Mittwoch, 11. Juli 2018

Willkommen in der DDR und willkommen in Russland



Kommen Sie aus einem kapitalistischen Staat? Dann werden Sie manches bei uns vergeblich suchen. Aber wir nehmen an, Sie werden es nicht vermissen. In der DDR gibt es beispielsweise:
Keine Arbeitslosigkeit, weil hier der Mensch und seine Bedürfnisse Ausgangspunkt und Ziel der sozialistischen Planwirtschaft sind.
Keine Preiswelle, weil es keine die Preise in die Höhe treibenden Monopole gibt und der sozialistische Staat Preisstabilität gesetzlich garantiert.
Keinen Mietwucher und keine Obdachlosen, weil der Baugrund und die Baugesellschaften Volkseigentum sind. Weder die Kommunale Wohnungsverwaltung noch ein privater Vermieter dürfen die Miete erhöhen.
Keinen Bildungsnotstand, weil der sozialistische Staat Bildungsfragen stets in den Mittelpunkt gestellt hat. (…)
Keine Kriminalitätsrekorde, weil in der sozialistischen Gesellschaft die sozialen Ursachen für Kriminalität weitgehend beseitigt sind und die sozialistische Rechtspflege Vorbeugung und Resozialisierung  groß schreibt.
Keine Hasch- und keine Pornowelle, weil uns unsere Jugend dafür zu schade ist und wir unsere Grenzen und unsere volkseigenen Verlage auch dagegen gesichert haben.
Keine Spielcasinos und keine „Eros-Centers“, weil wir keine Geschäfte mit der Unmoral machen. (…)
Bei der Wahl: billige Autos oder hohe Bildungsinvestitionen haben wir uns für die Bildung entschieden. Bei der Wahl: niedrige Kaffee- und Alkoholpreise oder niedrige Mieten haben für uns die Mieten den Vorrang. (…) Wir stehen lieber im Gesundheitswesen international mit an der Spitze, als bei der Produktion von sogenanntem Wohlstandsmüll.
aus: „Willkommen in der DDR“, 1974

In der Bundesrepublik Deutschland sind Freiheit, soziale Sicherheit und wirtschaftlicher Wohlstand wie nie zuvor verwirklicht. Dazu hat die Wirtschaftsordnung der sozialen Marktwirtschaft ganz entscheidend beigetragen. Politische und wirtschaftliche Freiheit gehören untrennbar zusammen: So wie die Demokratie dem Menschen das Recht zur politischen Selbstbestimmung gibt, so ermöglicht ihm die Soziale Marktwirtschaft, seine Fähigkeiten in Wirtschaft und Beruf frei zu entfalten. (…) Für den Bürger hat die Soziale Marktwirtschaft viele Vorteile: Sie sorgt dafür, daß seine Wünsche und Bedürfnisse auch tatsächlich zu einem entsprechenden Angebot an Waren und Leistungen führen.
Daß die Marktwirtschaft Luxus für wenige auf Kosten der breiten Masse bewirkte, ist ein Vorurteil, mit dem sich die Verfechter der Sozialen Marktwirtschaft von Anfang an auseinandersetzen mußten. Das Gegenteil ist der Fall: (…) Wirtschaftsaufschwung und Wachstum, die große Leistungsfähigkeit der Marktwirtschaft, haben viele soziale Probleme von selbst beseitigt.
aus: „Willkommen bei uns! Informationen für Bürger aus der DDR“, Dezember 1989

