Ob ich wohl später im Leben noch einmal ein eigenes Büro in
bester Innenstadtlage haben werde? Wohl kaum. Ich bemühe mich darum, es jeden
Tag zu schätzen, auch wenn es Momente gibt, in denen ich gelangweilt und
übermüdet bin. Die Arbeit mit den Studenten macht mir, so scheint es, weniger
Spaß als früher, mich nervt ihre Trägheit und Unselbständigkeit, ich muss ihnen
hinterherlaufen und auf sie einreden wie kleinen Kindern, damit sie etwas tun,
bemuttert wollen sie werden, als hätte man es nicht mit erwachsenen Leuten zu
tun. Vielleicht liegt es daran, dass ich älter werde und mein eigener
Lebenshorizont sich immer mehr von dem eines typischen russischen Studenten
unterscheidet? Für ein Stipendium hätten sich viele bewerben können, um im nächsten
Sommer für einen Monat nach Deutschland zu fahren, alle Kosten werden übernommen,
die Chancen, angenommen zu werden, liegen bei fünfzig Prozent – ach, ich weiß
nicht, sagt der eine und schaut auf den Boden, die Bewerbung schaffe ich wohl
nicht, sagt der andere und lächelt gequält. Wie kann es sein, dass die jungen
Leute nicht in das Land reisen möchten, dessen Sprache und Kultur sie
studieren? Eine gewisse Langsamkeit, Trägheit und Unentschlossenheit scheint
mir typisch vor allem für die Burjaten, eine schwer zu greifende Schlaffheit,
vielleicht hat das zu tun mit dem sandigen Boden hier, der alle Energie
absaugt, ich kann es nicht herausfinden.
Meine Bürotür lasse ich gern offen stehen. Mitunter kommen
interessante Leute herein und es ergeben sich unerwartete Gespräche wie neulich
mit Reiseführerin Larisa, die deutschen Touristen Stadt und Umgebung zeigt und
im Sommer den deutschen Botschafter aus Moskau betreute, der für ein paar Tage
in der Region Urlaub machte. Ein ganz aristokratischer, kultivierter, vornehmer
Herr, erzählt sie, ganz steif und kontrolliert in all seinen Bewegungen, als
die Altgläubigen in Tarbagatai bei ihrer touristischen Darbietung ihn zum
Tanzen aufforderten und es nicht recht klappte, fuhr ihn eine der festlich
kostümierten Babuschkas an, was er denn herumstehe wie ein Stock und er solle
jetzt gefälligst in die Gänge kommen, nicht wissend, wer vor ihr steht –
Anonymität hatte für den Botschafter hohe Priorität. Ob ich schon von der Lev-Bardamov-Galerie
gehört habe, fragt mich Larisa, ein großartiges Privatmuseum mit einem Exemplar
der Büßenden Magdalena im Bestand, ein
Gemälde, das seinen Weg von Dresden bis
hierher gefunden habe und kürzlich vergammelt in einem Schuppen aufgefunden worden
war.
Familienausflug
am letzten Wochenende in die Lev-Bardamov-Galerie, ein neuer, gelber Ziegelbau
in der Altstadt mit goldglänzenden Statuen burjatischer Berühmtheiten auf dem
Dach. Schon in der Eingangshalle bin ich stark beeindruckt von einigen tausend
Büchern aus dem neunzehnten und von Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts. Die
nicht hinter Glas stehen, können wir gerne herausnehmen und anfassen, herzlich
willkommen, begrüßt uns die dynamische Museumsleiterin und wirbelt an uns
vorüber zu einer Kindergruppe. Immer mal wieder eilt sie zurück und knipst uns
nach und nach das Licht in den siebzehn Sälen an, während wir aus dem Staunen
nicht herauskommen vor lauter historischen Landkarten, sowjetischen
Telegrafiermaschinen mit einem kyrillischen und einem lateinischen Buchstaben
auf jeder Taste, Grammofonen mit riesigen Trichtern und Samowaren, Tonbändern
und einem dickbauchigen Kühlschrank, dessen Tür an einen Flugzeugeingang
erinnert. Maja wird eingeladen, auf einem kunstvoll beschnitzten , kerzenbeständerten
deutschen Klavier von
achtzehnhundertfünfzig zu spielen, während ich in einem wie neu polierten Wolga-Automobil Platz nehme, Baujahr
dreiundsechzig.
Ich bin
begeistert ob der vielen Dinge, die man anfassen darf, das Museum atmet auf eine
Weise Leben, wie man sie nur selten findet, in Deutschland wären die
Ausstellungsstücke wohl ausnahmslos alle hinter Glas, oder die Besucher könnten
museumspädagogisch-künstlich zurechtgemachte Schubladen öffnen, hier etwas
drehen, dort herumschieben und ein paar interaktive Filmchen schauen. Ebenso
erfreulich: die Abwesenheit von gelangweilten, den Besuchern misstrauisch
hinterherschleichenden Aufsichts-Großmüttern, in jedem Raum eine andere, wie
sonst die Regel.
