Das Studienjahr an der Burjatischen Staatlichen Universität geht zu Ende, mein drittes Jahr in Ulan-Ude, in dieser Woche nehme ich Prüfungen in den Fächern „Sprachpraxis Deutsch“ und „Deutsche Landesskunde“ ab. Für Maja ist das erste Jahr Klavierunterricht mit einer Art Konzertstunde zu einem Abschluss gekommen, ich habe einen Programmzettel ausgedruckt, fein gekleidet hat sie ihr Repertoire gespielt mit Verbeugungen zwischendurch und Zhargalma Dashievna, die Klavierlehrerin, hat Maja Blumen überreicht. Wir bedankten uns bei der burjatischen Pädagogin mit einer Packung echter Mozartkugeln.
Der zweite Besuch von Baron Nikolaus von Gayling-Westphal in Ulan-Ude
ist zu Ende gegangen. Der Freiburger FDP-Politiker, Stadtrat und
Kulturförderer, der auf seinem Schloss einen eigenen Konzertsaal und eine
Kapelle unterhält, möchte eine Städtepartnerschaft zwischen Ulan-Ude und Freiburg
initiieren. Ich habe ihn als Übersetzer begleitet: zum Treffen mit dem
Bürgermeister, beim Mittagessen mit Vertretern der Stadtverwaltung, bei
touristischen Ausflügen in ein Altgläubigendorf an den Baikalsee und zum
blinden Pianisten, Komponisten und Wunderkind Ludub, der vielleicht in einer
Freiburger Augenklinik operiert werden kann. In der Arbeit als Dolmetscher
fühle ich mich noch recht unerfahren, finde sie aber außerordentlich spannend.
Welche Beziehung zu ihrer Natur denn die Menschen hier hätten, für die
Freiburger seien Steppe und Taiga in Burjatien wirklich wunderschön.
Man liebe und verehre natürlich die heimatlichen Gefilde, erläutert
der stellvertretende Bürgermeister, er selbst sei ein leidenschaftlicher Jäger
und würde gern den Herrn Baron einmal zur Jagd einladen.
Er besitze selbst auch Wald, sagt Nikolaus - er mag seinen Übersetzer und ist mit ihm
per Du – und der werde ganz nachhaltig bewirtschaftet. Ob die Herren wüssten,
was nachhaltig bedeutet?
Das Wort ist nicht so einfach ins Russische übertragbar, und während
ich nach einer Erklärung suche, hebt der Baron zu einem zehnminütigen Vortrag
über Herkunft und Zukunft des Nachhaltigkeitsbegriffes an. Die Herren von der
Stadtverwaltung haben sich längst wieder ihrem Essen zugewandt. Was macht ein
Übersetzer, wenn niemand zuhört?
Freiburg habe bereits Lemberg als Partner, aber seit dem Austritt der
Ukraine aus der Russischen Föderation gäbe es nun leider keine russische
Partnerstadt mehr, und das wolle er gern ändern. Man beabsichtige, viel zu ändern,
sage ich auf Russisch, aber nicht, was genau: die Ukraine war nie ein Teil der
Russischen Föderation. Muss ein Übersetzer grobe Sachfehler wiedergeben?
Das Arbeitsessen in dem feinen burjatischen Restaurant ist fast
vorbei, die Stimmung für eine Art zusammenfassendes Schlusswort gekommen. Erwartungsvoll
blicken die Vertreter der Stadtverwaltung den Freiburger Gast an. Der Herr
Baron macht mit seiner auf die Nase geschobenen Brille und dem nachdenklichen
Blick aus den Tiefen seiner Lebenserfahrungen einen fast durchgeistigten
Eindruck, aber das dritte oder vierte Glas Wodka hat seine irdische Seite
freigelegt. Gestern habe er auch nicht schlecht gegessen, sagt Nikolaus, dann
näherte sich ein Obdachloser und setzte sich zu ihm an den Tisch. Er hätte ihn
tatsächlich gern auf ein Süppchen eingeladen, aber da habe doch der
Restaurantbesitzer den unpassend gekleideten Mann einfach rausgeworfen. Ja, so
sei es gewesen! Prost! – Der Herr Baron mag die burjatische Küche, sage ich und
verfalle kurz in unsicheres Schweigen - im Übrigen danke er für die Einladung
in dieses schöne Lokal und hoffe auf eine fruchtbare weitere Zusammenarbeit. Keine
Ahnung, ob er die Verwandlungen bemerkt hat, die seine Ausführungen vom
Obdachlosen auf dem Weg von der deutschen in die russische Sprache durchlaufen
haben. Darf ein Dolmetscher peinliche Äußerungen verschwinden lassen?
Der Bürgermeister von Ulan-Ude ist bereit, morgen die Partnerschaftserklärung zu unterschreiben. Nikolaus von Gayling möchte noch warten, bis vielfältige Kontakte "von unten" entstanden sind: damit es nicht nur eine Partnerschaft der Stadtverwaltungen wird.
Der Bürgermeister von Ulan-Ude ist bereit, morgen die Partnerschaftserklärung zu unterschreiben. Nikolaus von Gayling möchte noch warten, bis vielfältige Kontakte "von unten" entstanden sind: damit es nicht nur eine Partnerschaft der Stadtverwaltungen wird.
