Ein Reisebericht und 24 Fotos aus Tadschikistan
28. April
Flug von
Irkutsk nach Dushanbe mit Umstieg in Novosibirsk. Im Gepäck sind neben
Sonnencreme und Fjellräven-Berghose
auch Anzug, schicke Hemden und eine Stimmgabel: meine zweite Tadschikistanreise
hat einen privaten und eine dienstlichen Teil. Die Jahreszeit ist optimal für
einen Besuch in Zentralasien: weder Kälte noch brütende Hitze. Ich nehme mir
vor, all das nachzuholen, was ich im August letzten Jahres verpasst habe, als
ich einige Tage mit Sonnenstich und Durchfall herumlag, anstatt Land und Leute
zu studieren.
29. April
An der Pamirskaja stojanka in der
tadschikischen Hauptstadt warten über ein Dutzend Toyota-Landcruiser auf
Passagiere nach Khorog, größte Stadt und Verwaltungszentrum der Pamir-Region.
Um sieben Uhr morgens erwacht das Leben, Basar-Atmosphäre kommt auf, die Fahrer
laufen unruhig hin- und her auf der Suche nach Passagieren, wenn das Auto voll
ist, geht es los. Als erfahrener Reisender habe ich mich vorher über die Preise
informiert: Beifahrersitz 300 Somoni, zweite Reihe 250, dritte Reihe 200. Ich
zahle 300 für den Beifahrersitz, fünf Einheimische und ein Japaner sitzen
hinter mir, auf dem Dach formiert sich ein Turm aus Gepäckstücken, die mit
Plane und Seil zusammengebunden werden.
Ich wisse
aber schon, dass er auf dem Beifahrersitz immer zwei Leute mitnehme, eröffnete
mir der Fahrer kurz vor der Abreise, aber wenn ich für den zweiten mit bezahle,
könne ich natürlich ganz alleine sitzen, die Aussicht genießen, fotografieren
und er erkläre mir alles, Tadschikistan, Afghanistan, was immer ich wissen
wolle.
Nicht dumm,
der Mann. Wenigstens einen Rabatt gelang es mir noch auszuhandeln.
Der Asphalt
auf der Straße nach Kulob ist zunächst ausgezeichnet und erlaubt hohe
Geschwindigkeiten. Überholt wird grundsätzlich auch in Kurven und bei
Gegenverkehr, wobei sich im nötigen Moment die zweispurige in eine dreispurige
Straße verwandelt und das überholende Auto zwischen den beiden anderen
hindurchschlüpft. In der Nähe von Duschanbe werden wir ständig von träge mit
ihrem Stab wedelnden Polizisten angehalten, jedoch niemals für lange: ein
kumpelhafter Handschlag mit dem Fahrer, ein paar kleine Scheine wechseln den
Besitzer, und weiter gehts. Es ist weniger eine Verkehrskontrolle, eher eine
Art Sozialausgleich: die Transportunternehmer führen einen Teil ihres
Überschusses an die schlecht bezahlten Staatsdiener ab.
Nach etwa
fünf Stunden durchqueren wir den kleinen Ort Shurobod, wo ich im letzten Sommer
einen Tag dehydriert und mit Durchfall im Krankenhaus verbracht hatte,
passieren einen Militärposten, der sich meinen Pass und das Visum mit
Genehmigung zum Besuch der Pamirregion zeigen lässt, und nähern uns dann in
Serpentinen am Berghang abwärts dem Grenzfluss Pandsh, von dem sich bis zum
Einbruch der Dunkelheit mein Blick nicht mehr abwenden wird. Der Weg entlang
der tadschikisch-afghanischen Grenze ist die verrückteste und in ihrer rauen
Wildheit vielleicht auch schönste Fahrstrecke, die ich jemals in meinem Leben
zurückgelegt habe: eine Felsen- und Geröllschlucht mit den beiderseits
kilometerhoch aufragenden Bergen des Hindukush und Pamir, an deren einem Hang
sich die Straße entlangwindet, links eine steile Wand, rechts ein fünfzig oder
hundert Meter tiefer Abbruch zum Fluss, der, hier schnell schäumend und dort in
trägem Braun dahinfließend, die Grenze zwischen der Ex-Sowjetrepublik und dem
ewigen Krisenherd markiert. Oft ist er nur so schmal, dass es aussieht, als
könne man darüberspringen, und von gelegentlich ein paar herumschlendernden tadschikischen
Soldaten abgesehen scheinbar völlig ungesichert.
