Von Mitte Februar bis Mitte April ist der zugefrorene
Baikalsee von einem Netz offizieller und inoffizieller Straßen überzogen.
Einige weit abgelegene Siedlungen sind so viel schneller zu erreichen als mit
tagelangen Umwegen über das Festland. Manche einsamen Wetterstationen oder
Nationalparkhütten haben überhaupt nur diese Verbindung in die Zivilisation: im
Sommer mit dem Boot über das Wasser, im Winter mit dem Auto über das Eis. Eine
dieser Straßen führt von der zwischen der Halbinsel Heilige Nase und den
Bargusin-Bergen gelegenenen Tschivirkuj-Bucht bis nach Severobaikalsk, 250
Kilometer bis ans Nordende des Sees. Ich habe mir fünf Tage Zeit genommen, um
diese Strecke per Autostopp zurückzulegen: einen Tag für die Anreise in die
Bucht, einen Tag, um nach Severobaikalsk zu kommen, zwei Reservetage, falls es
nicht gleich klappt und am fünften Tag dann der schon im Voraus gebuchte
Rückflug nach Ulan-Ude.
In der Mitte
der Tschivirkuj-Bucht steht eine kleine Jurtensiedlung. Für 900 Rubel pro Nacht
werden die Schlafplätze an Hobbyfischer vermietet, die mit ihren Angeln durch
ins Eis gebohrte Löcher nach Omul oder Maränen fischen.
- Verdammte
Scheiße, ein Deutscher! Wie heißt du? Gans?
Meine drei
Mitbewohner begrüßen mich herzlich per Handschlag, echte, kernige russische
Männer mit der entsprechenden, von Fluchworten durchsetzten Sprache dazu.
- Klar, alle
Deutschen heißen Hans! Und du – Iwan!
Wir lachen
und nennen unsere richtigen Namen.
- Verfluchter
Bockmist, nach Severobaikalsk? Dann musst du nach Autos mit Brettern auf dem
Dach Ausschau halten, die sind dazu da, um über die Spalten im Eis zu kommen!
Die drei
sind aus Krasnojarsk und kommen jedes Jahr hierher, um zu fischen. Dieses Jahr
ist die Ausbeute nicht so gut, die Fische sind klein, und es gibt nur wenige. In
der Mitte der Jurte steht ein kleiner Bollerofen, daneben ein Stapel Holz. Etwa
zwei Stunden hält er die Wärme. Wer nachts zuerst friert, steht auf und legt
nach, möglichst bevor die letzte Glut erloschen ist, weil sonst umständlich neu
angezündet werden muss.
Am nächsten
Tag mache ich mich auf den Weg an das Nordende der Bucht, um Position zu
beziehen für die Mitfahrt nach Severobaikalsk. In den letzten beiden Wintern
war das Eis hier vom Wind blankgefegt, glatt und durchsichtig mit einer
faszinierenden Vielfalt an feinen Lufteinschlüssen. In diesem Jahr gab es
außergewöhnlich viel Niederschlag; abseits der festgefahrenen Straße laufe ich
durch eine dicke, knirschende, pulverige Schneeschicht.
Ein kalter
Wind bläst mir um die Ohren. Ich betrete eine kleine, quaderförmige Holzbude.
Drinnen sitzen zwei Männer auf Pritschen und halten ihre Angeln in die sich
unter den quadratischen Öffnungen im Hüttenboden befindlichen Eislöcher. Ich
erfahre, dass der Weg nach Norden etwas weiter östlich verläuft, entlang der
kleinen Kiefern, die im Abstand von etwa einem halben Kilometer in den Schnee
gesteckt sind.
- Wenn es
nicht stört, dann würde ich eventuell noch ein paar Minuten hier sitzenbleiben
und mich aufwärmen.
Die beiden
lachen über meine westeuropäische Höflichkeit.
- Tee?
Zwei
Rentner, ein burjatischer Geophysiker und ein russischer Fernfahrer, sie
verbringen seit zehn Jahren jeden Winter drei Monate hier. Eine Autobatterie
spendet Strom, ein kleines Gasflämmchen Wärme, eine Flasche reicht für
anderthalb Wochen. Auf dem Tisch steht das Display eines Echolot-Messgerätes,
auf dem vorüberziehende Fischschwärme sichtbar sind.
- Djewuschka?
Ob ich ein
Mädchen, also eine Freundin habe. Ich nicke.
- Ja, wenn
aus dem Mädchen eine Alte wird, dann ist es nicht mehr so lustig. Deshalb sind
wir hier. Im Sommer kann man in den Gemüsegarten. Aber jetzt? In der Wohnung
sitzen?
