Montag, 4. Juni 2018

An den Rändern der Zivilisation

Zwei junge Männer, lässig an einen sowjetischen Traktor gelehnt. Links und rechts ein paar Ackerflächen, Gartengrundstücke mit Datschen, ein sprudelnder Fluss rauscht vorbei. Die Taiga in frühlingshaftem Grün, Vogelgezwitscher.
- Früher war das Dorf hier etwas größer, oder?
Ich war einem Abzweig von der Hauptstraße mit dem Wegweiser „Chaim“ gefolgt und nach wenigen hundert Metern auf einem holprigen Lehmweg hier angekommen. Ja, meinte einer der beiden, vor fünfzehn Jahren ist das Dorf einem Waldbrand zum Opfer gefallen, jetzt wohnen im Sommer noch ein paar Datschniki hier. Und ich?
- Tourist, Deutschland, genauer: Ostdeutschland! Zehn Jahre im Kommunismus gelebt. Vier Jahre Jungpionier mit blauem Halstuch!
Diese Sätze habe ich so oder so ähnlich schon tausend Mal gesagt. Es sind meine Eisbrechersätze. Wenn die Leute das hören, wird ihnen warm ums Herz. Du bist doch fast einer von uns, sagen sie dann meistens.
Du bist doch fast einer von uns, rief der junge Mann leider nicht. Stattdessen grinste er und sagte, Pionier sei er leider nie gewesen. Richtig, ich vergaß: die Eisbrechermethode funktioniert ab einem gewissen Geburtsjahrgang nicht mehr.
Trotzdem kamen wir ins Gespräch; die beiden sind aus dem Nachbardorf, legen jetzt hier in Chaim einen neuen Kartoffelacker an und suchen manchmal mit einem Metalldetektor nach interessanten alten Gegenständen, dort, wo früher die Häuser standen und jetzt nur noch einige verkohlte Eckpfeiler senkrecht aus der längst wieder übergrünten Erde ragen.

Ein kleines, leuchtend gelbes Zelt am Ufer des Baikalsees, daneben ein Brett als Bank zum Sitzen, ein kleiner Gaskocher und Outdoor-Geschirr darauf. Ich spaziere den Geröllstrand entlang und bleibe neugierig stehen. Sieht sehr nach westeuropäischem Touristen aus! Ein Mann kriecht aus der Behausung, als er mich erblickt, offensichtlich erfreut über jemanden zum Plaudern. Ich schmettere ihm ein dynamisches Hello! entgegen.
Dmitrij, meint er unsicher und gibt mir die Hand.
Dmitrij kommt nicht ganz aus dem richtigen Westen, wie sich herausstellt, sondern vielmehr von dort, wo Westen und Osten in unheilvollem Konflikt miteinander liegen, aus Donezk. Was führt einen Ostukrainer an den Baikalsee? Schon ein Jahr sei er in Russland unterwegs, per Autostop und mit dem Zelt, die Burjaten seien das gastfreundlichste Volk, das er je getroffen habe. Den Winter habe er als Gast in Klöstern verbracht, im orthodoxen Kloster allerdings den Fehler gemacht zu erzählen, dass er zuvor im Tempel bei den Buddhisten gewesen sei, da habe man ihn davongejagt.
Wir sitzen auf dem Holzbrett neben seinem Zelt und unterhalten uns vor dem Hintergrund des Wellenrauschens. Die örtlichen Alkoholiker wollten ihn auch schon vertreiben, sagt Dmitrij, weil sie in ihm einen Konkurrenten sähen, der von dem Heiligen Ort ganz in der Nähe die Rubelmünzen einsammeln könnte, die die Leute dort opfern und die sie selbst für ihren Wodka brauchen.
Und in seiner Heimat? Krieg?
- Eine Häuserreihe weiter ist eine ukrainische Rakete in eine Zahnarztpraxis eingeschlagen, wahrscheinlich wollte man das Polizeirevier daneben treffen und hat die Eingänge verwechselt.
Ob seine Eltern und Geschwister noch dort sind?
- Ich bin allein im Waisenhaus aufgewachsen.
Kurzes Schweigen. Ob ich schon bei den heißen Heilquellen weiter nördlich gewesen sei, will Dmitrij wissen. Natürlich, es sei wunderschön dort, auf der Karte habe er sicher gesehen, wie man hinkommt? Er habe kein Geld, um sich eine Karte zu kaufen, man dulde ihn zwar als Flüchtling, aber eine Arbeitserlaubnis bekämen Leute wie er nur über Beziehungen.
Dmitrij bietet mir Grüntee an; meine Essvorräte sind leider alle, dafür schenke ich ihm meine beiden Landkarten, damit der den Weg ins Bargusintal zu den Quellen findet. Auf welcher Seite er im Ukrainekonflikt stehe?
- Es sind alles Verbrecher, der ukrainische Präsident genauso wie die Leute, die sich Regierung der Donezker Volksrepublik nennen! Die Leute wollen einfach nur normal leben. So wie in Deutschland zum Beispiel!