Irgendwann endet
der von einer chinesischen Firma gelegte gute Asphalt, und unser Tempo halbiert
sich. Immer wieder geraten wir in Staubwolken riesiger chinesische Trucks, die
in beiden Richtungen unterwegs sind und sich in Millimeterarbeit aneinander
vorbeischieben. Unser Fahrer weicht virtuos herumstehenden Eseln aus und
schlängelt sich durch aufgeregt meckernde Ziegenherden. Auf afghanischer Seite
gibt es am Fluss nur eine schmale Sandpiste, auf der Motorrad- oder Radfahrer
unterwegs sind; inmitten der sonnendurchfluteten Stein- und Geröllwüste dann
plötzlich kleine grüne Dörfer mit liebevoll angelegten Steinmäuerchen und
gepflegten Plantagen.
Auch nach
Einbruch der Dunkelheit sind die Trucks unterwegs – dann ist der Asphalt nicht
so heiß und die Reifen platzen weniger schnell, erklärt man mir. Wir kommen an
einige liegengebliebenen Toyota-Landcruisern vorbei, die heute Morgen vor uns
aufgebrochen waren, einem davon geben wir unser Ersatzrad. Halt an einem Imbiss:
warmer Wind, mondscheinbeschienene Berge, der rauschende Grenzfluss, eine
denkbar friedliche Stimmung. Ist es ruhig hier oder wird manchmal geschossen,
frage ich den Inhaber. Erstauntes Kopfschütteln.
- Ich wohne
seit 20 Jahren hier, nie ist was vorgefallen. Die da drüben sind viel zu arm
zum Schießen, malochen von früh bis spät, da kommt man gar nicht auf solche Ideen.
Nach 14
Stunden, gegen Mitternacht, erreichen wir Khorog. Der Japaner und ich fallen in
die schweren Baumwolldecken des Gästehauses, vor dem man uns absetzt.
30. April
Der
öffentliche Nahverkehr in Khorog wird von hunderten schmalen, hohen chinesischen
Tangem-Pkws mit drei Sitzreihen
abgewickelt, die bei Bedarf überall an ihrer Strecke halten. Mit einem Tangem fahre ich zum Botanischen Garten
am Ostrand der Stadt: 2320 Höhenmeter, der zweithöchste Botanische Garten der
Welt. Schilder mit Pflanzennamen gibt es keine, dafür den Blick auf die
zwischen schroffen Viertausendern eingekeilte Universitätsstadt. Gegenüber des
Gartens, am Geröllhang auf der anderen Talseite in vielleicht zweihundert
Metern Höhe, eine grüne Oase, wahrscheinlich dort, wo ein Bächlein angestaut
wurde oder eine Quelle aus der Erde tritt, eine Insel des Lebens inmitten
grauen Gesteins, darin zwei Häuschen: wie herrlich müssen die Menschen dort
wohnen, in meinen Augen jedenfalls ein Paradies. Ich steuere die Oase an und
schleiche unschlüssig entlang des kleinen, akkurat um den grünen Bewuchs
aufgeschichteten Steinmäuerchens einmal herum: möchte mich nicht vielleicht
jemand zum Teetrinken einladen, ein Tee im Paradies an den Hängen des Pamir?
Eine Frau wirtschaftet an der Lehmhütte, nimmt aber von mir keine weitere
Kenntnis. Enttäuscht trotte ich talwärts.
1. Mai
Erster Mai,
Tag der Arbeit, seit zwei Jahren in Tadschikistan kein arbeitsfreier Feiertag
mehr. Am Flughafen erkundige ich mich nach Flügen in die Hauptstadt Duschanbe:
im Moment gibt es keine, mangels Flugzeugen, erfahrenen Piloten oder
ausreichend guten Wetters, man weiß es nicht genau. Die Strecke Dushanbe-Khorog
gilt als eine der anspruchsvollsten Flugstrecken überhaupt, der Flughafen
Khorog liegt eingekeilt in den Bergen zwischen afghanischem Grenzfluss und der
Straße. Statt Flugzeugen stehen Ziegen auf der Start- und Landebahn herum.
Nachmittags
mache ich mich noch einmal auf den Weg zu meinem gestern entdeckten Paradies.
Als ich den lehmigen zickzackförmig verlaufenden Pfad den Hang hinauf
zurückgelegt habe, steht an der Pforte hinter dem Steinmäuerchen schon der
Hausherr, als hätte er nur auf mich gewartet. Er wohne wirklich wunderschön
hier, meine ich anerkennend.
Der ältere,
hagere Mann mit dem braungebrannten, wettergegerbten Gesicht betrachtet mich
neugierig.
-Kommen Sie,
Tee trinken!
