An einer
Ausfahrt der Bundesstraße M-55 läuft ein Mann an einer Schranke hin- und her,
etwa vier Fahrtstunden von Ulan-Ude entfernt, kurz hinter dem Ortsausgangsschild
der Siedlung Baikalsk am südlichen Baikalufer. Hinter der Schranke steht ein
verrottetes bräunliches Raupenfahrzeug, dahinter ein großer, gelber, etwas
rostiger Bagger. Ich halte, steige aus und spreche den Mann
vor der Schranke an, die mir entgegenbellenden Hunde tapfer ignorierend.
- Laut
meiner Karte sollte hier bei Ihnen ein Wanderweg in die Berge beginnen…?
Der Raupen-
und Baggerwächter nickt.
- Vielleicht
können Sie drei oder vier Tage lang auf mein Auto aufpassen…?
Hundert
Rubel pro Tag würde ein bewachter Parkplatz hinter seiner Schranke kosten, sagt
der Mann, etwa einen Euro fünfzig also, zieht die Absperrung zur Seite und
bedeutet mir, den Wagen am Wegrand unter der Baggerschaufel abzustellen, keine
Sorge, der fährt nicht mehr, hier störe ich niemanden. Und um in die Berge zu
gelangen, müsse ich einfach dem Waldweg nach rechts folgen, einmal durch die
Müllhalde hindurch und dann immer den Pfad am Flussufer entlang.
Ich bedanke
mich, schultere meinen Rucksack, greife die Wanderstöcke und mache mich
fröhlich auf den Weg, um den Pik
Porozhistyj zu bezwingen, laut Karte 2025 Meter hoch, laut Reiseführer sehr
schroff und sehr schön. Strahlend blauer Himmel, Sonnenschein mit nur wenigen
weißen Wölkchen, Salami, Käse und Rosinen im Gepäck, Ausrüstung mit Zelt und
Schlafsack für vier Tage, ich leiste es mir sogar, das schwere Fernglas meiner
Freundin mitzuschleppen und Malzeug, vielleicht überkommt mich ja die Muße für
das eine oder andere Aquarell.
Hinter
besagter rechter Wegbiegung ein grauenhafter Anblick: hunderte Meter weit
Haushalts- und Gewerbemüll, einfach auf Freiflächen zwischen den Bäumen gekippt
und vom Wind durch die Gegend geweht. Der Raupen- und Baggerwächter bewacht also
eigentlich die Einfahrt zur städtischen Müllkippe; von Wiederverwertung oder
auch nur Verbrennung hat hier noch nie jemand etwas gehört. In schnellem
Laufschritt durchquere ich den stinkenden Arsch der Zivilisation und finde mich
wenig später umflort von reinstem Taigawald an einem romantisch dahinperlenden
Bergfluss wieder.
Gegen Abend,
sechs Stunden später, nähere ich mich der Baumgrenze und erreiche einen auf
drei Seiten von nackten Bergwänden umgebenen Kessel. Rauchgeruch verkündet
Lagerfeuer und Menschennähe, mein Zelt gesellt sich zu einigen anderen. Ich
schüttele drei Zecken aus meiner Kleidung und sinniere über Sinn und Unsinn
meiner nicht vorhandenen Zeckenimpfung nach: damals, vor meinem Umzug an den
Baikalsee, hatte ich mich dazu belesen und war zu dem Schluss gekommen, dass
die Wahrscheinlichkeit, die Nebenwirkungen der Impfung nicht zu überleben, etwa
ähnlich hoch ist wie die, an Enzephalitis zu sterben.
Über ein mit
großen schwarzgrauen Felsbrocken übersätes, latschenkiefernbewachsenes
Geröllfeld steige ich am nächsten Tag zum Pass auf, ohne Zelt, nur mit leichtem
Gepäck. Meine Kamera füllt sich mit Fotos von Knabenkraut, Akelei, gelb
blühendem Rhododendron und schmalblättrigem, weiß blühendem Sagan Dali, dessen
lanzettliche Blätter aufgrund ihrer ätherischen Öle als Zusatz für den Tee
geschätzt und auf den Märkten verkauft werden. Für die Beerensaison bin ich
leider einen Monat zu früh, blühendes Blaubeergestrüpp lässt die Freuden eines
Wanderers erahnen, der sich im August hierher aufmacht; jetzt, Ende Juni, gibt
es lediglich erste aromatische Walderdbeeren, von der Dorfjugend an der
Bundesstraße für zweihundert Rubel pro kleinem Becher verkauft.