Der
Geophysiker erzählt, dass das Eis aufgrund des vielen Schnees in diesem Jahr
etwas dünner sei, nur 80 Zentimeter und nicht wie sonst über einen Meter dick.
Hier in der Tschivirkuj-Bucht ist der Baikal etwa 22 Meter tief, kein Vergleich
zu den anderthalb Kilometern im Hauptbecken. Als Wissenschaftler habe er sich
mit der Messung von natürlicher Radioaktivität in Burjatien beschäftigt,
aufgrund der Gesteinszusammensetzung sei diese höher als sonst in Russland
üblich. Anfangs stellte man die Ergebisse ins Internet, dann wurde das
verboten. Der Fernfahrer präsentiert fürs Foto seine größte Maräne, dann
verabschiede ich mich.
Russen
wollen in der Natur entweder angeln, jagen oder in fröhlicher Gesellschaft
trinken. Wenn jemand mit einem großen Rucksack allein herumwandelt – bloß um die Natur zu genießen oder aus ähnlich
unklaren Gründen – ist es mit großer Wahrscheinlichkeit ein Europäer. Und die
Chancen, dass ihn jemand im Auto mitnimmt, stehen sehr gut. Ein Ausländer
verspricht ein wenig Abwechslung.
Tag eins.
Sicher klappt es heute. Das Wetter prima, im Schnee frische Wagenspuren, es
sieht nach regelmäßigem Verkehr aus.
Als erstes
hält ein weißer Jeep.
- Severobaikalsk?
- Klar,
steig ein! Aber achte bitte nicht auf die anderen Leute im Wagen, klar?
Im Auto
stinkt es durchdringend nach Alkohol.
- Nationalität?
- Deutsch.
Die beiden
stockbesoffenen Passagiere brechen in grölende Heiterkeit aus und fuchteln mit
einer fast leeren Wodkaflasche herum. Zweihundertfünfzig Kilometer mit
Besoffenen im Auto? Ich bedanke mich freundlich und steige aus.
Das zweite
Fahrzeug ist ein kleiner Toyota.
- Severobaikalsk?
- Ja, aber
leider kein Platz. Wir fahren zu einem Begräbnis.
Auf der
Rückbank erblicke ich einen länglichen abgedeckten Gegenstand, wahrscheinlich
ein Sarg. Ich wünsche herzliches Beileid und gute Fahrt.
Als drittes
halten zwei glänzende, dicke Pickups mit vier korpulenten, speckigen Herren
darin, Geschäftsführer des Irkutsker Milchprodukte- und Majonnaise-Herstellers
Janta. Sie fahren nur 60 Killometer bis zur nächsten Siedlung, sind aber gern
bereit, mich mitzunehmen. Souverän gleiten wir in einigen Kilometern Entfernung
vom Ufer über den Schnee und haben nach kurzer Zeit den Sarg und die
Betrunkenen überholt. Wir halten an einem Schild: Bargusinsker Staatliches Zapovjednik. Dafscha. Aufenthalt ohne
Genehmigung verboten. – Ein Zapovjednik
ist in Russland die strengste Naturschutzgebiete-Kategorie. Da ich für die
Siedlung Dafscha keine Genehmigung habe, steige ich aus und wünsche den Herren
viel Glück beim Angeln.
Solange es
Hoffnung gibt, ist Warten eine durchaus erbauliche Angelegenheit. Ich lasse mir
die Mittagssonne ins Gesicht scheinen, trinke Tee und versuche das große
Schweigen zu begreifen, das Schweigen auf dem winterlichen Baikal.
Näherkommendes Motorengeräusch: die Betrunkenen, die wir
gerade überholt hatten, sind wieder da. Inzwischen ist auch der Fahrer blau. Er
kommt mir mit schwankenden Schritten entgegen.
- Inzwischen
schlafen alle im Auto. Steig ein!
- Vielen
Dank, ich erhole mich hier noch ein wenig!
- Nu, smotri sam, du musst es selbst wissen.
Wenig später
der Sarg. Der Fahrer macht eine entschuldigende Handbewegung. Ich winke
fröhlich zurück. Wo kein Platz ist, da ist kein Platz. Ich kann mich
schließlich schlecht dazulegen.
Eine Stunde
später ein kleiner LkW, nur leider in die Gegenrichtung unterwegs, zurück in
die Bucht. Da ich dem Schweigen des winterlichen Baikals nach einer Stunde
Warten nicht mehr so viel abgewinnen kann, steige ich trotzdem ein. Am Steuer
ein sympathischer Kerl in meinem Alter, Nationalparkmitarbeiter.
-Per
Autostopp nach Severobaikalsk? Wesjolyj
parjen, ein fröhlicher Bursche bist du! Welche Reiseziele im Leben hast du
sonst noch?
- Na,
Kamtschatka vielleicht.