Meine Freundin und ich besuchten zusammen
ihre Mutter im Dorf Jelan, zweihundert Kilometer südlich von Ulan-Ude,
malerisch in der offenen Landschaft am Fuße bewaldeter Hügel gelegen mit etwa
tausend Einwohnern, jedes dritte bis vierte Haus leerstehend. Hierher, zu den Verwandten der russischen Mutter, war die Familie 1996 aus dem bürgerkriegszerrütteten Tadschikistan umgesiedelt; hier hat Niso Russisch zu sprechen begonnen und ihre letzten vier Schuljahre absolviert, bevor sie in die Stadt zog. Mit Rustam, dem
ältesten ihrer vier Brüder, gruben wir im Gemüsegarten um und
beseitigten Brennnessel, genauer: Sibirische Hanfnessel mit hanfartig
gegliederten Blättern, die deutlich stärker brennt als die in deutschen
Gefilden übliche Art. Anschließend fuhren wir angeln an den nahegelegenen Fluss
Chilok, wo jeder von uns über ein Dutzend kleine Elritzen aus dem Wasser holte.
Für mich das erste richtige eigene Angelerlebnis im Leben! Ohne jede Vorbehalte
fasste Maja die glitschigen Fische an und die Regenwürmer, die als Köder auf
den Haken gespießt werden. Die Rückfahrt nach Ulan-Ude mit unserem Auto endete
sehr plötzlich nach etwa einem Viertel der Fahrtstrecke auf einer Brücke in der
Siedlung Podlopatki. Über die halbe Fahrspur erstreckte sich ein klaffendes
Loch, das ich zu spät bemerkte und in welches ich fast ungebremst hineinfuhr.
Ein metallisches Klirren vorn links ließ uns anhalten.
Ein langes Metallteil vor dem Rad
war gebrochen und schleift nun auf dem Boden, von unter dem Motor tropft Öl.
Niso macht ein Foto und schickt es ihrem Bruder Ljoscha.
Wir sollen das abgebrochene
Element der Radaufhängung hochbinden und weiterfahren, rät er uns. Das herausgesickerte
Öl stamme wahrscheinlich aus dem Getriebe, da komme man auch ohne klar.
Ich bin skeptisch und wende mich
um Hilfe an einen Mann, vor dessen Haus ein liebevoll restaurierter Saporozhez steht. Der muss sich mit
russischen Autos auskennen! Er begleitet mich auf die Brücke und beguckt sich
den schadhaften Lada neugierig.
Auf keinen Fall sollten wir
weiterfahren! Das Vorderrad könne nach hinten wegbrechen und noch viel größeren
Schaden verursachen.
Während ich guter Laune bleibe
und das Erlebnis unter „Abenteuer Russland“ verbuche, flucht meine Freundin
über das Auto. Zum zweiten Mal, dass wir unterwegs liegenbleiben. Warum musste
ich auch russischer als die Russen sein wollen und so einen beschissenen Lada
kaufen, wo doch jeder vernünftige Mensch einen Japaner fährt? Ein Toyota hätte
das Schlagloch auch nicht überlebt, versuche ich gegenzuhalten, es sei nicht
der Lada schuld, sondern die verdammten Straßen hier. Es gibt zwei Elende in
Russland: die Dummköpfe und die Straßen, hat schon Gogol gesagt. Napoleon
äußerte: Es gibt keine Wege in Russland, nur Richtungen. Und ein Sprichwort
lautet: Wo der Asphalt endet, beginnt unsere Heimat.
Maja verspeist in bester Stimmung
von Oma gebackene Lepjoschki und
lauscht meiner Stimme, die würdevoll Grimmsche Märchen vorliest. Nach zweieinhalb
Stunden ist schon der Abschleppwagen da.
Wie viele Jahre Erfahrung am
Steuer ich denn so hätte, fragt mich der Mechaniker in Ulan-Ude mitleidig, der
zum Glück gerade Zeit hat und sich sofort an die Reparatur macht. Dreieinhalb
Monate, sage ich, was vorher in Deutschland war, sei unwichtig, Erfahrungen aus
einer anderen Welt, kaum nach Russland übertragbar.
Fairerweise muss man zugeben,
dass es in Sibirien auch ganz ausgezeichnete Straßen gibt. Am Ostufer des
Baikalsees zum Beispiel: eine fantastische Strecke von fast Autobahnqualität!
Nur zwanzig Kilometer fehlen noch; wenn die letzten störenden Hügel
weggebaggert und noch einige Felsen gesprengt sind, kann man von Ulan-Ude bis
Ust-Bargusin durchrauschen, schlaglochfrei. Damit niemand zu sehr ins Rasen
kommt, sind modernste Überwachungskameras aufgestellt. Kurz abbremsen hilft
nichts, da sie auf einer bestimmten Wegstrecke die Durchschnittsgeschwindigkeit
messen.
Gartenarbeit in Sibirien (oben). Jelan, das russische Heimatdorf meiner Freundin nach der Übersiedlung aus Tadschikistan (unten). Beim Elritzen angeln (weiter unten) |
Unübersehbar: die Telefonnummer zum Rufen des Abschleppwagens (oben), bei russischen Straßenverhältnissen gut zu wissen (unten) |