Montag, 12. November 2018

Musikschule auf russisch


Mit Maja zusammen betrete ich an einem Donnerstagmorgen die Musikschule Nummer eins. Beim Elternabend zu Beginn des Schuljahres hatte man verkündet, dass sich die Eltern durchaus auch mit in den Unterricht setzen könnten. Wir betreten das zweigeschossige Ziegelgebäude und lenken unsere Schritte in das als Garderobe fungierende Zimmer gegenüber des Eingangs, aus dem eine Wächterin mit ausdruckslosem Gesicht auf alle Eintretenden blickt.
„Eltern vor der Garderobe warten“, sagt sie.
In Russland wird man entweder ignoriert, angeranzt oder die Menschen ergießen die warme Fülle ihrer reichhaltigen Seele vor einem. Neutrale, sachliche Freundlichkeit ist weitgehend unbekannt.
„Ich möchte mich gern mit in den Unterricht setzen“, erkläre ich.
„Bei wem?“, ranzt sie ungläubig weiter.
Ich nenne die Namen der Pädagogen. Die alte Dame nickt streng. Ich darf meine Jacke aufhängen und mit Maja die Treppe zur ersten Etage hinaufgehen.
Wir sind ein paar Minuten zu früh und warten vor der Tür, hinter dem die Probe des Kinderchores stattfinden wird.
„Eltern werden gebeten, unten zu warten“, sagt eine vorbeischreitende Lehrkraft und mustert mich wie einen ungebetenen Eindringling.
„Ich möchte mir gern einmal den Unterricht anhören“, sage ich freundlich.
Etwas später betreten wir mit fünfzehn anderen kleinen Kindern den Raum, in dem schon die junge Chorleiterin am Flügel steht. Mit entschuldigender Mine kommt sie auf mich zu.
„Sie wollen mit in den Unterricht? Ja, wissen Sie, vor kurzem hat der Pädagogische Rat getagt – es ist jetzt eigentlich doch nicht mehr erwünscht, dass die Eltern mitkommen. Die Musikschule erwartet eine Überprüfung, ob die Anti-Terror-Maßnahmen eingehalten werden, und dazu gehört, dass keine Begleitpersonen zugelassen sind. Tut mir leid!“
Ich zucke mit den Schultern und gehe nach Hause. Wenig später komme ich trotzdem wieder, zu Majas zweiter Stunde, dem Klavierunterricht. Die Wächterin scheint über die neuen Anti-Terror-Maßnahmen noch nicht vollständig informiert und lässt mich wortlos durch.
Als ich eintrete, spielt Maja gerade das „Schnelle Bächlein“, flinke Achtelbewegungen in der rechten Hand, kurze Bässe in der linken, Dreiertakt. Elena Wasiljewna, eine hagere ältere Dame mit Lederhose und dünner Nase, sitzt daneben und verzieht das Gesicht.
Pause.
„Und, hast du wenigstens selbst deine Fehler bemerkt?“, sagt sie und seufzt, nachdem sie meine Anwesenheit mit einem Kopfnicken zur Kenntnis genommen hat.
„Die vollen Zählzeiten hier mehr betonen, hier nicht unnötig beschleunigen, hier die rechte Hand mehr hervorheben. Das sage ich schon seit zwei Wochen. Du musst üben. Bald kommt die Prüfung. Du musst vor einer Kommission spielen. Was sollen die sagen? Nochmal.“
Maja beginnt von neuem.
„Nein!“, sagt Elena Wasiljewna und unterbricht sie nach zwei Takten. Wieder ein Schwall von detaillierten Informationen, hier etwas lauter, dort nuancierter, hier geringfügig Crescendo, dort ein leichtes Riterdando. Ich vermute, das meiste geht an den Ohren des siebenjährigen Mädchens eher vorbei.
Maja beginnt erneut.
„Nein!“, sagt Elena Wasiljewna. „Was habe ich gerade gesagt? Du musst zuhause üben!“
„Wir üben zuhause…“, erlaube ich mir einen vorsichtigen Kommentar von hinten.
„Ich sehe kein Resultat“, unterbricht die Pädagogin säuerlich, ohne mich anzusehen. „Nochmal. Guckst du überhaupt in die Noten? Was ist das hier? Welche Länge hat diese Note? Na also!“
Maja schaut in die Noten – ich weiß allerdings, dass sie dort nicht allzuviel sieht: Maja spielt per Nachahmung und auswendig. Das Thema „Notenlesen lernen“ wurde weitgehend übersprungen – offensichtlich hat das schon zu können, wer Musikschule Nummer eins betritt, die Wiege aller burjatischer Musikkultur.
Nach zehn Minuten das nächste Stück, ein ähnlicher Schwall an freudloser Detailinformation, dann das dritte. Maja gähnt.
„Bist du schon müde oder was? Ja, das ist wirklich keine Freude mit dir heute“, sagt Elena Wasiljewna und holt ein neues Notenheft aus dem Schrank. „Jetzt üben wir Vom-Blatt-lesen!“
Ich sitze ratlos grübelnd auf meinem Stuhl und überlege, dass ich gern einmal mit der Lehrerin  sprechen würde, ihr etwas von motivierender Pädagogik und von Freude beim Musizieren erzählen, spüre aber deutlich, dass es keinen Zweck hat – die Frau würde mich anschauen wie einen Außerirdischen. Eigentlich könnte sie mir ja mal ein paar Fragen stellen, statt mich weitgehend zu ignorieren, geht es mir durch den Kopf: was ich für einen Bezug zur Musik habe und wie denn unser tägliches Üben so verläuft? Wahrscheinlich wären meine Bemerkungen aber überflüssig: sie stören das strenge Programm. Die Kommission. Das Examen. Die Disziplin. Das ist die Welt der sowjetischen Pädagogik. Eine eiserne Schule: wohl dem, der dem Druck standhält, gequält, aber gestählt und leistungsfähig wird er daraus hervorgehen und sein eigenes Gequält-worden-sein an die nächste Generation weitergeben, weil er nichts anderes kennengelernt hat. Wer ein Schwächling ist, wird zerbrechen, wird nach einem halben, einem oder drei Jahren weinend davonlaufen und nie wieder ein Instrument anfassen.
„Geht Maja wirklich in dieses Irrenhaus?“, hatte mein Bekannter Mischa vor kurzem gefragt, dessen eigene Tochter nach drei Monaten Musikschule frustriert das Handtuch geworfen hatte, und ich hatte ihn gebeten, in Majas Gegenwart nicht so zu sprechen, da sie die Freudlosigkeit und Strenge im Moment ganz gut aushält, noch perlt es an ihrem kindlichen Gemüt ab.
Molodjéz“, sage ich zu Maja auf dem Heimweg, „gut gemacht heute!“ Sie freut sich über mein Lob. Ich freue mich auf unsere Übersiedlung nach Deutschland. Die trockene, kleinliche und verkrampfte Pädagogik, deren Geist wohl als ein Erbe aus vergangenen Zeiten in Russland noch heute überall weht, steht ganz oben auf der Liste von Dingen, von denen ich die Nase, nein: die Schnauze ordentlich voll habe.