Donnerstag, 14. Juni 2018

Vier Enden



Das Studienjahr an der Burjatischen Staatlichen Universität geht zu Ende, mein drittes Jahr in Ulan-Ude, in dieser Woche nehme ich Prüfungen in den Fächern „Sprachpraxis Deutsch“ und „Deutsche Landesskunde“ ab. Für Maja ist das erste Jahr Klavierunterricht mit einer Art Konzertstunde zu einem Abschluss gekommen, ich habe einen Programmzettel ausgedruckt, fein gekleidet hat sie ihr Repertoire gespielt mit Verbeugungen zwischendurch und Zhargalma Dashievna, die Klavierlehrerin, hat Maja Blumen überreicht. Wir bedankten uns bei der burjatischen Pädagogin mit einer Packung echter Mozartkugeln.

Der zweite Besuch von Baron Nikolaus von Gayling-Westphal in Ulan-Ude ist zu Ende gegangen. Der Freiburger FDP-Politiker, Stadtrat und Kulturförderer, der auf seinem Schloss einen eigenen Konzertsaal und eine Kapelle unterhält, möchte eine Städtepartnerschaft zwischen Ulan-Ude und Freiburg initiieren. Ich habe ihn als Übersetzer begleitet: zum Treffen mit dem Bürgermeister, beim Mittagessen mit Vertretern der Stadtverwaltung, bei touristischen Ausflügen in ein Altgläubigendorf an den Baikalsee und zum blinden Pianisten, Komponisten und Wunderkind Ludub, der vielleicht in einer Freiburger Augenklinik operiert werden kann. In der Arbeit als Dolmetscher fühle ich mich noch recht unerfahren, finde sie aber außerordentlich spannend.
Welche Beziehung zu ihrer Natur denn die Menschen hier hätten, für die Freiburger seien Steppe und Taiga in Burjatien wirklich wunderschön.
Man liebe und verehre natürlich die heimatlichen Gefilde, erläutert der stellvertretende Bürgermeister, er selbst sei ein leidenschaftlicher Jäger und würde gern den Herrn Baron einmal zur Jagd einladen.
Er besitze selbst auch Wald, sagt Nikolaus  - er mag seinen Übersetzer und ist mit ihm per Du – und der werde ganz nachhaltig bewirtschaftet. Ob die Herren wüssten, was nachhaltig bedeutet?
Das Wort ist nicht so einfach ins Russische übertragbar, und während ich nach einer Erklärung suche, hebt der Baron zu einem zehnminütigen Vortrag über Herkunft und Zukunft des Nachhaltigkeitsbegriffes an. Die Herren von der Stadtverwaltung haben sich längst wieder ihrem Essen zugewandt. Was macht ein Übersetzer, wenn niemand zuhört?
Freiburg habe bereits Lemberg als Partner, aber seit dem Austritt der Ukraine aus der Russischen Föderation gäbe es nun leider keine russische Partnerstadt mehr, und das wolle er gern ändern. Man beabsichtige, viel zu ändern, sage ich auf Russisch, aber nicht, was genau: die Ukraine war nie ein Teil der Russischen Föderation. Muss ein Übersetzer grobe Sachfehler wiedergeben?
Das Arbeitsessen in dem feinen burjatischen Restaurant ist fast vorbei, die Stimmung für eine Art zusammenfassendes Schlusswort gekommen. Erwartungsvoll blicken die Vertreter der Stadtverwaltung den Freiburger Gast an. Der Herr Baron macht mit seiner auf die Nase geschobenen Brille und dem nachdenklichen Blick aus den Tiefen seiner Lebenserfahrungen einen fast durchgeistigten Eindruck, aber das dritte oder vierte Glas Wodka hat seine irdische Seite freigelegt. Gestern habe er auch nicht schlecht gegessen, sagt Nikolaus, dann näherte sich ein Obdachloser und setzte sich zu ihm an den Tisch. Er hätte ihn tatsächlich gern auf ein Süppchen eingeladen, aber da habe doch der Restaurantbesitzer den unpassend gekleideten Mann einfach rausgeworfen. Ja, so sei es gewesen! Prost! – Der Herr Baron mag die burjatische Küche, sage ich und verfalle kurz in unsicheres Schweigen - im Übrigen danke er für die Einladung in dieses schöne Lokal und hoffe auf eine fruchtbare weitere Zusammenarbeit. Keine Ahnung, ob er die Verwandlungen bemerkt hat, die seine Ausführungen vom Obdachlosen auf dem Weg von der deutschen in die russische Sprache durchlaufen haben. Darf ein Dolmetscher peinliche Äußerungen verschwinden lassen?
Der Bürgermeister von Ulan-Ude ist bereit, morgen die Partnerschaftserklärung zu unterschreiben. Nikolaus von Gayling möchte noch warten, bis vielfältige Kontakte "von unten" entstanden sind: damit es nicht nur eine Partnerschaft der Stadtverwaltungen wird.
  