- Ich fahre
nicht gern weit weg, bin eigentlich am liebsten zuhause.
- Dann ist
das aber nicht ganz der richtige Job?
- Das alles
hier zähle ich zu meinem Zuhause!
Der junge
Mann deutet mit einer Handbewegung über den See.
Beim ersten
Auto, das uns entgegenkommt, habe ich Glück. Der Mann am Steuer will ganz nach
Norden, ist nüchtern, und auf der Rückbank steht kein Sarg. Ich steige um und
freue mich darauf, bald Jewgenij Marjasov und seine Tochter Anna in
Severobaikalsk wiederzusehen, die das Baikal Trail Hostel betreiben und die ich
vor über fünf Jahren mehrfach besucht hatte, bei meinen ersten Reisen an den
Baikal mit der BAM.
- Wassili, auch
Deutscher.
Wieso auch, staune ich, woher weiß er das von
mir nur so genau, ich habe doch noch gar nichts erzählt? Seine Eltern, erfahre
ich, wurden im Krieg von der Wolga an den Amur verbannt und sind dann in den
70er Jahren, in der heißen Phase des Grenzkonflikts mit China, in die
Baikalregion gezogen.
Die
Fahrspuren im Schnee sind gut zu erkennen, nur an einigen Stellen verweht. Ein
wenig Rütteln und Motorjaulen, dann geht es weiter.
- Vorderradantrieb?
- Allrad.
Wenn die Räder vorn durchdrehen, schaltet die Hinterachse zu.
Ich bin
beruhigt. Die Sonne neigt sich dem Horizont entgegen. Im Schnitt schaffen wir
etwa 30 bis 40 km/h. Bevor es völlig dunkel ist, sind wir wohl am Ziel. Wir
passieren die Thermalquellen Chakusy, vor uns liegen die letzten 50 Kilometer
quer über den See ans andere Ufer.
- Job twoju mat!
Die
Fahrspuren sind inzwischen so verweht, dass der Toyota steckenbleibt. Wenn die
Räder in den Schnee sinken und das übrige Fahrzeug auf der erhöhten Fläche
dazwischen aufsitzt, hilft auch Allrad nicht weiter. Also holt Wassili eine
Schaufel hervor und befreit sein Auto von unten. Zehn Meter später das gleiche
Spiel. Und wieder. Und wieder.
Wassili
spuckt aus und flucht. Die Besoffenen und der Sarg müssen doch gerade noch hier
vorbeigekommen sein. Oder haben wir den Weg verfehlt? Noch eine knappe Stunde
bis zur Dunkelheit.
- Schonmal
im Auto übernachtet?
- Ja, aber
Benzin hat die Eigenschaft, zuende zu gehen!
Ich verstehe
seine bittere Ironie: der Sprit reicht nicht, um eine Nacht mit laufendem Motor
hier zu stehen und am nächsten Tag noch das Ziel zu erreichen. Ich wäre mit
meinen Outdoorsachen und zwei Daunenschlafsäcken gerüstet für eine kalte Nacht
auch ohne Auto, ein Feuer am Ufer, heißer Tee mit dem Propangaskocher, das
Leben geht weiter. Wassili aber trägt Anzughosen und Weste und hat außer etwas
zu essen nichts dabei. Handyempfang gibt es keinen, und niemand von uns hat ein
Satellitentelefon.
Wir
beschließen umzukehren, möglichst genau in unserer gerade ausgefahrenen Spur. In
mondlosem Dunkel rütteln wir langsam über die endlose Schneedecke, nur ein
kleiner Ausschnitt der stockfinsteren Welt vor uns erhellt von den
Scheinwerferkegeln, die laut aufgedrehte Musik vertreibt das mulmige Gefühl in
der Magengegend. Nach Mitternacht erreichen wir die Tschivirkuj-Bucht, ich
lasse mich an meiner Jurte absetzen. Die Krasnojarsker Hobbyfischer sind
amüsiert.
- Na, nicht
weit gekommen, was?
- Doch!
Zweihundert Kilometer hin und wieder zurück.
Niemand ist
beeindruckt. Russen haben ein anderes Maß für Entfernungen als ich.
Tag zwei.
Sicher klappt es heute. Die intensive Wintersonne rötet mein Gesicht, es bläst
ein feiner Wind, vom Nordende der Insel Golyj,
die Nackte, dringt Möwengekreisch zu mir herüber. Unterhalb der felsigen
Steilküste des Inselchens entdecke ich eine tiefe Grotte mit faszinierenden,
riesigen Eiszapfen und –säulen, die die Wellen des herbstlichen Baikal vor
seiner winterlichen Erstarrung erzeugt haben. Noch einmal betrete ich die
Holzbude der beiden Rentner, die mich am Vortag so nett empfangen haben. Ich
treffe den Fernfahrer allein an. Aus der Nachbarhütte dringen fluchende
Brabbellaute. Der Geophysiker hat sich nach nebenan auf Besuch begeben und dort
volllaufen lassen, sein Kollege hält an den Angeln die Stellung.
