Mit Maja zusammen betrete ich an einem Donnerstagmorgen die
Musikschule Nummer eins. Beim Elternabend zu Beginn des Schuljahres hatte man
verkündet, dass sich die Eltern durchaus auch mit in den Unterricht setzen
könnten. Wir betreten das zweigeschossige Ziegelgebäude und lenken unsere
Schritte in das als Garderobe fungierende Zimmer gegenüber des Eingangs, aus
dem eine Wächterin mit ausdruckslosem Gesicht auf alle Eintretenden blickt.
„Eltern vor der Garderobe warten“, sagt sie.
In Russland wird man entweder ignoriert, angeranzt oder die Menschen ergießen
die warme Fülle ihrer reichhaltigen Seele vor einem. Neutrale, sachliche
Freundlichkeit ist weitgehend unbekannt.
„Ich möchte mich gern mit in den Unterricht setzen“, erkläre ich.
„Bei wem?“, ranzt sie ungläubig weiter.
Ich nenne die Namen der Pädagogen. Die alte Dame nickt streng. Ich
darf meine Jacke aufhängen und mit Maja die Treppe zur ersten Etage
hinaufgehen.
Wir sind ein paar Minuten zu früh und warten vor der Tür, hinter dem
die Probe des Kinderchores stattfinden wird.
„Eltern werden gebeten, unten zu warten“, sagt eine vorbeischreitende
Lehrkraft und mustert mich wie einen ungebetenen Eindringling.
„Ich möchte mir gern einmal den Unterricht anhören“, sage ich
freundlich.
Etwas später betreten wir mit fünfzehn anderen kleinen Kindern den
Raum, in dem schon die junge Chorleiterin am Flügel steht. Mit entschuldigender
Mine kommt sie auf mich zu.
„Sie wollen mit in den Unterricht? Ja, wissen Sie, vor kurzem hat der
Pädagogische Rat getagt – es ist jetzt eigentlich doch nicht mehr erwünscht,
dass die Eltern mitkommen. Die Musikschule erwartet eine Überprüfung, ob die
Anti-Terror-Maßnahmen eingehalten werden, und dazu gehört, dass keine Begleitpersonen
zugelassen sind. Tut mir leid!“
Ich zucke mit den Schultern und gehe nach Hause. Wenig später komme
ich trotzdem wieder, zu Majas zweiter Stunde, dem Klavierunterricht. Die
Wächterin scheint über die neuen Anti-Terror-Maßnahmen noch nicht vollständig
informiert und lässt mich wortlos durch.
Als ich eintrete, spielt Maja gerade das „Schnelle Bächlein“, flinke
Achtelbewegungen in der rechten Hand, kurze Bässe in der linken, Dreiertakt.
Elena Wasiljewna, eine hagere ältere Dame mit Lederhose und dünner Nase, sitzt
daneben und verzieht das Gesicht.
Pause.
„Und, hast du wenigstens selbst deine Fehler bemerkt?“, sagt sie und
seufzt, nachdem sie meine Anwesenheit mit einem Kopfnicken zur Kenntnis
genommen hat.
„Die vollen Zählzeiten hier mehr betonen, hier nicht unnötig
beschleunigen, hier die rechte Hand mehr hervorheben. Das sage ich schon seit
zwei Wochen. Du musst üben. Bald kommt die Prüfung. Du musst vor einer
Kommission spielen. Was sollen die sagen? Nochmal.“
Maja beginnt von neuem.
„Nein!“, sagt Elena Wasiljewna und unterbricht sie nach zwei Takten.
Wieder ein Schwall von detaillierten Informationen, hier etwas lauter, dort
nuancierter, hier geringfügig Crescendo, dort ein leichtes Riterdando. Ich
vermute, das meiste geht an den Ohren des siebenjährigen Mädchens eher vorbei.
Maja beginnt erneut.
„Nein!“, sagt Elena Wasiljewna. „Was habe ich gerade gesagt? Du musst
zuhause üben!“
„Wir üben zuhause…“, erlaube ich mir einen vorsichtigen Kommentar von
hinten.
„Ich sehe kein Resultat“, unterbricht die Pädagogin säuerlich, ohne
mich anzusehen. „Nochmal. Guckst du überhaupt in die Noten? Was ist das hier?
Welche Länge hat diese Note? Na also!“
Maja schaut in die Noten – ich weiß allerdings, dass sie dort nicht
allzuviel sieht: Maja spielt per Nachahmung und auswendig. Das Thema
„Notenlesen lernen“ wurde weitgehend übersprungen – offensichtlich hat das
schon zu können, wer Musikschule Nummer eins betritt, die Wiege aller
burjatischer Musikkultur.
Nach zehn Minuten das nächste Stück, ein ähnlicher Schwall an
freudloser Detailinformation, dann das dritte. Maja gähnt.
„Bist du schon müde oder was? Ja, das ist wirklich keine Freude mit
dir heute“, sagt Elena Wasiljewna und holt ein neues Notenheft aus dem Schrank.
„Jetzt üben wir Vom-Blatt-lesen!“
Ich sitze ratlos grübelnd auf meinem Stuhl und überlege, dass ich gern
einmal mit der Lehrerin sprechen würde, ihr etwas von motivierender Pädagogik
und von Freude beim Musizieren erzählen, spüre aber deutlich, dass es keinen
Zweck hat – die Frau würde mich anschauen wie einen Außerirdischen. Eigentlich
könnte sie mir ja mal ein paar Fragen stellen, statt mich weitgehend zu
ignorieren, geht es mir durch den Kopf: was ich für einen Bezug zur Musik habe
und wie denn unser tägliches Üben so verläuft? Wahrscheinlich wären meine
Bemerkungen aber überflüssig: sie stören das strenge Programm. Die Kommission.
Das Examen. Die Disziplin. Das ist die Welt der sowjetischen Pädagogik. Eine
eiserne Schule: wohl dem, der dem Druck standhält, gequält, aber gestählt und
leistungsfähig wird er daraus hervorgehen und sein eigenes Gequält-worden-sein
an die nächste Generation weitergeben, weil er nichts anderes kennengelernt
hat. Wer ein Schwächling ist, wird zerbrechen, wird nach einem halben, einem
oder drei Jahren weinend davonlaufen und nie wieder ein Instrument anfassen.
„Geht Maja wirklich in dieses Irrenhaus?“, hatte mein Bekannter Mischa
vor kurzem gefragt, dessen eigene Tochter nach drei Monaten Musikschule
frustriert das Handtuch geworfen hatte, und ich hatte ihn gebeten, in Majas
Gegenwart nicht so zu sprechen, da sie die Freudlosigkeit und Strenge im Moment
ganz gut aushält, noch perlt es an ihrem kindlichen Gemüt ab.
„Molodjéz“, sage ich zu Maja
auf dem Heimweg, „gut gemacht heute!“ Sie freut sich über mein Lob. Ich freue
mich auf unsere Übersiedlung nach Deutschland. Die trockene, kleinliche und
verkrampfte Pädagogik, deren Geist wohl als ein Erbe aus vergangenen Zeiten in
Russland noch heute überall weht, steht ganz oben auf der Liste von Dingen, von denen
ich die Nase, nein: die Schnauze ordentlich voll habe.