Mittwoch, 4. April 2018

Akzente

Gestern schrieb ich ein paar russische Worte an die kleine Tafel in unserem Lehrerzimmer und diskutierte mit meiner Kollegin Nadezhda die Frage, ob wohl zu erkennen sei, dass dies ein Ausländer geschrieben habe. Ob meine Handschrift sozusagen einen Akzent hat, wie auch mein mündliches Russisch. Nadezhda überlegte eine Weile. Das kleine t hat eigentlich die Form eines deutschen m, ich schreibe es in T-Form, weil das schneller geht, nun gut, das machen viele Russen auch. Aber einige Buchstaben seien untypisch miteinander verbunden. Irgendwie merke man es schon, meinte die Kollegin nach einigem Überlegen, hier war kein Muttersprachler am Werk.
Wenn ich spreche, müssen Russen nicht lange nachdenken, sondern hören in der Regel nach wenigen Sätzen, dass ein Ausländer vor ihnen steht. Wer ein wenig Erfahrung mit verschiedenen Akzenten hat, erkennt den Deutschen. Das wird sicher auch in der Zukunft so bleiben. Ich glaube, schon in früher Kindheit werden die Muskeln im Munde eines deutschen Kindes anders angelegt als die im Munde eines russischen. Deutsche Laute werden weiter vorn gebildet, russische eher hinten im Rachenraum, was den Vokalen eine charakteristische, unverkennbare Färbung verleiht. Viele russische Konsonanten sind palatalisiert, das heißt, der hintere Teil der Zunge vollführt nach ihrer Artikulation eine Bewegung zum Gaumen hin, was sich vor Vokalen oft wie ein „j“ anhört, aber eigentlich keines ist, wie in Matrjoschka. T, k und p am Wortanfang haben keinen so starken Luftstoß wie im Deutschen, sie sind nicht aspiriert. Wenn ein Deutscher Thomas sagt und sich dabei ein Blatt Papier vor den Mund hält, vibriert es vom Lufthauch. Wenn ein Russe Thomas sagt, bleibt das Blatt still. Vor Vokalen am Wortanfang schließen Russen ihren Kehlkopfdeckel nicht, es unterbleibt der Glottisschlag. Das gerollte r, die Zischlaute, alles erlernbar, aber so diffizil und in Feinheiten anders als im Deutschen, dass der Ausländer fast immer herausgehört wird. Fast immer. Manchmal bin ich regelrecht irritiert, wenn mein Gegenüber nach fünf Minuten Gespräch immer noch nicht gefragt hat: und wo kommen Sie eigentlich her?

Letzte Woche gab die bekannte Moskauer Pianistin Jekaterina Motschalina in der Philharmonie Ulan-Udes ein Konzert. In Russland werden klassische Konzerte immer moderiert, die Künstler effektvoll angekündigt und auf die Bühne gebeten, nicht selten wird zu den Werken etwas erzählt. Dieses Mal war etwas anders. Ganz in schwarz gekleidet, betrat die Moderatorin gemeinsam mit der Pianistin die Bühne. „In der Stadt Kemerovo ist ein schreckliches Ereignis passiert, das vielen Menschen das Leben gekostet hat“, hörten wir, und jeder wusste, dass es um den Brand eines Einkaufszentrums mit fast hundert Todesopfern ging. „Heute ist landesweite Trauer ausgerufen. Im Andenken an die Opfer bitte ich um eine Minute Schweigen!“ Der Saal erhob sich. Die Musik großer Komponisten verbinde die Menschen und mache Hoffnung, dass sich so etwas nicht wiederholt, sagte sie weiter und kündigte an, dass nun zunächst das cis-moll-Präludium von Rachmaninov erklinge. Nachdem die letzten nachdenklichen Akkorde entschwebt waren, begann das eigentliche Programm. Die Pianistin wurde unter Nennung aller ihrer Preise und Auszeichnungen auf die Bühne geklatscht und spielte ihr nur aus deutschen Komponisten bestehendes Programm. Das Haus war bis auf den letzten Platz ausverkauft. Zum ersten Mal saß ich bei einem Klavierabend in der ersten Reihe; Kartenpreis drei Euro. Maja bekam in der Pause Haferkekse und hielt aufmerksam bis zum Ende durch. Stehende Ovationen.

Am Beispiel von Maja sehe ich, dass Kinder lernen wollen, wenn man nur eine interessante Umgebung schafft und sie ein wenig unterstützt. Neuerdings entdeckt sie die deutsche Sprache, zeichnet etwas, eine Blume, ein Auto oder ein Haus; ich soll das deutsche Wort dazuschreiben, und sie versucht es zu entziffern. Oder wir spielen das Spiel „Abenteuerreise Deutschland“ mit einer Deutschlandkarte, auf der man sich würfelnd fortbewegt unter Lösung kleiner Aufgaben auf Deutsch. Richtig angestellt, ist dafür kaum Druck erforderlich, höchstens ein wenig Konsequenz beim Klavierüben vielleicht. Maja faltet, bastelt, malt und schreibt von ganz allein. Kinder wollen sich eigentlich die Welt erschließen. Wichtig finde ich die Abwesenheit von Medien, die die Aufmerksamkeit absaugen und alle Kreativität erschlagen. Bei uns gibt es keinen Fernseher, und mein Notebook wird nur zum Arbeiten aufgeklappt.

Vor einiger Zeit habe ich ein Flugticket von Nizhneangarsk nach Ulan-Ude gekauft, für den 9. April. Nizhneangarsk liegt am Nordende des Baikalsees, eine reichliche Flugstunde bis hierher. Was ist mit dem Hinflug, fragte die Frau am Schalter, oder gehen Sie vielleicht zu Fuß? Ich komme auf andere Weise hin, murmelte ich, ohne meinen Plan näher auszuführen: in Längsrichtung über den Baikalsee trampen, 250 Kilometer von Ust-Bargusin nach Severobaikalsk, wo nach meiner Kenntnis regelmäßig Autos auf einer Art inoffizieller Eisstraße fahren. Anfang April ist das Eis noch dick genug für einen LKW. Natürlich bleibt eine Unsicherheit, ob mich jemand mitnimmt. Wenn es nicht klappt, wird am 9. April wohl ein Platz in der kleinen Propellormaschine freibleiben.