Samstag, 30. Juni 2018

Axt und Auge

An einer Ausfahrt der Bundesstraße M-55 läuft ein Mann an einer Schranke hin- und her, etwa vier Fahrtstunden von Ulan-Ude entfernt, kurz hinter dem Ortsausgangsschild der Siedlung Baikalsk am südlichen Baikalufer. Hinter der Schranke steht ein verrottetes bräunliches Raupenfahrzeug, dahinter ein großer, gelber, etwas rostiger Bagger. Ich halte, steige aus und spreche den Mann vor der Schranke an, die mir entgegenbellenden Hunde tapfer ignorierend.
- Laut meiner Karte sollte hier bei Ihnen ein Wanderweg in die Berge beginnen…?
Der Raupen- und Baggerwächter nickt.
- Vielleicht können Sie drei oder vier Tage lang auf mein Auto aufpassen…?
Hundert Rubel pro Tag würde ein bewachter Parkplatz hinter seiner Schranke kosten, sagt der Mann, etwa einen Euro fünfzig also, zieht die Absperrung zur Seite und bedeutet mir, den Wagen am Wegrand unter der Baggerschaufel abzustellen, keine Sorge, der fährt nicht mehr, hier störe ich niemanden. Und um in die Berge zu gelangen, müsse ich einfach dem Waldweg nach rechts folgen, einmal durch die Müllhalde hindurch und dann immer den Pfad am Flussufer entlang.
Ich bedanke mich, schultere meinen Rucksack, greife die Wanderstöcke und mache mich fröhlich auf den Weg, um den Pik Porozhistyj zu bezwingen, laut Karte 2025 Meter hoch, laut Reiseführer sehr schroff und sehr schön. Strahlend blauer Himmel, Sonnenschein mit nur wenigen weißen Wölkchen, Salami, Käse und Rosinen im Gepäck, Ausrüstung mit Zelt und Schlafsack für vier Tage, ich leiste es mir sogar, das schwere Fernglas meiner Freundin mitzuschleppen und Malzeug, vielleicht überkommt mich ja die Muße für das eine oder andere Aquarell.
Hinter besagter rechter Wegbiegung ein grauenhafter Anblick: hunderte Meter weit Haushalts- und Gewerbemüll, einfach auf Freiflächen zwischen den Bäumen gekippt und vom Wind durch die Gegend geweht. Der Raupen- und Baggerwächter bewacht also eigentlich die Einfahrt zur städtischen Müllkippe; von Wiederverwertung oder auch nur Verbrennung hat hier noch nie jemand etwas gehört. In schnellem Laufschritt durchquere ich den stinkenden Arsch der Zivilisation und finde mich wenig später umflort von reinstem Taigawald an einem romantisch dahinperlenden Bergfluss wieder.
Gegen Abend, sechs Stunden später, nähere ich mich der Baumgrenze und erreiche einen auf drei Seiten von nackten Bergwänden umgebenen Kessel. Rauchgeruch verkündet Lagerfeuer und Menschennähe, mein Zelt gesellt sich zu einigen anderen. Ich schüttele drei Zecken aus meiner Kleidung und sinniere über Sinn und Unsinn meiner nicht vorhandenen Zeckenimpfung nach: damals, vor meinem Umzug an den Baikalsee, hatte ich mich dazu belesen und war zu dem Schluss gekommen, dass die Wahrscheinlichkeit, die Nebenwirkungen der Impfung nicht zu überleben, etwa ähnlich hoch ist wie die, an Enzephalitis zu sterben.
Über ein mit großen schwarzgrauen Felsbrocken übersätes, latschenkiefernbewachsenes Geröllfeld steige ich am nächsten Tag zum Pass auf, ohne Zelt, nur mit leichtem Gepäck. Meine Kamera füllt sich mit Fotos von Knabenkraut, Akelei, gelb blühendem Rhododendron und schmalblättrigem, weiß blühendem Sagan Dali, dessen lanzettliche Blätter aufgrund ihrer ätherischen Öle als Zusatz für den Tee geschätzt und auf den Märkten verkauft werden. Für die Beerensaison bin ich leider einen Monat zu früh, blühendes Blaubeergestrüpp lässt die Freuden eines Wanderers erahnen, der sich im August hierher aufmacht; jetzt, Ende Juni, gibt es lediglich erste aromatische Walderdbeeren, von der Dorfjugend an der Bundesstraße für zweihundert Rubel pro kleinem Becher verkauft.
