Dienstag, 24. April 2018

Russische Wege



























Die ersten in der graubraunen Steppe auftauchenden Blumen sind wie jedes Jahr die leuchtend lila Küchenschellen. Wir sahen sie auf unserem Fußweg vom Dorf Bajangol in den lichten Nadelwald hinein zu einem Felsen mit einer dreiunddreißig Meter hohen, eingemeißelten und farbig gezeichneten Buddha-Darstellung. Die Sehenswürdigkeit befindet sich 160 Kilometer östlich von Ulan-Ude, in zwei Fahrtstunden zu schaffen. Wahrscheinlich hätte ich mir mehr Zeit nehmen sollen, um dem einen oder anderen Schlagloch sorgfältiger auszuweichen. Auf dem Rückweg veranlasste uns Gummigeruch und ein schlagendes und schleifendes Geräusch am rechten Hinterrad zum Halten: der Stoßdämpfer des Lada Samara war gebrochen und saß am Reifen auf. Ein Fall für den Abschleppwagen, der zwei Stunden nach Anruf kam, obwohl wir bis Ulan-Ude nur noch 33 Kilometer vor uns hatten. Wir hätten uns den heilige Ort wohl nur als Touristen angesehen und deshalb die Geister erzürnt, meinte der burjatische Fahrer. Aber nein, wie es der Brauch verlangt, haben wir jeder eine Münze dort gelassen, versicherte ich ihm.
Meine Vermutung, dass Autos aus russischer Produktion am besten an die rauen russischen Wegeverhältnisse angepasst sind, ist wohl falsch. Die Leute werden schon wissen, warum sie alle Toyota fahren! Auf unbekannter Landstraße scheint es am besten zu sein, hinter einem langsameren Fahrzeug herzufahren, dort zu bremsen, wo es auch bremst und die gleichen Ausweichmanöver zu vollziehen. Einheimische kennen schließlich ihre Schlaglöcher am besten.

Putin hat die Präsidentschaftswahlen mit 77 Prozent souverän gewonnen. Wahlfälschungen im großen Stil haben dabei wohl nicht stattgefunden. Wie kann es sein, dass sich ein Volk so einmütig hinter einen starken Mann stellt? Die russische Gesellschaft scheint sehr viel homogener als die deutsche, die Schicksale und Wertevorstellungen ähneln einander stärker und alle eint der Wunsch nach Stabilität und einem komfortableren Leben. Putin gelingt es, dieses Ziel aufzugreifen und den Menschen das Gefühl zu geben, daran erfolgreich zu arbeiten. Natürlich sehen die Leute auch die offensichtlichen Missstände im Land, würden aber nicht auf die Idee kommen, den Präsidenten auszutauschen: verantwortlich für die Misere sind Beamte, Regionalpolitiker und Wirtschaftsoligarchen. Der Zar ist gut, die Bojaren sind schlecht, so hieß es schon vor über hundert Jahren.
Beim Verfolgen der Medien beunruhigt mich die Zuspitzung des Konfliktes zwischen Russland und dem Westen. Nisos Bruder Ruslan ist bei der Armee. Jeden Moment kann er nach Syrien abkommandiert werden, sagt meine Freundin. Warum beschießen die Amerikaner Russlands Verbündeten mit Raketen, fragt sie. Aber warum unterstützt Russland einen Diktator? Warum bombt der Westen arabische Länder ins Chaos? Warum ist für die Russen Stabilität wichtiger als Demokratie? Wenn man deutsche und russische Nachrichten verfolgt, scheint es, als lebt jede Seite in ihrer eigenen Blase aus jeweils in sich geschlossenen logischen Argumenten, Voraussetzungen und Werten, zwei verschiedene, nicht miteinander kompatible Welten und nicht aufeinander abstimmbare Wege.

Am Nachmittag ist mitunter schon so warmes T-Shirt-Wetter, dass man meinen könnte, der Winter geht nahtlos in den Sommer über. Auf dem von den fünfetagigen grauen Chruschtschtowka-Bauten umgebenen großen Spielplatz spielen Maja und ich w prjatki (Verstecken) und w dogonjalki (Fangen); ich setze sie auf einen Baum oder wir klettern über einen kleinen künstlichen Felsen, damit sie ihre Angst vor der Höhe verliert.