Ich begebe
mich an erneut eine der den Fahrweg markierenden, in den Schnee gesteckten
kleinen Kiefern. Zehn Uhr. Die Landschaft mit dem Fernglas betrachten. Tee
trinken, etwas essen. Den Möwen und dem Wind lauschen. Allen möglichen Gedanken
hinterherhängen. Keinen Gedanken hinterherhängen und nur wahrnehmen. Wieder Tee
trinken. Herumlaufen. Die Karte studieren. Einem in der Gegenrichtung
vorbeifahrenden Auto hinterhersehen. Auf einem kleinen Zettel Notizen machen.
Fishermans Friend-Pastillen lutschen. Das Gesicht eincremen. Tee trinken.
Zwei Uhr. Jemand,
der heute noch bis ganz nach Norden will, wäre schon vorbeigekommen. Enttäuscht
trotte ich ins Innere der Bucht zurück. Die Nacht verbringe ich in dem kleinen
Fischerdorf Kurbulik. Alexej, ein junger Fischer mit vom einfachen Leben etwas
verhärtetem Gesicht, heizt für mich den großen weißgekalkten Ofen ein.
- Wir leben
eigentlich gut hier. Nur dass die Kinder nach Ust-Bargusin ins Internat müssen,
ist schlecht. Lesen und Rechnen kann ich ihnen auch hier beibringen, und sonst
braucht man doch nichts von dem Zeug, was sie einem noch in der Schule
erzählen.
Tag drei.
Heute klappt es ganz bestimmt. Voller Optimismus und frischer Energie stehe ich
an der Eisstraße. Nach einiger Zeit
stoppen zwei aus Richtung Norden kommende glänzende, dicke Pickups. Vier
korpulente, speckige Herren steigen aus und finden es außerordentlich lustig,
mich immer noch hier stehen zu sehen: die Janta-Geschäftsführer, mit denen ich
bis Dafscha gefahren bin! Sie haben sich beim Fischen gut erholt und sind auf
dem Rückweg nach Irkutsk.
- Christos woskres!
Stimmt,
fällt mir ein, heute ist ja der orthodoxe Ostersonntag, eine Woche später als
in Deutschland.
- Woistinje woskres!
Der Dialog,
wie ihn das Ritual verlangt: Christus ist auferstanden! – Wahrhaftig
auferstanden!
Ich scheine
Mitleid zu erregen. Einer der vier schenkt mir zwei bemalte Eier und eine
Wurst.
- 1941 habt
ihr es nicht bis Moskau geschafft, und jetzt – nicht bis Severobaikalsk!
Freundschaftliches
Schulterklopfen, herzliches Lachen, und schon sind sie verschwunden.
Ein kleiner
Toyota hält, am Steuer ein bekanntes Gesicht: richtig, der Sarg! Ich traue
meinen Augen kaum. Hat er es doch tatsächlich über den See bis zu seinem
Begräbnis geschafft und ist schon zurück! Der Mann und seine Beifahrerin freuen sich aufrichtig, mich
zu sehen und nehmen mich sehr gern mit.
- Bis
Ust-Bargusin, passt das?
Schon 14
Uhr. Heute, am Ostersonntag, fährt wohl wieder keiner nach Severobaikalsk. Ich
seufze und denke wehmütig an mein umsonst gebuchtes Flugticket. Wenig später
verlassen wir das Eis und fahren aufs Festland der Halbinsel Heilige Nase. Auf
das Erreichen der sicheren Erde muss natürlich angestoßen werden mit hundert
Gramm Wodka, meine Einwände, ich würde nicht trinken, spielen keine Rolle; es
wird eingeschenkt, was ich dann weiter mache, sei meine Sache.
- Wir
konnten Sie leider wirklich nicht mitnehmen, wir hatten einen riesigen
Trauerkranz im Auto, der hat die ganze Rückbank eingenommen.
Und ich
dachte, es war ein Sarg, murmle ich und überlege, ob nach sto gramm ein Mensch wohl noch fähig ist, ein Fahrzeug zu führen.
Jurtensiedlung auf dem Eis in der Tschivirkuj-Bucht |
Anglerhütten vor dem Bergpanorama der Halbinsel Heilige Nase |
Dafscha - Wendepunkt meiner Fahrt nach Norden |
Eisgrotte an der Küste der Insel Golyj |
Mittagessen am orthodoxen Ostersonntag |