Das Aufräumen unserer institutseigenen deutschen Bibliothek wurde für mich zu einer Zeitreise in Wende- und Vorwendezeiten mit spannende Zeitzeugnissen wie der Broschüre „Willkommen in der DDR“ von 1974. Für meinen Vater hieß es unterdessen „Willkommen in Russland“. Das größte Land der Erde hat vieles Überraschende zu bieten für den Reisenden aus Deutschland, der es zum ersten Mal betritt: der Gast bewundert die weiten Landschaften, die Kombination aus Bergen und meeresähnlicher Wasserfläche am Baikal, er staunt im Dorf über die Dächer aus gewelltem Asbest, das in Deutschland längst als Sondermüll entsorgt worden wäre, und fragt, warum sich wohl die Menschen hinter über zwei Meter hohen Bretter- oder Metallzäunen um ihre Grundstücke herum verschanzen. Ich gebe die Frage weiter an einige Leute, mit denen wir ins Gespräch kommen, selbst gespannt auf die Antwort. Hier gibt es viele Diebe, sagt der eine. Ein Schutz vor Staub und Lärm von der Straße, sagt der andere, außerdem werden sie in dieser Höhe verkauft und wir waren zu faul, sie abzusägen.
Mit dem Zug fahren wir nach Baikalsk und holen dort mein Auto ab, welches ich nach einäugigem Abstieg vom Berg am Rande der städtischen Müllkippe stehen lassen hatte. Für meinen Vater und die kleine Maja ist es die erste Reise mit dem Zug in Russland, die erste Fahrt auf einem Teilstück der für den deutschen Touristen so legendären Transsibirischen Eisenbahn. In Wydrino, dort, wo Burjatien endet und das Irkutsker Gebiet beginnt, führt ein etwa fünf Kilometer langer Weg von der am Baikalufer verlaufenden Landstraße zu einer Art in der Taiga angelegtem Erholungsgebiet namens Warme Seen, wo sich die Städter mit Vorliebe für ein paar Tage ausruhen. Vorsichtig steuere ich meinen Lada im ersten Gang von einem Schlagloch zum anderen, durchfahre Pfützen unbekannter Tiefe und schaukle über abenteuerliche Bodenwellen.
„Seit dreißig Jahren am Steuer bin ich noch nie so eine Straße gefahren“, sagt mein Vater entsetzt, „und in den nächsten dreißig Jahren werde ich das auch nicht tun!“
„Solange es nicht hart knallt, sondern nur weich federt, ist alles in Ordnung“, sage ich, mein komprimierter Weisheitsschatz aus fünf Monaten Autoerfahrung auf sibirischen Straßen.
„Eindeutig ein Fall für einen Geländewagen, hier darf man doch mit einem Pkw nicht fahren!“, ruft mein Vater und stöhnt, aufrichtig mit meinem Samara mitfühlend.
Ich unterbreche seine Aufzählung an Autoteilen, die der Belastung einer solchen Strecke nicht standhalten könnten, und verweise achselzuckend auf die etwa einhundert anderen Pkws, die es auch bis zu den Warmen Seen geschafft haben: die Einheimischen werden doch wissen, was sie machen?
„Wenn ein Verrückter zu hundert anderen Verrückten dazustößt, ist er deshalb noch lange nicht normal“, sagt mein Vater.
„Das ist Russland“, erkläre ich mit sachkundiger Logik.

An einem der drei Warmen Seen hat die russisch-orthodoxe Kirche ein kleines, schlankes Kapellchen ans Ufer gebaut, mit ihrem goldglänzenden Dach vor dem Hintergrund des tiefgrünen, dichten Waldes ein wunderschöner Anblick. Die Tür ist stets geöffnet, innen ertönt vom Band erbauliche Musik, und eine beruhigende, väterliche Stimme erzählt Geschichten vom König Salomo, nach welchem die Kapelle benannt ist. Auf dem Weg um das Gewässer verspeisen wir die ersten reifen Heidelbeeren. Am Sandstrand des gegenüberliegenden Ufers tummeln sich hundert halbnackte Erwachsene und Kinder, im dahinterliegenden Restaurant rüstet man sich für die Life-Übertragung des WM-Spiels Russland-Kroatien. „Könnte auch bei Leipzig am Markkleeberger See sein“, stellt mein Vater fest, „irgendwie beruhigend zu sehen, wie wenig sich die Menschen doch unterscheiden.“

In Wydrino gibt uns Nisos gleich neben dem Bahnhof wohnende Bekannte Nadezhda Fjodorovna ein paar Kilo frische Erdbeeren aus ihrem Garten mit, die sie normalerweise an die Zugbegleiter verkauft. Wir fahren weiter nach Posolsk, wo eines der drei orthodoxen Klöster in Burjatien am Ufer des Baikalsees steht. Direkt am Strand parken fünf schicke Wohnwagen mit Kennzeichen „D“, drinnen rüstige Rentner eines Hamburger Wohnwagen-Stammtisches auf fünfmonatiger Asienrundreise. Mein Vater wundert sich, warum er es nicht schafft, seine Bettdecke in unserer Unterkunft zu beziehen. Statt der üblichen Öffnung an einer der Querseiten hat der Bettbezug einen kleinen Schlitz auf der Längsseite, durch den man die Decke fädeln muss, eine denkbar unpraktische Einrichtung, wer sich so etwas nur ausdenkt?
„Das ist Russland“, sagt meine Freundin und nickt verständnisvoll.