ohne Familie, ein anderer
Daseinsmodus sozusagen.
Nachts, wenn es draußen am kältesten ist
und man unbeweglich daliegt, sollte doch die Heizung auch am wärmsten sein,
meint Niso, kuschelt sich verstört an mich und bemüht sich, keine Hand unter
den drei Bettdecken in die Kälte hervorragen zu lassen. Wäre es nicht umgekehrt
sinnvoller, tags die Heizung herunterfahren, wenn man aktiv herumläuft?
„Heute kaufe ich einen elektrischen
Heizer“, verkünde ich am nächsten Morgen und füge schnell hinzu, das sich
abzeichnende Entsetzen im Gesicht meiner Mutter falsch deutend:
„Ich zahle auch die Stromrechnung für den
Januar!“
„Aber der Sicherheitsabstand! In dem
kleinen Zimmer ist der gesetzlich vorgeschriebene Mindestabstand zu den
Möbelstücken gar nicht gewährleistet!“
Wir einigen uns schließlich darauf, dass
ich auf den Kauf eines elektrischen Heizers verzichte und die nächtliche
Minimaltemperatur von sechzehn auf neunzehn Grad erhöht wird. Damit es am Tage
schön gemütlich wird, heizt Mutter für uns in der Stube den schicken neuen
Kamin. Lebendiges Feuer, wie wunderbar, viel schöner anzuschauen als ein
Fernseher! Auf dem sibirischen Dorf ist das Heizen eine unumgängliche
Lebensnotwenigkeit, der Kamin in Deutschland dagegen ein Luxus. Ich möchte
einen Stapel Holz nachlegen und greife die ersten besten bereits zerkleinerten
Äste aus dem Schuppen.
„Dieses Holz darf man gar nicht verwenden.
Holz muss erst mindestens zwei Jahre lagern, sonst ist es zu feucht, der
Schornstein verrußt und die Brandgefahr steigt“, erfahre ich. Wenig später
begeben wir uns gemeinsam in den Schuppen, Mutter zeigt mir, welche Stapel
erlaubt sind zum Verheizen, und ich hacke einige große Baumscheiben klein.
„Zweimal im Jahr kommt der Schornsteinfeger und kontrolliert die
Lagerbedingungen des Holzes!“
Besorgt schaue ich nach Maja, die gerade
mit Kreide auf die Wegeplatten im Garten malt. Sicherlich steht schon die
Wasserschutzpolizei vor der Tür und schreibt einen Strafzettel wegen nicht
angemeldeter Kalkauswaschungen ins Grundwasser, geht es mir durch den Kopf.
Nach dreieinhalb Jahren Russland muss ich mich tatsächlich erst wieder daran
gewöhnen, wie viele Dinge doch in Deutschland reguliert sind und dass ein
anderes Maß an Sparsamkeit und Genauigkeit gefragt ist.
Der Begriff des Winters ist sehr relativ.
Schwerlich würde ein Sibirjake das als Winter bezeichnen, was wir in Leipzig
Anfang Januar erlebt haben, grauer Himmel und Regen, zwischendurch mal fast warmer
Sonnenschein und nur einmal am Morgen ein wenig Schnee: eine zärtliches weißes,
vielleicht zwei Zentimeter hohes Deckchen legt sich über Garten, Straße und
Bürgersteig.
„Jeder Hauseigentümer ist verpflichtet, auf
dem Gehweg vor seinem Grundstück Schnee zu räumen“, sagt meine Mutter und
bittet mich, diese Aufgabe zu übernehmen. Als ich wenig später auf der Suche
nach dem Schneeschieber ins Freie trete, ist das weiße Deckchen ringsum schon
wieder getaut; vertrautes Asphaltgrau erfreut die Blicke der anwohnenden
Bürger, Gott sei Dank hat sich die vorgeschriebene Ordnung von selbst wieder
hergestellt.
Niso besucht in einer privaten
Sprachschule jeden Tag einen Deutschkurs. Warum denn das, werde ich manchmal gefragt,
kann sie nicht die Sprache bei mir lernen, schließlich bin ich ihr Mann und
dazu noch Deutschlehrer? Nun, antworte ich dann gern, so einfach ist es leider
nicht, als Mann möchte ich nicht so oft auch noch Pädagoge sein, und zusammen
mit anderen in der Gruppe lernt es sich leichter, weil es ein echtes
Kommunikationsinteresse gibt, eine Neugierde, zu erfahren, wer der Kursnachbar
ist, und mangels anderer gemeinsamer Sprache geht das nur auf Deutsch.
In der Leipziger Christengemeinschaft, sozusagen „meiner“ Kirche, in der ich getauft
und konfirmiert bin, sehen wir das jährliche Oberufer Weihnachtsspiel.
Ich treffe Matthias, einen alten Bekannten aus der Jugendzeit.
„Wo bist du und was machst du?“, fragt
Matthias.
Ich erzähle etwas von Baikalsee, Sibirien
und Deutschunterricht.
„Na, das ist doch mal eine gute Antwort
auf so eine langweilige Standardfrage“, sagt Matthias und wir lachen.
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