Seit etwa zwei Wochen liegt in Ulan-Ude eine dünne, aber
feste und dauerhafte Schneedecke. Unser Außenthermometer vor dem Küchenfenster
zeigt in den Morgenstunden minus zehn Grad. Aller zwei Tage begebe ich mich zu
meinem Lada, freue mich, dass er noch anspringt und lasse den Motor eine
Viertelstunde laufen, damit er nicht einfriert.
Wenige Schritte neben meinem Institut im Zentrum der Stadt
gibt es einen netten Souvenirladen, eine Art burjatischer Ethno-Shop mit
Postkarten und Büchern, Schmuck, Skulpturen und Nationalkleidung. Aus Lautsprechern
vor dem Gebäude erklingen die Stimmen burjatischer Sänger, mit den Lauten einer
Pferdekopfgeige untermalt; Ansagen auf Englisch, Russisch und Burjatisch laden vorübergehende Touristen und Einheimische zum
Verweilen ein. Wie üblich schweifen meine Blicke zuerst Richtung Bücherregal.
Ich ordere einen überhaupt nicht typisch burjatischen, sondern sehr westlichen
Latte macchiato und nehme mit dem Pappbecher in der Hand und einem kleinen
Büchlein über die Geschichte Burjatiens auf einem der gemütlichen Sofas Platz.
Wladimir Chamutaev: „Der Anschluss Burjatiens an Russland – Geschichte und
gegenwärtige Politik“, ich wusste, dass er Autor vor einigen Jahren nach einem
Skandal in die USA ausgewandert war und beginne mich interessiert in die ersten
Seiten zu vertiefen.
In der Tat steckt hinter dem unauffälligen Titel politischer
Sprengstoff: Chamutaev schreibt, dass Burjatien 1661 keineswegs freiwillig der
Russischen Föderation beigetreten sei, wie offiziell behauptet und aller runden
Jahre wieder groß gefeiert. Vielmehr habe es sich um eine Eroberung gehandelt,
eine unfreiwillige Kolonisierung und Russifizierung, die sich bis in die
Gegenwart fortsetzt. Burjatische Politiker sollen stillhalten, Moskaus
Anweisungen ausführen und sich nur nicht daran erinnern, dass das burjatische
Volk kulturell und sprachlich eigentlich den Mongolen viel näher steht. Als
Belege Quellenangaben, Zitate und historische Dokumente; Chamutaev war Wissenschaftler
an der Burjatischen Akademie der Wissenschaften, wo er nach Erscheinen des
Buches 2012 hinausgeworfen wurde. Ich kaufe das Büchlein - dritte Auflage, gerade mal hundert Exemplare - und mache mich auf den
Heimweg.
Wahrscheinlich hat er recht, der Mann, geht es mir durch den
Kopf, warum sonst sollten denn die Kosaken, die gefeierten Pioniere der
Erschließung Sibiriens, überall Festungen errichtet haben, die bisweilen
gestürmt und niedergebrannt wurden, wenn sich die örtliche Bevölkerung ihnen
doch freiwillig unterordnete? Heute dürfen die Burjaten gern ihr Brauchtum und
ihre Sprache pflegen, Tänze und Sportfeste veranstalten und in Ethno-Shops
schamanische Souvenirs verkaufen, solange ihre Eigenständigkeit keine
politische Komponente annimmt und das Verhältnis zum russischen Brudervolk nicht
hinterfragt wird. Ich erinnere mich an die junge Amerikanerin in meinem Chor,
die eine Umfrage unter den Burjaten über ihre nationale Identität durchführen
wollte und die nach wenigen Wochen sehr plötzlich verschwand – wohl unter einem
formellen Vorwand ausgewiesen wurde, weil das Umfragethema eine Tabulinie
überschritt.
Aber ist nicht auch die offizielle russische Haltung
verständlich? Wo kommen wir hin, wenn Anschauungen wie die Chamutaevs sich
durchsetzen? Soll Russland zusammenfallen wie ein Kartenhaus, weil jedes
größere und kleinere Volk eigene Souveränität beansprucht? Wo wären die
Burjaten heute ohne Russland? Es gäbe nichts außer Steppe und ein paar Jurten,
und schreiben könnte auch fast niemand, weil Bildung erst nach der
Oktoberrevolution und der Einführung des kyrillischen Alphabetes unter das Volk
gebracht wurde. Moskau hat einer entlegenen und rückständigen Region den
Anschluss an die Zivilisation ermöglicht, vielleicht ist es besser, die
Burjaten im Glauben eines freiwilligen Anschlusses zu belassen, eine Sage, die
das friedliche Zusammenleben heute mehr befördert als das Bewusstsein, unfreiwillig
kolonisiert worden zu sein.
Trotz der verschiedenen Völker ist die Gesellschaft in
Ulan-Ude in gewisser Weise sehr viel homogener als in Deutschland. Fast nie zu
sehen beispielsweise sind physisch Behinderte. Kürzlich wurde am Eingang
unseres Institutes eine schräge Rampe angebracht, und vor den Schwellen einiger
Lehrräume im Erdgeschoss wurden Bretter befestigt, damit die Stufen
verschwinden: mit Beginn dieses Semesters ist eine Studentin im Rollstuhl
aufgetaucht. Nach drei Jahren die erste an der Uni, die ich sehe! „So viel
Aufwand für einen einzigen Menschen“, meint der Wächter zu mir, als ich die
Errichtung der Rollstuhlrampe lobe. Er kommt nicht auf die Idee, dass andere Behinderte beim Anblick der Treppe bisher einfach zuhause geblieben sein könnten.
In meinem Chor singt seit diesem Semester der Student Makan
aus Mali. Wahrscheinlich ist er der einzige Schwarzafrikaner in der ganzen
Stadt. Makan fühlt sich auf der Straße unwohl, sagt er: man betrachtet ihn –
nicht feindselig, aber unverhohlen neugierig, manche möchten sich mit ihm
fotografieren lassen.
Gerade bin ich auf einer Bildungsmesse in Irkutsk, im
Stadtteil Solnetschnyj, von ostdeutschen Architekten geplant – Irkutsk hatte
partnerschaftliche Beziehungen zu Karl-Marx-Stadt, woran im heutigen Chemnitz noch
die Irkutsker Straße erinnert. Abends jogge ich entlang des Irkutsker
Staubeckens, in das sich der Fluss Angara ergießt, der einzige Abfluss aus dem
Baikalsee. Am Hafen liegt der nach dem Fluss benannte älteste noch erhaltene
Eisbrecher der Welt, der Anfang des 19. Jahrhunderts in das Eis des Sees
Breschen schlug, als die Transsibirische
Eisenbahn am Südufer noch nicht fertiggestellt war. Von Bord des Schiffes,
heute ein Museum, fällt der Blick auf die Staumauer des Irkutsker
Wasserkraftwerkes, dank welchem der Strom für Endverbraucher im Gebiet Irkutsk
ziemlich billig ist. Nach dem Fertigstellen des Staudammes in den 50er Jahren
hatte sich der Wasserspiegel des Baikals um einen halben Meter erhöht.
Abenddämmerung am Irkutsker Staubecken. Der Eisbrecher "Angara", heute ein Museum, ist der älteste erhaltene Eisbrecher der Welt. Im Hintergrund die Staumauer des Irkutsker Wasserkraftwerkes |