Sonntag, 9. Dezember 2018

Zeitreise



Ob ich wohl später im Leben noch einmal ein eigenes Büro in bester Innenstadtlage haben werde? Wohl kaum. Ich bemühe mich darum, es jeden Tag zu schätzen, auch wenn es Momente gibt, in denen ich gelangweilt und übermüdet bin. Die Arbeit mit den Studenten macht mir, so scheint es, weniger Spaß als früher, mich nervt ihre Trägheit und Unselbständigkeit, ich muss ihnen hinterherlaufen und auf sie einreden wie kleinen Kindern, damit sie etwas tun, bemuttert wollen sie werden, als hätte man es nicht mit erwachsenen Leuten zu tun. Vielleicht liegt es daran, dass ich älter werde und mein eigener Lebenshorizont sich immer mehr von dem eines typischen russischen Studenten unterscheidet? Für ein Stipendium hätten sich viele bewerben können, um im nächsten Sommer für einen Monat nach Deutschland zu fahren, alle Kosten werden übernommen, die Chancen, angenommen zu werden, liegen bei fünfzig Prozent – ach, ich weiß nicht, sagt der eine und schaut auf den Boden, die Bewerbung schaffe ich wohl nicht, sagt der andere und lächelt gequält. Wie kann es sein, dass die jungen Leute nicht in das Land reisen möchten, dessen Sprache und Kultur sie studieren? Eine gewisse Langsamkeit, Trägheit und Unentschlossenheit scheint mir typisch vor allem für die Burjaten, eine schwer zu greifende Schlaffheit, vielleicht hat das zu tun mit dem sandigen Boden hier, der alle Energie absaugt, ich kann es nicht herausfinden.

Meine Bürotür lasse ich gern offen stehen. Mitunter kommen interessante Leute herein und es ergeben sich unerwartete Gespräche wie neulich mit Reiseführerin Larisa, die deutschen Touristen Stadt und Umgebung zeigt und im Sommer den deutschen Botschafter aus Moskau betreute, der für ein paar Tage in der Region Urlaub machte. Ein ganz aristokratischer, kultivierter, vornehmer Herr, erzählt sie, ganz steif und kontrolliert in all seinen Bewegungen, als die Altgläubigen in Tarbagatai bei ihrer touristischen Darbietung ihn zum Tanzen aufforderten und es nicht recht klappte, fuhr ihn eine der festlich kostümierten Babuschkas an, was er denn herumstehe wie ein Stock und er solle jetzt gefälligst in die Gänge kommen, nicht wissend, wer vor ihr steht – Anonymität hatte für den Botschafter hohe Priorität. Ob ich schon von der Lev-Bardamov-Galerie gehört habe, fragt mich Larisa, ein großartiges Privatmuseum mit einem Exemplar der Büßenden Magdalena im Bestand, ein Gemälde, das seinen Weg  von Dresden bis hierher gefunden habe und kürzlich vergammelt in einem Schuppen aufgefunden worden war.

