Die ersten in der graubraunen Steppe auftauchenden Blumen
sind wie jedes Jahr die leuchtend lila Küchenschellen. Wir sahen sie auf
unserem Fußweg vom Dorf Bajangol in den lichten Nadelwald hinein zu einem
Felsen mit einer dreiunddreißig Meter hohen, eingemeißelten und farbig
gezeichneten Buddha-Darstellung. Die Sehenswürdigkeit befindet sich 160
Kilometer östlich von Ulan-Ude, in zwei Fahrtstunden zu schaffen. Wahrscheinlich
hätte ich mir mehr Zeit nehmen sollen, um dem einen oder anderen Schlagloch
sorgfältiger auszuweichen. Auf dem Rückweg veranlasste uns Gummigeruch und ein
schlagendes und schleifendes Geräusch am rechten Hinterrad zum Halten: der
Stoßdämpfer des Lada Samara war gebrochen und saß am Reifen auf. Ein Fall für
den Abschleppwagen, der zwei Stunden nach Anruf kam, obwohl wir bis Ulan-Ude
nur noch 33 Kilometer vor uns hatten. Wir hätten uns den heilige Ort wohl nur
als Touristen angesehen und deshalb die Geister erzürnt, meinte der burjatische
Fahrer. Aber nein, wie es der Brauch verlangt, haben wir jeder eine Münze dort
gelassen, versicherte ich ihm.
Meine Vermutung, dass Autos aus russischer Produktion am
besten an die rauen russischen Wegeverhältnisse angepasst sind, ist wohl
falsch. Die Leute werden schon wissen, warum sie alle Toyota fahren! Auf
unbekannter Landstraße scheint es am besten zu sein, hinter einem langsameren
Fahrzeug herzufahren, dort zu bremsen, wo es auch bremst und die gleichen Ausweichmanöver
zu vollziehen. Einheimische kennen schließlich ihre Schlaglöcher am besten.
Putin hat die Präsidentschaftswahlen mit 77 Prozent souverän
gewonnen. Wahlfälschungen im großen Stil haben dabei wohl nicht stattgefunden.
Wie kann es sein, dass sich ein Volk so einmütig hinter einen starken Mann
stellt? Die russische Gesellschaft scheint sehr viel homogener als die
deutsche, die Schicksale und Wertevorstellungen ähneln einander stärker und
alle eint der Wunsch nach Stabilität und einem komfortableren Leben. Putin
gelingt es, dieses Ziel aufzugreifen und den Menschen das Gefühl zu geben,
daran erfolgreich zu arbeiten. Natürlich sehen die Leute auch die
offensichtlichen Missstände im Land, würden aber nicht auf die Idee kommen, den
Präsidenten auszutauschen: verantwortlich für die Misere sind Beamte,
Regionalpolitiker und Wirtschaftsoligarchen. Der Zar ist gut, die Bojaren sind schlecht, so hieß es schon vor
über hundert Jahren.
Beim Verfolgen der Medien beunruhigt mich die Zuspitzung des
Konfliktes zwischen Russland und dem Westen. Nisos Bruder Ruslan ist bei der
Armee. Jeden Moment kann er nach Syrien abkommandiert werden, sagt meine
Freundin. Warum beschießen die Amerikaner Russlands Verbündeten mit Raketen,
fragt sie. Aber warum unterstützt Russland einen Diktator? Warum bombt der
Westen arabische Länder ins Chaos? Warum ist für die Russen Stabilität
wichtiger als Demokratie? Wenn man deutsche und russische Nachrichten verfolgt,
scheint es, als lebt jede Seite in ihrer eigenen Blase aus jeweils in sich
geschlossenen logischen Argumenten, Voraussetzungen und Werten, zwei
verschiedene, nicht miteinander kompatible Welten und nicht aufeinander
abstimmbare Wege.
Am Nachmittag ist mitunter schon so warmes T-Shirt-Wetter,
dass man meinen könnte, der Winter geht nahtlos in den Sommer über. Auf dem von
den fünfetagigen grauen Chruschtschtowka-Bauten umgebenen großen Spielplatz
spielen Maja und ich w prjatki
(Verstecken) und w dogonjalki
(Fangen); ich setze sie auf einen Baum oder wir klettern über einen kleinen
künstlichen Felsen, damit sie ihre Angst vor der Höhe verliert.