Entlang des
Grates steige ich dem Gipfel entgegen, vorbei an schroffen und ausgesetzten
Stellen, ein falscher Schritt und Gute Nacht, aber es ist trocken und
windstill, bestes, stabiles Wetter, als völlig schwindelfreier und sehr
trittsicherer Wanderer fühle ich mich in meinem Element. Schwungvoll zum Ziel,
noch geschätzte fünfzehn Minuten bis zum Gipfel! Ehe ich verstehe, was
passiert, habe ich einen Kiefernzweig im Gesicht. Die Vorwärtsbewegung ist
nicht mehr aufzuhalten. Der Zweig schiebt sich unter der Brille hindurch, schon
sind die Nadeln im linken Auge. Ich taumle zurück und reibe mir die schmerzende
Stelle. Einige Nadeln sind offensichtlich steckengeblieben, aber es gelingt mir
nicht, sie zu entfernen, nicht mit Reiben und nicht mit Wasser.
In den
Bergen können verschiedene kleinere und größere Unglücke passieren: man läuft
sich wund, friert sich etwas ab oder bricht ein Gliedmaß, aber eine Verletzung
am Auge? Ein untypischer Bergunfall.
Nach einer
Weile scheint es, als sei der Schmerz fast verschwunden. Ich bezwinge die
letzten hundert Meter und stehe wenig später auf dem Pik Porozhistyj. Zwei Stäbe markieren den höchsten Punkt, auf dem kleinen Plateau haben kaum drei Menschen nebeneinander Platz, eine Gedenktafel
erinnert an ein 1992 abgestürztes Mädchen. Grandioser Blick über das
Chamar-Daban-Gebirge und den Südbaikal, theoretisch, wenn man nicht gerade
eine Nadel im Auge hat. Schade! Vorsichtig
trete ich den Rückweg zum Zelt an, anderthalbäugig.
Als ich am
späten Nachmittag den Lagerplatz im Kessel erreiche, kommen gerade zwei Männer
von unten aus dem Tal herauf. Ob ich oben gewesen sei? Glückwunsch zum Gipfel!
Wenig später höre ich aus der Richtung ihres Zeltes Axtschläge und
Feuerprasseln. Ich sehne mich nach Unterhaltung, die mich von den schmerzenden Nadeln
in meinem linken Auge ablenkt.
- Warum
nehmen die Menschen in Russland eigentlich immer eine Axt mit in den Wald?
Das Brennholz
neben dem Feuer und das darüber aufgebaute selbst gezimmerte Tagan-Gestell
zum Aufhängen des Wasserkessels beantworten meine Frage eigentlich schon von
selbst. Der ältere der beiden macht einen gebildeten Eindruck und blickt mich
durch dicke Brillengläser schmunzelnd an.
- Jevgenij
aus Baikalsk, sehr angenehm! Deutscher? Immer eine Freude, mit Vertretern einer
anderen Kultur zu sprechen. Was machst du, wenn plötzlich Hochwasser kommt und
alle Brücken wegspült? Dann hackst du mit der Axt ein paar Stämme und baust dir
neue. Das ist die Taiga! Die große russische Freiheit! So etwas gibt es bei
euch in Westeuropa nicht! Wir haben sogar ein eigenes Wort dafür: wolja, das ist mehr als bloß svoboda…
Mein linkes
Auge vergessend, folge ich Evgenijs Gedanken über wolja, die große russische Freiheit, und nicke zustimmend, ja, zum
Gesetz hätten die Russen ganz offensichtlich ein indirekteres, freies
Verhältnis…
- Ist nicht
laut Verfassung das Volk die höchste Macht? Und wenn ein Gesetz offensichtlich
von einem Dummkopf gemacht wurde, wenn es einfach idiotisch ist, dann darf und
muss man es ignorieren!
Ob er ein
Beispiel hätte für ein solches Gesetz?
- Rings um
den Baikalsee ist der Bau von Industrieanlagen verboten. Darunter fällt auch
die Müllverbrennung. Deshalb gibt es keine andere Möglichkeit, sich der Abfälle
zu entledigen, als sie einfach in den Wald zu kippen!
