Deutschland ist, zumindest von Russland aus betrachtet, das
Land der Brotvielfalt, des Knäckebrotreichtums und der leckeren Aufstriche.
Verschiedene knäckebrotähnliche Waffelprodukte erscheinen nun auch langsam auf
dem russischen Markt; „Dr. Körner Reiswaffeln“ kann man kaufen (ein Umlaut im
Namen – und schon klingt das Produkt sehr deutsch!), und in einem kleinen Spezialgeschäft
gibt es Erdnussmuse, hergestellt in Burjatien, nicht weniger lecker als ein
Alnatura-Erzeungis von REWE.
Nisos
Freundin Olga ist auf Besuch zum Teetrinken. Auf dem Tisch steht eine geöffnetes
Glas Erdnussmus. Olga schlürft Schwarztee und isst das Mus direkt aus dem Glas
mit einem kleinen Löffel. Nach einer Weile rücke ich das Glas ganz unauffällig,
wie ich meine, von ihr weg und schließe den Deckel. Wenig später verabschiede
ich mich zu einem Einkauf und lasse die beiden allein zurück.
„Olga fand es
sehr komisch, dass du das Glas geschlossen hast“, sagt meine Frau später am
Abend zu mir.
„Und ich
fand es seltsam, dass sie das Mus einfach so mit dem Löffel isst, als wäre es
ihre eigene Portion! Das ist doch das Glas für alle. Und außerdem ist das ein
Brotaufstrich, den nimmt man mit dem Messer.“
„Ja, bei
euch ist das so. Hier macht man nicht so viel Brimborium darum. Wenn das Glas
auf dem Tisch steht, kann man da mit seinem Löffel auch reinlangen“, erklärt
mir meine Frau.
„Das Mus wäre
alle geworden, wenn ich Olga noch zehn Minuten länger hätte löffeln lassen“,
rechtfertige ich mich weiter.
„Was auf dem
Tisch steht, ist für den Gast, da gibt es keine Begrenzungen, ob es alle wird
oder nicht. Dann darfst du es nicht auf den Tisch stellen! Der Gast ist König!“
–
„Ich stelle
eben Dinge auf den Tisch und rechne mit der Vernunft des Gastes, davon in Maßen
Gebrauch zu machen.“
Meine Frau
schaut mich vorwurfsvoll an.
„In Maßen! Welche Maße? Du bist in Russland, Thomas“, sagt sie. „So etwas wirkt hier
einfach geizig. Du wusstest doch, dass meine Freundin Erdnussmus mag!“
Maja ist acht
Jahre alt geworden. Zum Geburtstag schenkt Niso ihr eine große Maultrommel aus
dem Altaigebirge und ich ihr ein Kinderbuch: „Der schlaue Urfin und seine
Holzsoldaten“ von Alexander Wolkow, natürlich im russischen Original – als kleiner Junge
habe ich Wolkows Märchenserie „Der
Zauberer der Smaragdenstadt“ in deutscher Übersetzung mit Spannung
verschlungen.
„Tief im
Inneren des gewaltigen nordamerikanischen Kontinents lag, von einer großen
Wüste und unbezwingbaren Bergen umgeben, ein Wunderland“, beginnt die Geschichte, so wie ich sie kenne.
In der neuen russischen Ausgabe von 2016 fehlt dieser Satz komplett. Vielleicht
sollen die Kinder hier nicht so viel von Amerika hören? Auch Kinderbücher können mit
Politik zu tun haben.
Im Januar,
wenn wir in Deutschland sind, überlasse ich meinem Freund Mischa das Auto.
Dafür ist es erforderlich, ihn als Fahrer in die Haftpflichtversicherung
einzutragen. Der Versicherungsvertreter lädt mich freundlich ein, neben seinem
Schreibtisch Platz zu nehmen und macht ein bedauerliches Gesicht. Leider, sagt
er, sei das Unternehmen pleite gegangen, bei dem meine Autohaftpflicht
abgeschlossen wurde. Die Police gelte weiterhin, da die Versicherung ihrerseits
versichert ist, im Falle eines Falles würde trotzdem gezahlt werden, ich könne
ganz unbesorgt sein. Aber einen weiteren Fahrer eintragen, das wäre nun
gänzlich unmöglich. Mein Freund könne entweder eine komplett neue Police auf
seinen Namen abschließen – er biete jetzt eine der größten russischen
Versicherungen an, baldiger Bankrott eher unwahrscheinlich – oder ohne
Haftpflicht Auto fahren. Die erste Variante koste fünftausend Rubel, die zweite
höchstens fünfhundert. So hoch – etwa acht Euro – ist die Strafe, wenn einen
die Polizei anhält und man das Dokument nicht vorzeigen kann.
„Ich
persönlich rate zu zweiter Variante“, sagt der Versicherungsvertreter. „Wozu
auch Geld zum Fenster hinauswerfen. Gibt es eigentlich noch andere Deutsche,
die so wie ich hier freiwillig jahrelang leben? Kann ich mir kaum vorstellen.“
Wir kommen ein wenig ins Plaudern. Der Vertreter ist zufrieden, obwohl er mir
nichts verkauft hat, nett sei es, sich mit mir zu unterhalten, ich solle bald
wiederkommen.
Aus Eisblöcken (oben) werden auf dem Sowjetplatz nach einem genauen Plan kunstvolle Figuren gesägt (unten). Häusliche Basteleien (ganz unten) |