Zwei junge
Männer, lässig an einen sowjetischen Traktor gelehnt. Links und rechts ein paar
Ackerflächen, Gartengrundstücke mit Datschen, ein sprudelnder Fluss rauscht
vorbei. Die Taiga in frühlingshaftem Grün, Vogelgezwitscher.
- Früher war
das Dorf hier etwas größer, oder?
Ich war
einem Abzweig von der Hauptstraße mit dem Wegweiser „Chaim“ gefolgt und nach
wenigen hundert Metern auf einem holprigen Lehmweg hier angekommen. Ja, meinte
einer der beiden, vor fünfzehn Jahren ist das Dorf einem Waldbrand zum Opfer
gefallen, jetzt wohnen im Sommer noch ein paar Datschniki hier. Und ich?
- Tourist,
Deutschland, genauer: Ostdeutschland! Zehn Jahre im Kommunismus gelebt. Vier
Jahre Jungpionier mit blauem Halstuch!
Diese Sätze
habe ich so oder so ähnlich schon tausend Mal gesagt. Es sind meine
Eisbrechersätze. Wenn die Leute das hören, wird ihnen warm ums Herz. Du bist
doch fast einer von uns, sagen sie dann meistens.
Du bist doch
fast einer von uns, rief der junge Mann leider nicht. Stattdessen grinste er
und sagte, Pionier sei er leider nie gewesen. Richtig, ich vergaß: die
Eisbrechermethode funktioniert ab einem gewissen Geburtsjahrgang nicht mehr.
Trotzdem
kamen wir ins Gespräch; die beiden sind aus dem Nachbardorf, legen jetzt hier
in Chaim einen neuen Kartoffelacker an und suchen manchmal mit einem
Metalldetektor nach interessanten alten Gegenständen, dort, wo früher die
Häuser standen und jetzt nur noch einige verkohlte Eckpfeiler senkrecht aus der
längst wieder übergrünten Erde ragen.
Ein kleines,
leuchtend gelbes Zelt am Ufer des Baikalsees, daneben ein Brett als Bank zum
Sitzen, ein kleiner Gaskocher und Outdoor-Geschirr darauf. Ich spaziere den
Geröllstrand entlang und bleibe neugierig stehen. Sieht sehr nach
westeuropäischem Touristen aus! Ein Mann kriecht aus der Behausung, als er mich
erblickt, offensichtlich erfreut über jemanden zum Plaudern. Ich schmettere ihm
ein dynamisches Hello! entgegen.
Dmitrij,
meint er unsicher und gibt mir die Hand.
Dmitrij
kommt nicht ganz aus dem richtigen Westen, wie sich herausstellt, sondern
vielmehr von dort, wo Westen und Osten in unheilvollem Konflikt miteinander
liegen, aus Donezk. Was führt einen Ostukrainer an den Baikalsee? Schon ein
Jahr sei er in Russland unterwegs, per Autostop und mit dem Zelt, die Burjaten
seien das gastfreundlichste Volk, das er je getroffen habe. Den Winter habe er
als Gast in Klöstern verbracht, im orthodoxen Kloster allerdings den Fehler
gemacht zu erzählen, dass er zuvor im Tempel bei den Buddhisten gewesen sei, da
habe man ihn davongejagt.
Wir sitzen
auf dem Holzbrett neben seinem Zelt und unterhalten uns vor dem Hintergrund des
Wellenrauschens. Die örtlichen Alkoholiker wollten ihn auch schon vertreiben,
sagt Dmitrij, weil sie in ihm einen Konkurrenten sähen, der von dem Heiligen
Ort ganz in der Nähe die Rubelmünzen einsammeln könnte, die die Leute dort
opfern und die sie selbst für ihren Wodka brauchen.
Und in
seiner Heimat? Krieg?
- Eine
Häuserreihe weiter ist eine ukrainische Rakete in eine Zahnarztpraxis
eingeschlagen, wahrscheinlich wollte man das Polizeirevier daneben treffen und
hat die Eingänge verwechselt.
Ob seine
Eltern und Geschwister noch dort sind?
- Ich bin
allein im Waisenhaus aufgewachsen.
Kurzes
Schweigen. Ob ich schon bei den heißen Heilquellen weiter nördlich gewesen sei,
will Dmitrij wissen. Natürlich, es sei wunderschön dort, auf der Karte habe er
sicher gesehen, wie man hinkommt? Er habe kein Geld, um sich eine Karte zu
kaufen, man dulde ihn zwar als Flüchtling, aber eine Arbeitserlaubnis bekämen
Leute wie er nur über Beziehungen.
Dmitrij
bietet mir Grüntee an; meine Essvorräte sind leider alle, dafür schenke ich ihm
meine beiden Landkarten, damit der den Weg ins Bargusintal zu den Quellen
findet. Auf welcher Seite er im Ukrainekonflikt stehe?
- Es sind
alles Verbrecher, der ukrainische Präsident genauso wie die Leute, die sich
Regierung der Donezker Volksrepublik nennen! Die Leute wollen einfach nur
normal leben. So wie in Deutschland zum Beispiel!
