Gestern schrieb ich ein paar russische Worte an die kleine
Tafel in unserem Lehrerzimmer und diskutierte mit meiner Kollegin Nadezhda die
Frage, ob wohl zu erkennen sei, dass dies ein Ausländer geschrieben habe. Ob
meine Handschrift sozusagen einen Akzent
hat, wie auch mein mündliches Russisch. Nadezhda überlegte eine Weile. Das
kleine t hat eigentlich die Form eines deutschen m, ich schreibe es in T-Form,
weil das schneller geht, nun gut, das machen viele Russen auch. Aber einige
Buchstaben seien untypisch miteinander verbunden. Irgendwie merke man es schon,
meinte die Kollegin nach einigem Überlegen, hier war kein Muttersprachler am
Werk.
Wenn ich spreche, müssen Russen nicht lange nachdenken,
sondern hören in der Regel nach wenigen Sätzen, dass ein Ausländer vor ihnen
steht. Wer ein wenig Erfahrung mit verschiedenen Akzenten hat, erkennt den
Deutschen. Das wird sicher auch in der Zukunft so bleiben. Ich glaube, schon in
früher Kindheit werden die Muskeln im Munde eines deutschen Kindes anders
angelegt als die im Munde eines russischen. Deutsche Laute werden weiter vorn
gebildet, russische eher hinten im Rachenraum, was den Vokalen eine
charakteristische, unverkennbare Färbung verleiht. Viele russische Konsonanten
sind palatalisiert, das heißt, der
hintere Teil der Zunge vollführt nach ihrer Artikulation eine Bewegung zum
Gaumen hin, was sich vor Vokalen oft wie ein „j“ anhört, aber eigentlich keines
ist, wie in Matrjoschka. T, k und p
am Wortanfang haben keinen so starken Luftstoß wie im Deutschen, sie sind nicht
aspiriert. Wenn ein Deutscher Thomas sagt und sich dabei ein Blatt
Papier vor den Mund hält, vibriert es vom Lufthauch. Wenn ein Russe Thomas
sagt, bleibt das Blatt still. Vor Vokalen am Wortanfang schließen Russen ihren
Kehlkopfdeckel nicht, es unterbleibt der Glottisschlag.
Das gerollte r, die Zischlaute, alles erlernbar, aber so diffizil und in Feinheiten
anders als im Deutschen, dass der Ausländer fast immer herausgehört wird. Fast
immer. Manchmal bin ich regelrecht irritiert, wenn mein Gegenüber nach fünf
Minuten Gespräch immer noch nicht gefragt hat: und wo kommen Sie eigentlich
her?
Letzte Woche gab die bekannte Moskauer Pianistin Jekaterina
Motschalina in der Philharmonie Ulan-Udes ein Konzert. In Russland werden
klassische Konzerte immer moderiert, die Künstler effektvoll angekündigt und
auf die Bühne gebeten, nicht selten wird zu den Werken etwas erzählt. Dieses
Mal war etwas anders. Ganz in schwarz gekleidet, betrat die Moderatorin
gemeinsam mit der Pianistin die Bühne. „In der Stadt Kemerovo ist ein
schreckliches Ereignis passiert, das vielen Menschen das Leben gekostet hat“,
hörten wir, und jeder wusste, dass es um den Brand eines Einkaufszentrums mit
fast hundert Todesopfern ging. „Heute ist landesweite Trauer ausgerufen. Im
Andenken an die Opfer bitte ich um eine Minute Schweigen!“ Der Saal erhob sich.
Die Musik großer Komponisten verbinde die Menschen und mache Hoffnung, dass
sich so etwas nicht wiederholt, sagte sie weiter und kündigte an, dass nun
zunächst das cis-moll-Präludium von
Rachmaninov erklinge. Nachdem die letzten nachdenklichen Akkorde entschwebt
waren, begann das eigentliche Programm. Die Pianistin wurde unter Nennung aller
ihrer Preise und Auszeichnungen auf die Bühne geklatscht und spielte ihr nur
aus deutschen Komponisten bestehendes Programm. Das Haus war bis auf den
letzten Platz ausverkauft. Zum ersten Mal saß ich bei einem Klavierabend in der
ersten Reihe; Kartenpreis drei Euro. Maja bekam in der Pause Haferkekse und
hielt aufmerksam bis zum Ende durch. Stehende Ovationen.
Am Beispiel von Maja sehe ich, dass Kinder lernen wollen, wenn man nur eine interessante
Umgebung schafft und sie ein wenig unterstützt. Neuerdings entdeckt sie die
deutsche Sprache, zeichnet etwas, eine Blume, ein Auto oder ein Haus; ich soll
das deutsche Wort dazuschreiben, und sie versucht es zu entziffern. Oder wir
spielen das Spiel „Abenteuerreise Deutschland“ mit einer Deutschlandkarte, auf
der man sich würfelnd fortbewegt unter Lösung kleiner Aufgaben auf Deutsch. Richtig
angestellt, ist dafür kaum Druck erforderlich, höchstens ein wenig Konsequenz
beim Klavierüben vielleicht. Maja faltet, bastelt, malt und schreibt von ganz
allein. Kinder wollen sich eigentlich
die Welt erschließen. Wichtig finde ich die Abwesenheit von Medien, die die
Aufmerksamkeit absaugen und alle Kreativität erschlagen. Bei uns gibt es keinen
Fernseher, und mein Notebook wird nur zum Arbeiten aufgeklappt.
Vor einiger Zeit habe ich ein Flugticket von Nizhneangarsk
nach Ulan-Ude gekauft, für den 9. April. Nizhneangarsk liegt am Nordende des
Baikalsees, eine reichliche Flugstunde bis hierher. Was ist mit dem Hinflug,
fragte die Frau am Schalter, oder gehen Sie vielleicht zu Fuß? Ich komme auf
andere Weise hin, murmelte ich, ohne meinen Plan näher auszuführen: in
Längsrichtung über den Baikalsee trampen, 250 Kilometer von Ust-Bargusin nach
Severobaikalsk, wo nach meiner Kenntnis regelmäßig Autos auf einer Art
inoffizieller Eisstraße fahren. Anfang April ist das Eis noch dick genug für
einen LKW. Natürlich bleibt eine Unsicherheit, ob mich jemand mitnimmt. Wenn es
nicht klappt, wird am 9. April wohl ein Platz in der kleinen Propellormaschine
freibleiben.