Familienausflug am letzten Wochenende in die Lev-Bardamov-Galerie, ein neuer, gelber Ziegelbau in der Altstadt mit goldglänzenden Statuen burjatischer Berühmtheiten auf dem Dach. Schon in der Eingangshalle bin ich stark beeindruckt von einigen tausend Büchern aus dem neunzehnten und von Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts. Die nicht hinter Glas stehen, können wir gerne herausnehmen und anfassen, herzlich willkommen, begrüßt uns die dynamische Museumsleiterin und wirbelt an uns vorüber zu einer Kindergruppe. Immer mal wieder eilt sie zurück und knipst uns nach und nach das Licht in den siebzehn Sälen an, während wir aus dem Staunen nicht herauskommen vor lauter historischen Landkarten, sowjetischen Telegrafiermaschinen mit einem kyrillischen und einem lateinischen Buchstaben auf jeder Taste, Grammofonen mit riesigen Trichtern und Samowaren, Tonbändern und einem dickbauchigen Kühlschrank, dessen Tür an einen Flugzeugeingang erinnert. Maja wird eingeladen, auf einem kunstvoll beschnitzten , kerzenbeständerten deutschen Klavier  von achtzehnhundertfünfzig zu spielen, während ich in einem wie neu polierten Wolga-Automobil Platz nehme, Baujahr dreiundsechzig.
Ich bin begeistert ob der vielen Dinge, die man anfassen darf, das Museum atmet auf eine Weise Leben, wie man sie nur selten findet, in Deutschland wären die Ausstellungsstücke wohl ausnahmslos alle hinter Glas, oder die Besucher könnten museumspädagogisch-künstlich zurechtgemachte Schubladen öffnen, hier etwas drehen, dort herumschieben und ein paar interaktive Filmchen schauen. Ebenso erfreulich: die Abwesenheit von gelangweilten, den Besuchern misstrauisch hinterherschleichenden Aufsichts-Großmüttern, in jedem Raum eine andere, wie sonst die Regel.
„Das Museum ist ja reichhaltiger und ordentlicher als alle anderen städtischen Museen zusammengenommen“, teile ich meine Euphorie der Museumsleiterin mit und biete ihr meine Hilfe beim Übersetzen der Exponatbeschriftungen ins Deutsche an.
„Sehr angenehm, Ajuna“, stellt sie sich vor und schreibt sich meine Telefonnummer auf. Lev Bardamov, der Eigentümer, Großmeister im Freistilringen, hätte das alles in eigener Arbeit gesammelt und aufgestellt, Hilfe von der Stadt gäbe es keine, seine einzige Bitte an die Stadtverwaltung wäre, ihn nicht bei der Arbeit zu stören mit sinnloser Bürokratie. Ja, die Stadt ist wohl zu nichts in der Lage und hat kein Geld, pflichte ich ihr bei, traurig, wie die historische Bausubstanz in der Altstadt zerfällt.
„Die benachbarte Straße hat der Chef neulich gekauft“, sagt Arjuna, „jetzt lässt er die Häuser dort alle renovieren!“
Eine Woche später besuche ich das Museum noch einmal allein – nun kann ich mich stundenlang in Landkarten und Bücher vertiefen, ohne zu befürchten, dass sich meine Begleiter langweilen. Durch ein Versehen stehe ich am Vormittag eine Stunde zu früh vor der Tür. Arjuna kommt heraus und lässt mich eintreten, sie wäre sowieso immer hier, bitteschön. Ich entdecke eine von mir lange gesuchte Karte der Republik von Burjatien aus den dreißiger Jahren, kurz nach ihrer Gründung, als das Territorium noch das Westufer des Baikalsees umfasste, blättere in einem Buch mit von burjatischen Dichtern verfassten Lobeshymnen auf Stalin und Lenin und vertiefe mich in eine über hundert Jahre alte Fotografie des vorrevolutionären Sowjetplatzes, der damals noch Platz auf dem Berg hieß, und der Leninstraße, die damals noch Große Nikolaistraße hieß: eine Sandpiste, links und rechts ein paar Holzhäuser; aufgenommen wurde das Foto vom Dach meines Institutsgebäudes, das erste mehrgeschossige Steinhaus in der Stadt Ulan-Ude, die sich damals noch Werchneudinsk nannte. Im Hintergrund ragen die Kuppeln dreier Kirchen auf, von denen zwei heute wieder in Betrieb sind und die dritte unter Stalin abgerissen wurde. Hier in Sibirien ist die ganze menschliche Kultur- und Bautätigkeit ungleich jünger als in Europa, es genügt, ein bisschen in der Zeit zurückzugehen, hundert Jahre oder zweihundert, in den großen Städten allerhöchstens dreihundertfünfzig, um bei den ersten Anfängen anzulangen: Kosakentrupps, die auf nomadisierende Ureinwohner trafen.
Arjuna drückt mir einen Kaffee in die Hand, bittet mich an einen schweren alten Tisch und legt mir einen großformatigen Band über die Expedition von Zarewitsch Nikolai II. durch Asien vor, 1895, Verlag: Brockhaus Leipzig. Ein erhebendes Gefühl, die schweren Seiten umzuwenden, das Auge auf den liebevoll gestalteten, akkuraten Kupferstichen verweilen zu lassen, am Einband zu riechen und zu wissen, ein Zeugnis einer vergangenen Epoche vor sich zu haben, aus der es schon keine lebenden Zeitzeugen mehr gibt. Bei meinem nächsten Besuch, sagt Arjuna, solle ich zu meinem Lieblingsexponat etwas auf Deutsch erzählen, sie wird mich filmen und es als Werbung ins Internet stellen, noch fänden viel zu wenige deutsche Touristen den Weg hierher.

Gebiets- und Verwaltungsgrenzen verschieben sich, mitunter sind die treibenden Kräfte dahinter klar, manchmal die Beweggründe auch rätselhaft. Die fünfundachtzig Subjekte der russischen Föderation, vergleichbar mit den sechzehn deutschen Bundesländern, werden in acht sogenannten Föderationskreisen zusammengefasst. Anfang November verkündete Wladimir Putin überraschend, dass die Republik Burjatien nun nicht mehr zum Sibirischen, sondern zum Fernöstlichen Föderationskreis gehört. Die Bevölkerung oder Regionalpolitiker waren zuvor nicht in die Entscheidung eingebunden oder auch nur informiert worden. Verwaltungstechnisch bildet das Ostufer des Baikals nun eine Einheit mit Chabarowsk, Wladiwostok und der russischen Pazifikküste, warum, versteht keiner genau, geografisch und gefühlt ist Burjatien jedenfalls noch längst nicht der Ferne Osten, sondern Teil Sibiriens.
Die acht russischen Föderationskreise; Burjatien ist von Sibirien (blau) zu Fernost (gelb) gewechselt


Die russische Republik Burjatien in den Grenzen von vor 1937 (oben) und nach 1937 (unten)


Ein Museum zum Anfassen: Maja am Klavier von 1850