Meine Freundin und ich besuchten zusammen ihre Mutter im Dorf Jelan, zweihundert Kilometer südlich von Ulan-Ude, malerisch in der offenen Landschaft am Fuße bewaldeter Hügel gelegen mit etwa tausend Einwohnern, jedes dritte bis vierte Haus leerstehend. Hierher, zu den Verwandten der russischen Mutter, war die Familie 1996 aus dem bürgerkriegszerrütteten Tadschikistan umgesiedelt; hier hat Niso Russisch zu sprechen begonnen und ihre letzten vier Schuljahre absolviert, bevor sie in die Stadt zog. Mit Rustam, dem ältesten ihrer vier Brüder, gruben wir im Gemüsegarten um und beseitigten Brennnessel, genauer: Sibirische Hanfnessel mit hanfartig gegliederten Blättern, die deutlich stärker brennt als die in deutschen Gefilden übliche Art. Anschließend fuhren wir angeln an den nahegelegenen Fluss Chilok, wo jeder von uns über ein Dutzend kleine Elritzen aus dem Wasser holte. Für mich das erste richtige eigene Angelerlebnis im Leben! Ohne jede Vorbehalte fasste Maja die glitschigen Fische an und die Regenwürmer, die als Köder auf den Haken gespießt werden. Die Rückfahrt nach Ulan-Ude mit unserem Auto endete sehr plötzlich nach etwa einem Viertel der Fahrtstrecke auf einer Brücke in der Siedlung Podlopatki. Über die halbe Fahrspur erstreckte sich ein klaffendes Loch, das ich zu spät bemerkte und in welches ich fast ungebremst hineinfuhr. Ein metallisches Klirren vorn links ließ uns anhalten.
Ein langes Metallteil vor dem Rad war gebrochen und schleift nun auf dem Boden, von unter dem Motor tropft Öl. Niso macht ein Foto und schickt es ihrem Bruder Ljoscha.
Wir sollen das abgebrochene Element der Radaufhängung hochbinden und weiterfahren, rät er uns. Das herausgesickerte Öl stamme wahrscheinlich aus dem Getriebe, da komme man auch ohne klar.
Ich bin skeptisch und wende mich um Hilfe an einen Mann, vor dessen Haus ein liebevoll restaurierter Saporozhez steht. Der muss sich mit russischen Autos auskennen! Er begleitet mich auf die Brücke und beguckt sich den schadhaften Lada neugierig.
Auf keinen Fall sollten wir weiterfahren! Das Vorderrad könne nach hinten wegbrechen und noch viel größeren Schaden verursachen.
Während ich guter Laune bleibe und das Erlebnis unter „Abenteuer Russland“ verbuche, flucht meine Freundin über das Auto. Zum zweiten Mal, dass wir unterwegs liegenbleiben. Warum musste ich auch russischer als die Russen sein wollen und so einen beschissenen Lada kaufen, wo doch jeder vernünftige Mensch einen Japaner fährt? Ein Toyota hätte das Schlagloch auch nicht überlebt, versuche ich gegenzuhalten, es sei nicht der Lada schuld, sondern die verdammten Straßen hier. Es gibt zwei Elende in Russland: die Dummköpfe und die Straßen, hat schon Gogol gesagt. Napoleon äußerte: Es gibt keine Wege in Russland, nur Richtungen. Und ein Sprichwort lautet: Wo der Asphalt endet, beginnt unsere Heimat.
Maja verspeist in bester Stimmung von Oma gebackene Lepjoschki und lauscht meiner Stimme, die würdevoll Grimmsche Märchen vorliest. Nach zweieinhalb Stunden ist schon der Abschleppwagen da.
Wie viele Jahre Erfahrung am Steuer ich denn so hätte, fragt mich der Mechaniker in Ulan-Ude mitleidig, der zum Glück gerade Zeit hat und sich sofort an die Reparatur macht. Dreieinhalb Monate, sage ich, was vorher in Deutschland war, sei unwichtig, Erfahrungen aus einer anderen Welt, kaum nach Russland übertragbar.
Fairerweise muss man zugeben, dass es in Sibirien auch ganz ausgezeichnete Straßen gibt. Am Ostufer des Baikalsees zum Beispiel: eine fantastische Strecke von fast Autobahnqualität! Nur zwanzig Kilometer fehlen noch; wenn die letzten störenden Hügel weggebaggert und noch einige Felsen gesprengt sind, kann man von Ulan-Ude bis Ust-Bargusin durchrauschen, schlaglochfrei. Damit niemand zu sehr ins Rasen kommt, sind modernste Überwachungskameras aufgestellt. Kurz abbremsen hilft nichts, da sie auf einer bestimmten Wegstrecke die Durchschnittsgeschwindigkeit messen.


Gartenarbeit in Sibirien (oben). Jelan, das russische Heimatdorf meiner Freundin nach der Übersiedlung aus Tadschikistan (unten). Beim Elritzen angeln (weiter unten)
Unübersehbar: die Telefonnummer zum Rufen des Abschleppwagens (oben), bei russischen Straßenverhältnissen gut zu wissen (unten)