Kommen
Sie aus einem kapitalistischen Staat? Dann werden Sie manches bei uns
vergeblich suchen. Aber wir nehmen an, Sie werden es nicht vermissen. In der
DDR gibt es beispielsweise:
Keine
Arbeitslosigkeit, weil hier der Mensch und seine Bedürfnisse Ausgangspunkt und
Ziel der sozialistischen Planwirtschaft sind.
Keine
Preiswelle, weil es keine die Preise in die Höhe treibenden Monopole gibt und
der sozialistische Staat Preisstabilität gesetzlich garantiert.
Keinen
Mietwucher und keine Obdachlosen, weil der Baugrund und die Baugesellschaften
Volkseigentum sind. Weder die Kommunale Wohnungsverwaltung noch ein privater
Vermieter dürfen die Miete erhöhen.
Keinen
Bildungsnotstand, weil der sozialistische Staat Bildungsfragen stets in den
Mittelpunkt gestellt hat. (…)
Keine
Kriminalitätsrekorde, weil in der sozialistischen Gesellschaft die sozialen
Ursachen für Kriminalität weitgehend beseitigt sind und die sozialistische
Rechtspflege Vorbeugung und Resozialisierung
groß schreibt.
Keine
Hasch- und keine Pornowelle, weil uns unsere Jugend dafür zu schade ist und wir
unsere Grenzen und unsere volkseigenen Verlage auch dagegen gesichert haben.
Keine
Spielcasinos und keine „Eros-Centers“, weil wir keine Geschäfte mit der Unmoral
machen. (…)
Bei
der Wahl: billige Autos oder hohe Bildungsinvestitionen haben wir uns für die
Bildung entschieden. Bei der Wahl: niedrige Kaffee- und Alkoholpreise oder
niedrige Mieten haben für uns die Mieten den Vorrang. (…) Wir stehen lieber im
Gesundheitswesen international mit an der Spitze, als bei der Produktion von
sogenanntem Wohlstandsmüll.
aus: „Willkommen in der DDR“, 1974
In
der Bundesrepublik Deutschland sind Freiheit, soziale Sicherheit und
wirtschaftlicher Wohlstand wie nie zuvor verwirklicht. Dazu hat die
Wirtschaftsordnung der sozialen Marktwirtschaft ganz entscheidend beigetragen.
Politische und wirtschaftliche Freiheit gehören untrennbar zusammen: So wie die
Demokratie dem Menschen das Recht zur politischen Selbstbestimmung gibt, so
ermöglicht ihm die Soziale Marktwirtschaft, seine Fähigkeiten in Wirtschaft und
Beruf frei zu entfalten. (…) Für den Bürger hat die Soziale Marktwirtschaft
viele Vorteile: Sie sorgt dafür, daß seine Wünsche und Bedürfnisse auch
tatsächlich zu einem entsprechenden Angebot an Waren und Leistungen führen.
Daß
die Marktwirtschaft Luxus für wenige auf Kosten der breiten Masse bewirkte, ist
ein Vorurteil, mit dem sich die Verfechter der Sozialen Marktwirtschaft von
Anfang an auseinandersetzen mußten. Das Gegenteil ist der Fall: (…)
Wirtschaftsaufschwung und Wachstum, die große Leistungsfähigkeit der
Marktwirtschaft, haben viele soziale Probleme von selbst beseitigt.
aus: „Willkommen bei uns! Informationen
für Bürger aus der DDR“, Dezember 1989
Das Aufräumen unserer institutseigenen
deutschen Bibliothek wurde für mich zu einer Zeitreise in Wende- und
Vorwendezeiten mit spannende Zeitzeugnissen wie der Broschüre „Willkommen in
der DDR“ von 1974. Für meinen Vater hieß es unterdessen „Willkommen in
Russland“. Das größte Land der Erde hat vieles Überraschende zu bieten für den
Reisenden aus Deutschland, der es zum ersten Mal betritt: der Gast bewundert
die weiten Landschaften, die Kombination aus Bergen und meeresähnlicher
Wasserfläche am Baikal, er staunt im Dorf über die Dächer aus gewelltem Asbest,
das in Deutschland längst als Sondermüll entsorgt worden wäre, und fragt, warum
sich wohl die Menschen hinter über zwei Meter hohen Bretter- oder Metallzäunen
um ihre Grundstücke herum verschanzen. Ich gebe die Frage weiter an einige
Leute, mit denen wir ins Gespräch kommen, selbst gespannt auf die Antwort. Hier
gibt es viele Diebe, sagt der eine. Ein Schutz vor Staub und Lärm von der
Straße, sagt der andere, außerdem werden sie in dieser Höhe verkauft und wir
waren zu faul, sie abzusägen.