Ein silbergrauer
Lada und ein grünes Zelt inmitten der Steppe. Ein schneidender Wind pfeift auf-
und abschwellend durch das Tal; das Auto ist so aufgestellt, dass es dem Zelt
als Windschutz dient. Daneben ein frisch aufgerissener Brandschutzgraben, eine
kilometerlange braune Furche aus aufgeworfener Erde, die die Ausbreitung eines
eventuellen Steppenbrandes verhindern soll. Der Reisende tritt barfuß vor das
Zelt, genießt das Gefühl des bloßen Sandbodens an den Füßen und begrüßt die
Morgensonne.
Ein kleiner
Toyota kommt angeflitzt, ein hagerer kleiner Mann steigt aus und studiert mit
wachem Blick den Touristen, das Zelt und den Lada.
- Nicht ein
bisschen einsam hier? Und kalt nachts?
Nein,
antworte ich und reiche ihm die Hand, allein in der Natur und mit einem guten
Schlafsack, das ist doch fantastisch!
- Ich suche
einen entlaufenen Bullen. Bau mal dein Zelt ab, in zehn Minuten komme ich
wieder vorbei, dann fahren wir zusammen auf meinen Hof, Tee trinken.
So lernte
ich Sergej kennen und seine Saimka,
wie die Bauernhöfe im Bargusin-Tal genannt werden, 62 Jahre alt, ehemaliger
Großbauer, dreißig Kühe und soundsoviele Hektar, bis die Frau starb, mit deren
Einkommen der Kredit abgezahlt wurde, den er genommen hatte, um das Unternehmen
aufzubauen. Also ging alles zurück an die Bank. Jetzt fängt er ganz von vorne
an: eine Kuh, ein Kalb, ein Bulle. Sergej hängt den Wasserkessel über das
offene Feuer und geht zum Melken in den Stall, damit wir frische Milch zum Tee
haben. Zum Frühstück gibt es Kartoffeln und frischen gesalzenen Fisch aus dem
Fluss gleich nebenan, auf den ich dankend verzichte: ich esse Fisch sehr gern,
aber gekocht oder gebraten muss er schon sein – nur gesalzen ist er für meine
Begriffe praktisch noch roh.
Zum
Nachtisch gibt es eine in Zeitungspapier gerollte Zigarette aus Machorka, dem
russischen Bauerntabak, der aussieht wie Rindenhäcksel. Aus landeskundlichem
Interesse rauche ich mit. Das schmale Ende wird zusammengepresst und
abgeknickt, sozusagen als Filterersatz: kosja
noschka, Ziegenfuß, heißt so eine Selbstgedrehte. Richtige Zigaretten sind
ihm zu teuer, sagt Sergej, und für den selbstangebauten Tabak ist es noch zu
früh im Jahr. Warum er keinen Drehtabak kauft? So etwas wird nicht verkauft,
meint er, ich solle ihm doch aus Deutschland ein Päckchen mitbringen.
- In den
Neunzigern war mal ein Deutscher hier, der wollte ein Windrad aufbauen im Tal.
Aber dann hat die Gebietsverwaltung doch kein Geld gehabt.
Und seitdem
keine Ausländer zu Besuch? Das ist doch ein wunderschöner Ort hier, ideal für
westeuropäische Naturliebhaber, Steppe, Pferde, Fluss und Berge, wenn es jetzt
auch noch Strom gäbe im Haus und weniger Müll herumläge…
- Ein
Müllabfuhrsystem existiert im Bargusin-Tal überhaupt nicht, jeder lässt seine
Abfälle dort, wo er will, - erklärt Sergej. – Der Strom wurde kürzlich
abgeklemmt, weil mein letzter Untermieter nicht gezahlt hat.
Ich mache
ein Foto von dem Gewächshaus, dessen Wände aus leeren Glasflaschen bestehen –
nicht selbst ausgetrunken, versichert mein Gastgeber, nur aufgesammelt – und vom
Hof, mit einem Autowrack im Vordergrund: Invalidka
wurde das Modell genannt, oder auch Spasiba
Gitleru, „Danke Hitler“, weil das mit einem Bein bedienbare Modell kostenlos
Kriegsinvaliden zur Verfügung gestellt wurde.
Ein Mann auf
einer Bank vor einem vernagelten Haus in einem kleinen Dorf in der Taiga.
Nachdenklich und – wohlgemerkt – nüchtern betrachtet er den Ausländer, der sich
nach der heißen Mineralquelle erkundigt, die es hier in der Nähe geben soll. Solotoj Kljutsch, Goldene Quelle, so
heißt das Dorf, vierzig Kilometer vom Baikalufer entfernt: ein kleines Sägewerk
und einige intakte Häuser inmitten einer maroden Bretter- und Balkenwüste,
umgeben von malerischen grünen Hügeln.
- Die
Kommunisten, das waren noch Menschen! Was war das für ein Leben hier, hundert
Familien, und alle hatten Arbeit!
Die heiße Quelle
sei etwas weiter flussaufwärts und nur mit dem Boot zu erreichen; von der
Brückenruine aus könne man wenigstens sehen, wie sie heraufsprudelt. Da aber der
Motor meines geliebten Lada erst nach dem dritten Versuch anspringt, verzichte ich auf den
zusätzlichen Halt und fahre direkt zurück nach Turka an die Hauptstraße. Wenn
schon Autopanne, dann lieber in der Zivilisation als am Weltrand.