Ein silbergrauer Lada und ein grünes Zelt inmitten der Steppe. Ein schneidender Wind pfeift auf- und abschwellend durch das Tal; das Auto ist so aufgestellt, dass es dem Zelt als Windschutz dient. Daneben ein frisch aufgerissener Brandschutzgraben, eine kilometerlange braune Furche aus aufgeworfener Erde, die die Ausbreitung eines eventuellen Steppenbrandes verhindern soll. Der Reisende tritt barfuß vor das Zelt, genießt das Gefühl des bloßen Sandbodens an den Füßen und begrüßt die Morgensonne.
Ein kleiner Toyota kommt angeflitzt, ein hagerer kleiner Mann steigt aus und studiert mit wachem Blick den Touristen, das Zelt und den Lada.
- Nicht ein bisschen einsam hier? Und kalt nachts?
Nein, antworte ich und reiche ihm die Hand, allein in der Natur und mit einem guten Schlafsack, das ist doch fantastisch!
- Ich suche einen entlaufenen Bullen. Bau mal dein Zelt ab, in zehn Minuten komme ich wieder vorbei, dann fahren wir zusammen auf meinen Hof, Tee trinken.
So lernte ich Sergej kennen und seine Saimka, wie die Bauernhöfe im Bargusin-Tal genannt werden, 62 Jahre alt, ehemaliger Großbauer, dreißig Kühe und soundsoviele Hektar, bis die Frau starb, mit deren Einkommen der Kredit abgezahlt wurde, den er genommen hatte, um das Unternehmen aufzubauen. Also ging alles zurück an die Bank. Jetzt fängt er ganz von vorne an: eine Kuh, ein Kalb, ein Bulle. Sergej hängt den Wasserkessel über das offene Feuer und geht zum Melken in den Stall, damit wir frische Milch zum Tee haben. Zum Frühstück gibt es Kartoffeln und frischen gesalzenen Fisch aus dem Fluss gleich nebenan, auf den ich dankend verzichte: ich esse Fisch sehr gern, aber gekocht oder gebraten muss er schon sein – nur gesalzen ist er für meine Begriffe praktisch noch roh.
Zum Nachtisch gibt es eine in Zeitungspapier gerollte Zigarette aus Machorka, dem russischen Bauerntabak, der aussieht wie Rindenhäcksel. Aus landeskundlichem Interesse rauche ich mit. Das schmale Ende wird zusammengepresst und abgeknickt, sozusagen als Filterersatz: kosja noschka, Ziegenfuß, heißt so eine Selbstgedrehte. Richtige Zigaretten sind ihm zu teuer, sagt Sergej, und für den selbstangebauten Tabak ist es noch zu früh im Jahr. Warum er keinen Drehtabak kauft? So etwas wird nicht verkauft, meint er, ich solle ihm doch aus Deutschland ein Päckchen mitbringen.
- In den Neunzigern war mal ein Deutscher hier, der wollte ein Windrad aufbauen im Tal. Aber dann hat die Gebietsverwaltung doch kein Geld gehabt.
Und seitdem keine Ausländer zu Besuch? Das ist doch ein wunderschöner Ort hier, ideal für westeuropäische Naturliebhaber, Steppe, Pferde, Fluss und Berge, wenn es jetzt auch noch Strom gäbe im Haus und weniger Müll herumläge…
- Ein Müllabfuhrsystem existiert im Bargusin-Tal überhaupt nicht, jeder lässt seine Abfälle dort, wo er will, - erklärt Sergej. – Der Strom wurde kürzlich abgeklemmt, weil mein letzter Untermieter nicht gezahlt hat.
Ich mache ein Foto von dem Gewächshaus, dessen Wände aus leeren Glasflaschen bestehen – nicht selbst ausgetrunken, versichert mein Gastgeber, nur aufgesammelt – und vom Hof, mit einem Autowrack im Vordergrund: Invalidka wurde das Modell genannt, oder auch Spasiba Gitleru, „Danke Hitler“, weil das mit einem Bein bedienbare Modell kostenlos Kriegsinvaliden zur Verfügung gestellt wurde.

Ein Mann auf einer Bank vor einem vernagelten Haus in einem kleinen Dorf in der Taiga. Nachdenklich und – wohlgemerkt – nüchtern betrachtet er den Ausländer, der sich nach der heißen Mineralquelle erkundigt, die es hier in der Nähe geben soll. Solotoj Kljutsch, Goldene Quelle, so heißt das Dorf, vierzig Kilometer vom Baikalufer entfernt: ein kleines Sägewerk und einige intakte Häuser inmitten einer maroden Bretter- und Balkenwüste, umgeben von malerischen grünen Hügeln.
- Die Kommunisten, das waren noch Menschen! Was war das für ein Leben hier, hundert Familien, und alle hatten Arbeit!
Die heiße Quelle sei etwas weiter flussaufwärts und nur mit dem Boot zu erreichen; von der Brückenruine aus könne man wenigstens sehen, wie sie heraufsprudelt. Da aber der Motor meines geliebten Lada erst nach dem dritten Versuch anspringt, verzichte ich auf den zusätzlichen Halt und fahre direkt zurück nach Turka an die Hauptstraße. Wenn schon Autopanne, dann lieber in der Zivilisation als am Weltrand.