Mit dem Zug fahren wir nach Baikalsk und
holen dort mein Auto ab, welches ich nach einäugigem Abstieg vom Berg am Rande
der städtischen Müllkippe stehen lassen hatte. Für meinen Vater und die kleine
Maja ist es die erste Reise mit dem Zug in Russland, die erste Fahrt auf einem
Teilstück der für den deutschen Touristen so legendären Transsibirischen
Eisenbahn. In Wydrino, dort, wo Burjatien endet und das Irkutsker Gebiet
beginnt, führt ein etwa fünf Kilometer langer Weg von der am Baikalufer
verlaufenden Landstraße zu einer Art in der Taiga angelegtem Erholungsgebiet
namens Warme Seen, wo sich die
Städter mit Vorliebe für ein paar Tage ausruhen. Vorsichtig steuere ich meinen
Lada im ersten Gang von einem Schlagloch zum anderen, durchfahre Pfützen
unbekannter Tiefe und schaukle über abenteuerliche Bodenwellen.
„Seit dreißig Jahren am Steuer bin ich
noch nie so eine Straße gefahren“, sagt mein Vater entsetzt, „und in den
nächsten dreißig Jahren werde ich das auch nicht tun!“
„Solange es nicht hart knallt, sondern nur
weich federt, ist alles in Ordnung“, sage ich, mein komprimierter
Weisheitsschatz aus fünf Monaten Autoerfahrung auf sibirischen Straßen.
„Eindeutig ein Fall für einen
Geländewagen, hier darf man doch mit einem Pkw nicht fahren!“, ruft mein Vater und
stöhnt, aufrichtig mit meinem Samara mitfühlend.
Ich unterbreche seine Aufzählung an
Autoteilen, die der Belastung einer solchen Strecke nicht standhalten könnten,
und verweise achselzuckend auf die etwa einhundert anderen Pkws, die es auch
bis zu den Warmen Seen geschafft haben: die Einheimischen werden doch wissen,
was sie machen?
„Wenn ein Verrückter zu hundert anderen
Verrückten dazustößt, ist er deshalb noch lange nicht normal“, sagt mein Vater.
„Das ist Russland“, erkläre ich mit
sachkundiger Logik.
An einem der drei Warmen Seen hat die
russisch-orthodoxe Kirche ein kleines, schlankes Kapellchen ans Ufer gebaut,
mit ihrem goldglänzenden Dach vor dem Hintergrund des tiefgrünen, dichten
Waldes ein wunderschöner Anblick. Die Tür ist stets geöffnet, innen ertönt vom
Band erbauliche Musik, und eine beruhigende, väterliche Stimme erzählt
Geschichten vom König Salomo, nach welchem die Kapelle benannt ist. Auf dem Weg
um das Gewässer verspeisen wir die ersten reifen Heidelbeeren. Am Sandstrand
des gegenüberliegenden Ufers tummeln sich hundert halbnackte Erwachsene und
Kinder, im dahinterliegenden Restaurant rüstet man sich für die
Life-Übertragung des WM-Spiels Russland-Kroatien. „Könnte auch bei Leipzig am
Markkleeberger See sein“, stellt mein Vater fest, „irgendwie beruhigend zu
sehen, wie wenig sich die Menschen doch unterscheiden.“
In Wydrino gibt uns Nisos gleich neben dem
Bahnhof wohnende Bekannte Nadezhda Fjodorovna ein paar Kilo frische Erdbeeren
aus ihrem Garten mit, die sie normalerweise an die Zugbegleiter verkauft. Wir
fahren weiter nach Posolsk, wo eines der drei orthodoxen Klöster in Burjatien am Ufer des Baikalsees steht. Direkt am Strand parken fünf schicke Wohnwagen
mit Kennzeichen „D“, drinnen rüstige Rentner eines Hamburger Wohnwagen-Stammtisches
auf fünfmonatiger Asienrundreise. Mein Vater wundert sich, warum er es nicht
schafft, seine Bettdecke in unserer Unterkunft zu beziehen. Statt der üblichen
Öffnung an einer der Querseiten hat der Bettbezug einen kleinen Schlitz auf der
Längsseite, durch den man die Decke fädeln muss, eine denkbar unpraktische
Einrichtung, wer sich so etwas nur ausdenkt?
„Das ist Russland“, sagt meine Freundin und
nickt verständnisvoll.