Entlang des Grates steige ich dem Gipfel entgegen, vorbei an schroffen und ausgesetzten Stellen, ein falscher Schritt und Gute Nacht, aber es ist trocken und windstill, bestes, stabiles Wetter, als völlig schwindelfreier und sehr trittsicherer Wanderer fühle ich mich in meinem Element. Schwungvoll zum Ziel, noch geschätzte fünfzehn Minuten bis zum Gipfel! Ehe ich verstehe, was passiert, habe ich einen Kiefernzweig im Gesicht. Die Vorwärtsbewegung ist nicht mehr aufzuhalten. Der Zweig schiebt sich unter der Brille hindurch, schon sind die Nadeln im linken Auge. Ich taumle zurück und reibe mir die schmerzende Stelle. Einige Nadeln sind offensichtlich steckengeblieben, aber es gelingt mir nicht, sie zu entfernen, nicht mit Reiben und nicht mit Wasser.
In den Bergen können verschiedene kleinere und größere Unglücke passieren: man läuft sich wund, friert sich etwas ab oder bricht ein Gliedmaß, aber eine Verletzung am Auge? Ein untypischer Bergunfall.
Nach einer Weile scheint es, als sei der Schmerz fast verschwunden. Ich bezwinge die letzten hundert Meter und stehe wenig später auf dem Pik Porozhistyj. Zwei Stäbe markieren den höchsten Punkt, auf dem kleinen Plateau haben kaum drei Menschen nebeneinander Platz, eine Gedenktafel erinnert an ein 1992 abgestürztes Mädchen. Grandioser Blick über das Chamar-Daban-Gebirge und den Südbaikal, theoretisch, wenn man nicht gerade eine  Nadel im Auge hat. Schade! Vorsichtig trete ich den Rückweg zum Zelt an, anderthalbäugig.
Als ich am späten Nachmittag den Lagerplatz im Kessel erreiche, kommen gerade zwei Männer von unten aus dem Tal herauf. Ob ich oben gewesen sei? Glückwunsch zum Gipfel! Wenig später höre ich aus der Richtung ihres Zeltes Axtschläge und Feuerprasseln. Ich sehne mich nach Unterhaltung, die mich von den schmerzenden Nadeln in meinem linken Auge ablenkt.
- Warum nehmen die Menschen in Russland eigentlich immer eine Axt mit in den Wald?
Das Brennholz neben dem Feuer und das darüber aufgebaute selbst gezimmerte Tagan-Gestell zum Aufhängen des Wasserkessels beantworten meine Frage eigentlich schon von selbst. Der ältere der beiden macht einen gebildeten Eindruck und blickt mich durch dicke Brillengläser schmunzelnd an.
- Jevgenij aus Baikalsk, sehr angenehm! Deutscher? Immer eine Freude, mit Vertretern einer anderen Kultur zu sprechen. Was machst du, wenn plötzlich Hochwasser kommt und alle Brücken wegspült? Dann hackst du mit der Axt ein paar Stämme und baust dir neue. Das ist die Taiga! Die große russische Freiheit! So etwas gibt es bei euch in Westeuropa nicht! Wir haben sogar ein eigenes Wort dafür: wolja, das ist mehr als bloß svoboda
Mein linkes Auge vergessend, folge ich Evgenijs Gedanken über wolja, die große russische Freiheit, und nicke zustimmend, ja, zum Gesetz hätten die Russen ganz offensichtlich ein indirekteres, freies Verhältnis…
- Ist nicht laut Verfassung das Volk die höchste Macht? Und wenn ein Gesetz offensichtlich von einem Dummkopf gemacht wurde, wenn es einfach idiotisch ist, dann darf und muss man es ignorieren!
Ob er ein Beispiel hätte für ein solches Gesetz?
- Rings um den Baikalsee ist der Bau von Industrieanlagen verboten. Darunter fällt auch die Müllverbrennung. Deshalb gibt es keine andere Möglichkeit, sich der Abfälle zu entledigen, als sie einfach in den Wald zu kippen!