Wie es sich
denn ohne den Hauptarbeitgeber in Baikalsk lebe, möchte ich wissen, auf das
2013 geschlossene Zellulosewerk anspielend, das einige tausend Leute
beschäftigt hatte.
- Wunderbar!
Als das Werk zumachte, habe ich eine Flasche Sekt geöffnet. Jagen, fischen,
angeln, manche leben überhaupt nur von der Natur hier…
Der Schmerz
im Auge kehrt zurück und erinnert mich
daran, dass ich noch etwas anderes von ihm wollte. Ob er nicht einen Augenarzt
in Baikalsk kenne?
- Gerade
vorgestern war ich dort! Leider habe ich die Telefonnummer nicht dabei! Ich
rufe kurz meine Frau an, die gibt sie mir durch, einen Moment bitte!
Nach zwei
Stunden kommt Jewgenij zurück und schreibt mir Namen, Adresse und Telefonnummer
der Baikalsker Augenärztin auf einen Zettel. Nach dem Abstieg solle ich
unverzüglich dorthin gehen, mit den Augen solle man lieber nicht spaßen, das
wisse er aus eigener Erfahrung. Die Kiefernnadeln brennen mit jeder Bewegung
des Augapfels und versetzen mich in eine weinerlich-gesprächige Stimmung.
Bestimmt habe der Schmerz einen tiefen Sinn, hebe ich an, im Alltag schätzt man
es viel zu wenig, mit zwei gesunden Augen herumzulaufen…
- Jetzt ist
aber einer unter die Philosophen gegangen! Ich leide an einer Augenkrankheit,
die mich früher oder später erblinden lässt. Deshalb gehe ich möglichst oft in
die Berge, damit ich dann, wenn ich mit weißem Stöckchen umherlaufe, viele
schöne Erinnerungen habe.
Ob er denn
hier Handyempfang habe?
- Nein, aber
ganz oben auf dem Gipfel, hervorragende Verbindung!
In zwei
Stunden ist der Mann einmal hinauf- und hinuntergesprintet, um für mich mit
seiner Frau zu telefonieren, nicht schlecht! Ich bedanke mich und gehe zu
meinem Zelt, ich solle an die große sibirische Freiheit denken und das nächste
Mal die Axt nicht vergessen, sagt Jevgenij zum Abschied.
Gegen fünf
Uhr wache ich zusammen mit der Sonne auf. Meine Hoffnungen auf wundersame
nächtliche Selbstheilung haben sich nicht erfüllt. Ich klemme mir ein
Taschentuch zwischen Brillenglas und Auge und trete den Rückweg ins Tal
einäugig an, überraschend stolperfrei, Entfernungen nehme ich nicht wahr,
sondern greife auf Erfahrungswerte zurück. Nach fünf Stunden durchquere ich die
stinkende Müllhalde und stehe an der Bundesstraße. Der Müllhaldenwächter bekommt
fünfhundert Rubel, damit er mein Auto noch etwas länger bewacht, und bestellt
mir ein Taxi zur Augenärztin.
- Schätzen Sie nicht auch die Sauberkeit des
Baikals nach der Schließung des Zellulosewerks?
Achselzucken.
Weniger Fische gebe es leider seitdem, die hätten sich wohl vom Plankton
ernährt, das wiederum von den Abwässern der Fabrik gedüngt wurde.
Zum Glück
gibt es in Baikalsk neben der kostenlosen und meistens schlechten
Gesundheitsvorsorge im staatlichen Krankenhaus noch eine kleine, gut
ausgestattete, kostenpflichtige Augenklinik.
Schmerzmittel
eingeträufelt, Auge geöffnet und vors Mikroskop: keine Fremdkörper, nur
Hornhaut beschädigt, Sehfeld nicht beeinträchtigt, wird von selbst vollständig
ausheilen. Die Augenärztin verschreibt mir vier verschiedene Tropfen, sechs Mal
am Tag fünf Tage lang anzuwenden. Die Rückfahrt nach Ulan-Ude trete ich liegend
im Plazkartny Wagon eines Fernzuges
an. Das Auto wird abgeholt, wenn ich
wieder zweiäugig bin: ein schöner Grund, noch einmal ans Südufer des Baikal zu
fahren.