Vier Autostunden südlich von Ulan-Ude endet die Herrschaft Moskaus, es
beginnt das Reich der Nachkommen Dschinghis-Khans. Die Grenzabfertigung dauert
über zwei Stunden. Auf russischer Seite müssen sämtliche Türen, Kofferraum und
Motorhaube des Autos geöffnet werden, die Zollbeamten schauen mit einem Spiegel
in alle Ritzen von unten und fragen mich, was für ein unüblicher Luftfilter in
meinem Lada eingebaut sei. Während Drogenhunde unser Gepäck umschnüffeln,
entleere ich den Kofferraum, damit noch die Reserverad-Mulde besichtigt werden
kann. Auf dem Rückweg, bei der Wiedereinreise nach Russland, kein Fleisch und
keine Milchprodukte, belehrt man uns, Wodka maximal drei Liter.
Auf der mongolischen Seite geht es informeller zu. Nachdem wir durch
einen vielleicht mit einem Desinfektionsmittel getränkten Sandkasten gefahren
sind, werde ich hierhin und dorthin geschickt, bis sich der richtigen Beamte
findet, der die Daten unseres Autos in den Computer einzugeben bereit ist.
Währenddessen fragt sein sich offenbar langweilender Kollege Niso und mich in
gebrochenem Russisch über unsere Familiensituation und möchte wissen, was wir
denn eigentlich nachts machen würden, da wir noch keine gemeinsamen Kinder
hätten. Kurz vor der Ausfahrt werden wir noch einmal gebeten zu halten. Ein
junger, keiner Fremdsprache mächtiger Soldat geleitet mich in ein kleines
Häuschen mit mongolischer Aufschrift und lässt mich dort zunächst allein mit
einem kleinen Kind, das mich von der anderen Seite des Tisches neugierig
beäugt. Meine Vermutung bestätigt sich, als nach einer Weile die Mitarbeiterin
erscheint: hier wird die obligatorische Auto-Haftpflichtversicherung
abgeschlossen.
Ziel unserer Reise – man könnte sagen: unserer Hochzeitsreise,
schließlich haben Niso und ich vor Kurzem geheiratet – ist die mongolische
Hauptstadt Ulan-Bator. In Altanbulag, der kleinen Siedlung hinter der
russischen Grenze, funktioniert mangels Strom gerade kein Bankautomat, weshalb
wir zunächst ohne mongolische Tugrik
die Fahrt fortsetzen. Die nicht schlecht asphaltierte Straße führt durch weite,
braungelbe Streppentäler mit großen Viehherden, die sich als hunderte kleine
Punkte an den Hängen der Hügel abzeichnen oder sich beim Überqueren der
Fahrbahn aus der Nähe studieren lassen. Zwischen Kühen, Pferden, Schafen und
Ziegen schreitet stolz ein mächtiges Kamel dahin. Kilometerweit geht es
geradeaus, dann wieder in Windungen einen kleinen Pass hinauf, links und rechts
mitunter ein paar Häuser oder eine verlorene Jurte, ansonsten ist die Mongolei
vor allem eines: leer.
Irgendwann dann – größer könnte der Kontrast nicht sein – taucht die
Silhouette Ulan-Bators auf. Rauchende Schlote der Heizkraftwerke und ein Meer
von Hochhäusern: die Hälfte aller Mongolen wohnen inzwischen hier, anderthalb
Millionen. Auf der sechsspurigen Straße anstrengender Stop-and-go-Verkehr, an
den Kreuzungen wedelnde und pfeifende Polizisten, und doch ist ein Hauch
Weichheit und Harmonie im Chaos spürbar. Unser russischer Lada erntet
neugierige Blicke, die Mongolen fahren fast ausschließlich Japaner, und zwar
vor allem Toyota Prius mit Hybridantrieb.
Wir quartieren uns in ein einfaches Hotel einige Kilometer vor dem
Zentrum ein. Am zweiten Abend flitzt eine Maus in unserem Zimmer über den
Fußboden, wo die wohl herkommt – in der dritten Etage? Ich schlage das Wort im
Wörterbuch nach und begebe mich zur Dame an der Rezeption, die nur Mongolisch
spricht.
„Chulgana!“, sage ich.
Die junge Frau versteht nicht.
„Chulgana“, wiederhole ich und imitiere mit der Hand die Bewegungen
einer Maus über den Fußboden.
Ungläubige Blicke. Ich schreibe ihr das Wort auf einen Zettel.
„Ah, chlgn!“ ruft die Rezeptionistin erstaunt – in ihrem Mund
schrumpfen die Laute zu einem kratzigen, spuckigen Konsonantenknäuel zusammen –
und ruft sofort den Chef, der ein wenig Russisch kann und uns sofort ein neues
Zimmer gibt. Mongolische Wörter sind hart und kurz, auch wenn man das
kyrillische Alphabet lesen kann, scheint es noch ein weiter Weg bis zur
richtigen Aussprache.
Im Zentrum der mongolischen Hauptstadt wird der sowjetischen
Stalin-Klassizismus von Theater und Opernhaus durch futuristisch anmutende
Wolkenkratzer überragt, dazwischen globalisierte Coffee-Kultur und Tourist Information-Zentren.
Ein wenig außerhalb dann das alte Ulan-Bator, schmutziggraue Jurten hinter
einfachen, hohen Bretterzäunen, Rußgeruch in der Luft, an einer
Wasserausgabestelle mit Kanistern anstehende Menschen. An einem buddhistischen
Tempel baumelt an einem holzgeschnitzen Drachenkopf ein Hakenkreuz. Die
Lebensmittel im Supermarkt kommen zu großen Teilen aus Deutschland, der Inhalt einiger
Regale könnte unverändert in einem Edeka-Supermarkt stehen.
Auf dem Rückweg kommen wir wieder durch Altanbulag vor der russischen
Grenze, wo wir diesmal übernachten. Auf einer Anhöhe steht überlebensgroß
Suchebator, der mongolische Revolutionär, der mit Lenins Unterstützung das Land
von China unabhängig und nach der Sowjetunion zum zweiten kommunistischen Staat
der Welt machte: Ulan bedeutet rot. Im Schein der untergehenden Sonne fällt unser Blick auf den
sich über die Hügel hinziehenden, beidseitig von Stacheldraht umgebenen
lehmgelben Ackerstreifen, der die Grenze bildet, und dahinter auf die
silbriggrau leuchtenden Dächer der orthodoxen Kirche in der russischen Stadt
Kjachta, einst ein blühendes Zentrum an der Tee- und Seitenstraße, heute eine
unbedeutende Grenzsiedlung, für Ausländer nur mit Sondergenehmigung betretbar.
Auch das ruinöse Altanbulag sieht aus, als hat es bessere Zeiten erlebt – zu unserer
großen Verwunderung hat jedoch das Museum geöffnet, das Revolutionsmuseum, ein Geschenk des sowjetischen Volkes an das
mongolische Brudervolk im Jahre 1971, anlässlich des fünfzigsten Jahrestages
des kommunistischen Umsturzes.
Der Verkauf von Zigaretten in der Mongolei ist verboten, entsprechend
sieht man sie in den Geschäften nirgendwo. In den Hotelzimmern jedoch steht der
Aschenbecher bereit: es darf geraucht werden. Jedes Land hat wohl seine
Widersprüche.
In einem mongolischen Imbiss. An der Wand die Nachkommen Dschinghis-Khans |