Wie es sich denn ohne den Hauptarbeitgeber in Baikalsk lebe, möchte ich wissen, auf das 2013 geschlossene Zellulosewerk anspielend, das einige tausend Leute beschäftigt hatte.
- Wunderbar! Als das Werk zumachte, habe ich eine Flasche Sekt geöffnet. Jagen, fischen, angeln, manche leben überhaupt nur von der Natur hier…
Der Schmerz im Auge kehrt zurück und  erinnert mich daran, dass ich noch etwas anderes von ihm wollte. Ob er nicht einen Augenarzt in Baikalsk kenne?
- Gerade vorgestern war ich dort! Leider habe ich die Telefonnummer nicht dabei! Ich rufe kurz meine Frau an, die gibt sie mir durch, einen Moment bitte!
Nach zwei Stunden kommt Jewgenij zurück und schreibt mir Namen, Adresse und Telefonnummer der Baikalsker Augenärztin auf einen Zettel. Nach dem Abstieg solle ich unverzüglich dorthin gehen, mit den Augen solle man lieber nicht spaßen, das wisse er aus eigener Erfahrung. Die Kiefernnadeln brennen mit jeder Bewegung des Augapfels und versetzen mich in eine weinerlich-gesprächige Stimmung. Bestimmt habe der Schmerz einen tiefen Sinn, hebe ich an, im Alltag schätzt man es viel zu wenig, mit zwei gesunden Augen herumzulaufen…
- Jetzt ist aber einer unter die Philosophen gegangen! Ich leide an einer Augenkrankheit, die mich früher oder später erblinden lässt. Deshalb gehe ich möglichst oft in die Berge, damit ich dann, wenn ich mit weißem Stöckchen umherlaufe, viele schöne Erinnerungen habe.
Ob er denn hier Handyempfang habe?
- Nein, aber ganz oben auf dem Gipfel, hervorragende Verbindung!
In zwei Stunden ist der Mann einmal hinauf- und hinuntergesprintet, um für mich mit seiner Frau zu telefonieren, nicht schlecht! Ich bedanke mich und gehe zu meinem Zelt, ich solle an die große sibirische Freiheit denken und das nächste Mal die Axt nicht vergessen, sagt Jevgenij zum Abschied.
Gegen fünf Uhr wache ich zusammen mit der Sonne auf. Meine Hoffnungen auf wundersame nächtliche Selbstheilung haben sich nicht erfüllt. Ich klemme mir ein Taschentuch zwischen Brillenglas und Auge und trete den Rückweg ins Tal einäugig an, überraschend stolperfrei, Entfernungen nehme ich nicht wahr, sondern greife auf Erfahrungswerte zurück. Nach fünf Stunden durchquere ich die stinkende Müllhalde und stehe an der Bundesstraße. Der Müllhaldenwächter bekommt fünfhundert Rubel, damit er mein Auto noch etwas länger bewacht, und bestellt mir ein Taxi zur Augenärztin.
 - Schätzen Sie nicht auch die Sauberkeit des Baikals nach der Schließung des Zellulosewerks?
Achselzucken. Weniger Fische gebe es leider seitdem, die hätten sich wohl vom Plankton ernährt, das wiederum von den Abwässern der Fabrik gedüngt wurde.
Zum Glück gibt es in Baikalsk neben der kostenlosen und meistens schlechten Gesundheitsvorsorge im staatlichen Krankenhaus noch eine kleine, gut ausgestattete, kostenpflichtige Augenklinik.
Schmerzmittel eingeträufelt, Auge geöffnet und vors Mikroskop: keine Fremdkörper, nur Hornhaut beschädigt, Sehfeld nicht beeinträchtigt, wird von selbst vollständig ausheilen. Die Augenärztin verschreibt mir vier verschiedene Tropfen, sechs Mal am Tag fünf Tage lang anzuwenden. Die Rückfahrt nach Ulan-Ude trete ich liegend im Plazkartny Wagon eines Fernzuges an. Das Auto wird abgeholt, wenn ich wieder zweiäugig bin: ein schöner Grund, noch einmal ans Südufer des Baikal zu fahren.