Sonntag, 16. Dezember 2018

Olga und das Erdnussmusglas

Deutschland ist, zumindest von Russland aus betrachtet, das Land der Brotvielfalt, des Knäckebrotreichtums und der leckeren Aufstriche. Verschiedene knäckebrotähnliche Waffelprodukte erscheinen nun auch langsam auf dem russischen Markt; „Dr. Körner Reiswaffeln“ kann man kaufen (ein Umlaut im Namen – und schon klingt das Produkt sehr deutsch!), und in einem kleinen Spezialgeschäft gibt es Erdnussmuse, hergestellt in Burjatien, nicht weniger lecker als ein Alnatura-Erzeungis von REWE.
Nisos Freundin Olga ist auf Besuch zum Teetrinken. Auf dem Tisch steht eine geöffnetes Glas Erdnussmus. Olga schlürft Schwarztee und isst das Mus direkt aus dem Glas mit einem kleinen Löffel. Nach einer Weile rücke ich das Glas ganz unauffällig, wie ich meine, von ihr weg und schließe den Deckel. Wenig später verabschiede ich mich zu einem Einkauf und lasse die beiden allein zurück.
„Olga fand es sehr komisch, dass du das Glas geschlossen hast“, sagt meine Frau später am Abend zu mir.
„Und ich fand es seltsam, dass sie das Mus einfach so mit dem Löffel isst, als wäre es ihre eigene Portion! Das ist doch das Glas für alle. Und außerdem ist das ein Brotaufstrich, den nimmt man mit dem Messer.“
„Ja, bei euch ist das so. Hier macht man nicht so viel Brimborium darum. Wenn das Glas auf dem Tisch steht, kann man da mit seinem Löffel auch reinlangen“, erklärt mir meine Frau.
„Das Mus wäre alle geworden, wenn ich Olga noch zehn Minuten länger hätte löffeln lassen“, rechtfertige ich mich weiter.
„Was auf dem Tisch steht, ist für den Gast, da gibt es keine Begrenzungen, ob es alle wird oder nicht. Dann darfst du es nicht auf den Tisch stellen! Der Gast ist König!“ –
„Ich stelle eben Dinge auf den Tisch und rechne mit der Vernunft des Gastes, davon in Maßen Gebrauch zu machen.“
Meine Frau schaut mich vorwurfsvoll an.
„In Maßen! Welche Maße? Du bist in Russland, Thomas“, sagt sie. „So etwas wirkt hier einfach geizig. Du wusstest doch, dass meine Freundin Erdnussmus mag!“

Maja ist acht Jahre alt geworden. Zum Geburtstag schenkt Niso ihr eine große Maultrommel aus dem Altaigebirge und ich ihr ein Kinderbuch: „Der schlaue Urfin und seine Holzsoldaten“ von Alexander Wolkow, natürlich im russischen Original – als kleiner Junge habe ich Wolkows  Märchenserie „Der Zauberer der Smaragdenstadt“ in deutscher Übersetzung mit Spannung verschlungen.
„Tief im Inneren des gewaltigen nordamerikanischen Kontinents lag, von einer großen Wüste und unbezwingbaren Bergen umgeben, ein Wunderland“, beginnt die Geschichte, so wie ich sie kenne. In der neuen russischen Ausgabe von 2016 fehlt dieser Satz komplett. Vielleicht sollen die Kinder hier nicht so viel von Amerika hören? Auch Kinderbücher können mit Politik zu tun haben.

Im Januar, wenn wir in Deutschland sind, überlasse ich meinem Freund Mischa das Auto. Dafür ist es erforderlich, ihn als Fahrer in die Haftpflichtversicherung einzutragen. Der Versicherungsvertreter lädt mich freundlich ein, neben seinem Schreibtisch Platz zu nehmen und macht ein bedauerliches Gesicht. Leider, sagt er, sei das Unternehmen pleite gegangen, bei dem meine Autohaftpflicht abgeschlossen wurde. Die Police gelte weiterhin, da die Versicherung ihrerseits versichert ist, im Falle eines Falles würde trotzdem gezahlt werden, ich könne ganz unbesorgt sein. Aber einen weiteren Fahrer eintragen, das wäre nun gänzlich unmöglich. Mein Freund könne entweder eine komplett neue Police auf seinen Namen abschließen – er biete jetzt eine der größten russischen Versicherungen an, baldiger Bankrott eher unwahrscheinlich – oder ohne Haftpflicht Auto fahren. Die erste Variante koste fünftausend Rubel, die zweite höchstens fünfhundert. So hoch – etwa acht Euro – ist die Strafe, wenn einen die Polizei anhält und man das Dokument nicht vorzeigen kann.
„Ich persönlich rate zu zweiter Variante“, sagt der Versicherungsvertreter. „Wozu auch Geld zum Fenster hinauswerfen. Gibt es eigentlich noch andere Deutsche, die so wie ich hier freiwillig jahrelang leben? Kann ich mir kaum vorstellen.“ Wir kommen ein wenig ins Plaudern. Der Vertreter ist zufrieden, obwohl er mir nichts verkauft hat, nett sei es, sich mit mir zu unterhalten, ich solle bald wiederkommen.

Aus Eisblöcken (oben) werden auf dem Sowjetplatz nach einem genauen Plan kunstvolle Figuren gesägt (unten). Häusliche Basteleien (ganz unten)