„Das Museum
ist ja reichhaltiger und ordentlicher als alle anderen städtischen Museen
zusammengenommen“, teile ich meine Euphorie der Museumsleiterin mit und biete
ihr meine Hilfe beim Übersetzen der Exponatbeschriftungen ins Deutsche an.
„Sehr
angenehm, Ajuna“, stellt sie sich vor und schreibt sich meine Telefonnummer
auf. Lev Bardamov, der Eigentümer, Großmeister im Freistilringen, hätte das
alles in eigener Arbeit gesammelt und aufgestellt, Hilfe von der Stadt gäbe es
keine, seine einzige Bitte an die Stadtverwaltung wäre, ihn nicht bei der
Arbeit zu stören mit sinnloser Bürokratie. Ja, die Stadt ist wohl zu nichts in
der Lage und hat kein Geld, pflichte ich ihr bei, traurig, wie die historische
Bausubstanz in der Altstadt zerfällt.
„Die
benachbarte Straße hat der Chef neulich gekauft“, sagt Arjuna, „jetzt lässt er
die Häuser dort alle renovieren!“
Eine Woche
später besuche ich das Museum noch einmal allein – nun kann ich mich
stundenlang in Landkarten und Bücher vertiefen, ohne zu befürchten, dass sich
meine Begleiter langweilen. Durch ein Versehen stehe ich am Vormittag eine
Stunde zu früh vor der Tür. Arjuna kommt heraus und lässt mich eintreten, sie
wäre sowieso immer hier, bitteschön. Ich entdecke eine von mir lange gesuchte
Karte der Republik von Burjatien aus den dreißiger Jahren, kurz nach ihrer
Gründung, als das Territorium noch das Westufer des Baikalsees umfasste,
blättere in einem Buch mit von burjatischen Dichtern verfassten Lobeshymnen auf
Stalin und Lenin und vertiefe mich in eine über hundert Jahre alte Fotografie
des vorrevolutionären Sowjetplatzes, der damals noch Platz auf dem Berg hieß, und der Leninstraße, die damals noch Große Nikolaistraße hieß: eine
Sandpiste, links und rechts ein paar Holzhäuser; aufgenommen wurde das Foto vom
Dach meines Institutsgebäudes, das erste mehrgeschossige Steinhaus in der Stadt
Ulan-Ude, die sich damals noch Werchneudinsk
nannte. Im Hintergrund ragen die Kuppeln dreier Kirchen auf, von denen zwei
heute wieder in Betrieb sind und die dritte unter Stalin abgerissen wurde. Hier
in Sibirien ist die ganze menschliche Kultur- und Bautätigkeit ungleich jünger
als in Europa, es genügt, ein bisschen in der Zeit zurückzugehen, hundert Jahre
oder zweihundert, in den großen Städten allerhöchstens dreihundertfünfzig, um
bei den ersten Anfängen anzulangen: Kosakentrupps, die auf nomadisierende
Ureinwohner trafen.
Arjuna drückt mir einen Kaffee in die Hand,
bittet mich an einen schweren alten Tisch und legt mir einen großformatigen
Band über die Expedition von Zarewitsch Nikolai II. durch Asien vor, 1895,
Verlag: Brockhaus Leipzig. Ein
erhebendes Gefühl, die schweren Seiten umzuwenden, das Auge auf den liebevoll
gestalteten, akkuraten Kupferstichen verweilen zu lassen, am Einband zu riechen
und zu wissen, ein Zeugnis einer vergangenen Epoche vor sich zu haben, aus der
es schon keine lebenden Zeitzeugen mehr gibt. Bei meinem nächsten Besuch, sagt
Arjuna, solle ich zu meinem Lieblingsexponat etwas auf Deutsch erzählen, sie
wird mich filmen und es als Werbung ins Internet stellen, noch fänden viel zu
wenige deutsche Touristen den Weg hierher.
Gebiets- und
Verwaltungsgrenzen verschieben sich, mitunter sind die treibenden Kräfte
dahinter klar, manchmal die Beweggründe auch rätselhaft. Die fünfundachtzig
Subjekte der russischen Föderation, vergleichbar mit den sechzehn deutschen
Bundesländern, werden in acht sogenannten Föderationskreisen
zusammengefasst. Anfang November verkündete Wladimir Putin überraschend, dass
die Republik Burjatien nun nicht mehr zum Sibirischen, sondern zum
Fernöstlichen Föderationskreis gehört. Die Bevölkerung oder Regionalpolitiker
waren zuvor nicht in die Entscheidung eingebunden oder auch nur informiert
worden. Verwaltungstechnisch bildet das Ostufer des Baikals nun eine Einheit
mit Chabarowsk, Wladiwostok und der russischen Pazifikküste, warum, versteht
keiner genau, geografisch und gefühlt ist Burjatien jedenfalls noch längst nicht
der Ferne Osten, sondern Teil Sibiriens.
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Die acht russischen Föderationskreise; Burjatien ist von Sibirien (blau) zu Fernost (gelb) gewechselt |
Die russische Republik Burjatien in den Grenzen von vor 1937 (oben) und nach 1937 (unten) |
Ein Museum zum Anfassen: Maja am Klavier von 1850 |