Mittwoch, 7. November 2018

Von Ulan-Ude nach Ulan-Bator



Vier Autostunden südlich von Ulan-Ude endet die Herrschaft Moskaus, es beginnt das Reich der Nachkommen Dschinghis-Khans. Die Grenzabfertigung dauert über zwei Stunden. Auf russischer Seite müssen sämtliche Türen, Kofferraum und Motorhaube des Autos geöffnet werden, die Zollbeamten schauen mit einem Spiegel in alle Ritzen von unten und fragen mich, was für ein unüblicher Luftfilter in meinem Lada eingebaut sei. Während Drogenhunde unser Gepäck umschnüffeln, entleere ich den Kofferraum, damit noch die Reserverad-Mulde besichtigt werden kann. Auf dem Rückweg, bei der Wiedereinreise nach Russland, kein Fleisch und keine Milchprodukte, belehrt man uns, Wodka maximal drei Liter.
Auf der mongolischen Seite geht es informeller zu. Nachdem wir durch einen vielleicht mit einem Desinfektionsmittel getränkten Sandkasten gefahren sind, werde ich hierhin und dorthin geschickt, bis sich der richtigen Beamte findet, der die Daten unseres Autos in den Computer einzugeben bereit ist. Währenddessen fragt sein sich offenbar langweilender Kollege Niso und mich in gebrochenem Russisch über unsere Familiensituation und möchte wissen, was wir denn eigentlich nachts machen würden, da wir noch keine gemeinsamen Kinder hätten. Kurz vor der Ausfahrt werden wir noch einmal gebeten zu halten. Ein junger, keiner Fremdsprache mächtiger Soldat geleitet mich in ein kleines Häuschen mit mongolischer Aufschrift und lässt mich dort zunächst allein mit einem kleinen Kind, das mich von der anderen Seite des Tisches neugierig beäugt. Meine Vermutung bestätigt sich, als nach einer Weile die Mitarbeiterin erscheint: hier wird die obligatorische Auto-Haftpflichtversicherung abgeschlossen.
Ziel unserer Reise – man könnte sagen: unserer Hochzeitsreise, schließlich haben Niso und ich vor Kurzem geheiratet – ist die mongolische Hauptstadt Ulan-Bator. In Altanbulag, der kleinen Siedlung hinter der russischen Grenze, funktioniert mangels Strom gerade kein Bankautomat, weshalb wir zunächst ohne mongolische Tugrik die Fahrt fortsetzen. Die nicht schlecht asphaltierte Straße führt durch weite, braungelbe Streppentäler mit großen Viehherden, die sich als hunderte kleine Punkte an den Hängen der Hügel abzeichnen oder sich beim Überqueren der Fahrbahn aus der Nähe studieren lassen. Zwischen Kühen, Pferden, Schafen und Ziegen schreitet stolz ein mächtiges Kamel dahin. Kilometerweit geht es geradeaus, dann wieder in Windungen einen kleinen Pass hinauf, links und rechts mitunter ein paar Häuser oder eine verlorene Jurte, ansonsten ist die Mongolei vor allem eines: leer.
Irgendwann dann – größer könnte der Kontrast nicht sein – taucht die Silhouette Ulan-Bators auf. Rauchende Schlote der Heizkraftwerke und ein Meer von Hochhäusern: die Hälfte aller Mongolen wohnen inzwischen hier, anderthalb Millionen. Auf der sechsspurigen Straße anstrengender Stop-and-go-Verkehr, an den Kreuzungen wedelnde und pfeifende Polizisten, und doch ist ein Hauch Weichheit und Harmonie im Chaos spürbar. Unser russischer Lada erntet neugierige Blicke, die Mongolen fahren fast ausschließlich Japaner, und zwar vor allem Toyota Prius mit Hybridantrieb.
Wir quartieren uns in ein einfaches Hotel einige Kilometer vor dem Zentrum ein. Am zweiten Abend flitzt eine Maus in unserem Zimmer über den Fußboden, wo die wohl herkommt – in der dritten Etage? Ich schlage das Wort im Wörterbuch nach und begebe mich zur Dame an der Rezeption, die nur Mongolisch spricht.
„Chulgana!“, sage ich.
Die junge Frau versteht nicht.
„Chulgana“, wiederhole ich und imitiere mit der Hand die Bewegungen einer Maus über den Fußboden.
Ungläubige Blicke. Ich schreibe ihr das Wort auf einen Zettel.
„Ah, chlgn!“ ruft die Rezeptionistin erstaunt – in ihrem Mund schrumpfen die Laute zu einem kratzigen, spuckigen Konsonantenknäuel zusammen – und ruft sofort den Chef, der ein wenig Russisch kann und uns sofort ein neues Zimmer gibt. Mongolische Wörter sind hart und kurz, auch wenn man das kyrillische Alphabet lesen kann, scheint es noch ein weiter Weg bis zur richtigen Aussprache.
Im Zentrum der mongolischen Hauptstadt wird der sowjetischen Stalin-Klassizismus von Theater und Opernhaus durch futuristisch anmutende Wolkenkratzer überragt, dazwischen globalisierte Coffee-Kultur und Tourist Information-Zentren. Ein wenig außerhalb dann das alte Ulan-Bator, schmutziggraue Jurten hinter einfachen, hohen Bretterzäunen, Rußgeruch in der Luft, an einer Wasserausgabestelle mit Kanistern anstehende Menschen. An einem buddhistischen Tempel baumelt an einem holzgeschnitzen Drachenkopf ein Hakenkreuz. Die Lebensmittel im Supermarkt kommen zu großen Teilen aus Deutschland, der Inhalt einiger Regale könnte unverändert in einem Edeka-Supermarkt stehen.
Auf dem Rückweg kommen wir wieder durch Altanbulag vor der russischen Grenze, wo wir diesmal übernachten. Auf einer Anhöhe steht überlebensgroß Suchebator, der mongolische Revolutionär, der mit Lenins Unterstützung das Land von China unabhängig und nach der Sowjetunion zum zweiten kommunistischen Staat der Welt machte: Ulan bedeutet rot. Im Schein der untergehenden Sonne fällt unser Blick auf den sich über die Hügel hinziehenden, beidseitig von Stacheldraht umgebenen lehmgelben Ackerstreifen, der die Grenze bildet, und dahinter auf die silbriggrau leuchtenden Dächer der orthodoxen Kirche in der russischen Stadt Kjachta, einst ein blühendes Zentrum an der Tee- und Seitenstraße, heute eine unbedeutende Grenzsiedlung, für Ausländer nur mit Sondergenehmigung betretbar. Auch das ruinöse Altanbulag sieht aus, als hat es bessere Zeiten erlebt – zu unserer großen Verwunderung hat jedoch das Museum geöffnet, das Revolutionsmuseum, ein Geschenk des sowjetischen Volkes an das mongolische Brudervolk im Jahre 1971, anlässlich des fünfzigsten Jahrestages des kommunistischen Umsturzes.
Der Verkauf von Zigaretten in der Mongolei ist verboten, entsprechend sieht man sie in den Geschäften nirgendwo. In den Hotelzimmern jedoch steht der Aschenbecher bereit: es darf geraucht werden. Jedes Land hat wohl seine Widersprüche.




In einem mongolischen Imbiss. An der Wand die Nachkommen Dschinghis-Khans