Wir hocken
vor einem der beiden Häuser auf dem mit Teppichen ausgelegten Metallgestell,
das im Sommer auch zum Schlafen dient. Die Frau bringt uns zwei Schalen mit Schirtschoj, Milchtee mit Salz, dem man
noch einen Klecks Butter hinzufügt, und entfernt sich wieder. Mein Gegenüber
heißt Shamsiddin, ist 62 Jahre alt und wohnt seit 30 Jahren hier in seiner 100
mal 200 Schritte großen Oase am Geröllhang, der nach oben hin in steile Felsen
unbekannter Höhe übergeht und nach unten im schnell dahingurgelnden Fluss Ghunt
endet. Künstlich in geraden Reihen angepflanzte Pappeln mit fast weißen, in der
Sonne glänzenden, schnurgeraden Stämmen spenden Schatten; Shamsiddin weist stolz auf seine selbst veredelten Apfelbäume,
die Birnen, Maulbeeren, Kirschen und Johannesbeeren. Der Schirtschoj ist
ausgetrunken, mein Gastgeber ruft seiner Frau etwas zu, sie bringt uns Grüntee
mit Marmelade. Mit ihr spricht Shamsiddin seine lokale Pamirsprache, mit mir
die noch aus Sowjetzeiten verbreitete überregionale Verkehrssprache Russisch;
außerdem beherrscht er die Landessprache Tadschikisch.
Ich erfahre,
was es mit dem Spruch „Welcome, our hazir Imam“ auf sich hat, der mit leuchtend
weißen Buchstaben auf einem Berghang geschrieben steht. Die Pamiri sind
Ismailiten, ein Zweig des Islam, und verehren den Aga Khan als geistiges
Oberhaupt, als ihren Imam, einen direkten Nachfolger des Propheten Mohammed.
Der in Frankreich lebende Multimilliardär fördert soziale Projekte und
Infrastruktur in Ländern, in denen das Ismailitentum verbreitet ist; die Aga
Khan Stiftung ist die größte private Entwicklungshilfeorganisation der Welt.
Ohne ihn hätten sie den Bürgerkrieg in den 90ern kaum überstanden, 50
Flüchtlinge aus der Stadt habe er hier beherbergt und verpflegt, erzählt
Shamsiddin.
Ob ich noch
bleiben könne, um ein Aquarell zu malen? Während der Hausherr und seine Frau
sich um Schafe, Kühe und Esel kümmern, versuche ich, etwas von dem stillen,
majestätischen Zauber zu Papier zu bringen, der mich umgibt. Als der Tag zur
Neige geht, lädt mich der Hausherr ein, doch über Nacht zu bleiben. Ob ich mal
auf die Toilette…? Gibt es nicht, nicht mal eine Hütte mit Loch in der Erde,
wie sonst üblich. Shamsiddin weist auf die Halde mit großen Geröllbrocken, die
seine Oase umgibt, hinter einem dieser Steine fände man doch immer einen
geeigneten Ort. Mein Wunsch, am nächsten Morgen um fünf Uhr geweckt zu werden,
wird wie selbstverständlich aufgenommen. In Tadschikistan steht man früh auf.
2. Mai
Rückfahrt
Richtung Dushanbe. Neben mir im Toyota Landcruiser sitzt eine junge Frau, die
für die Aga Khan Stiftung arbeitet und beruflich oft in der an Tadschikistan
angrenzenden Region Afghanistans ist. Eine andere Welt, meint sie, in vielen
Dörfern kein Strom und Internet, eine vergessene Region mit ihren eigenen
Gesetzen abseits der Globalisierung. Die Kontakte der Menschen dies- und
jenseits des Grenzflusses sind sehr beschränkt, einmal in der Woche ist
Basartag, dürfen die Afghanen über die Brücken kommen und für ein paar Stunden
ihre Waren anbieten. Eigentlich sprechen sie die gleiche Sprache, sind
untereinander verwandt: das Great Game
zwischen dem Zarenreich und dem Britischen Imperium um den Einfluss in
Zentralasien hat die Region auseinandergerissen und Anfang des 20. Jahrhunderts
eine Grenze quer durch ein Volk geschaffen. So bekam Tadschikistan sowjetische
Infrastruktur und Bildung, Afghanistan blieb ein Entwicklungsland.
Wieder geht
es stundenlang am Grenzfluss entlang, diesmal der Abgrund auf der linken und
die Felswände auf der rechten Seite. Einige in leuchtendem Blau gestrichene,
von Aga Khan gesponserte Schulgebäude, weiße Zelte mit dem Aufdruck W.F.P. – World Food Programme – und aus weißen
Steinen gelegte Abkürzungen FSD – Foundation
Suisse de Déminage – ziehen auf der afghanischen Seite an uns vorbei. Das
Leben der Passagiere liegt in den Händen des Fahrers, aber da jeder davon
ausgeht, dass der Fahrer genauso gern lebt wie man selbst, bleiben alle ruhig.
Der Mann am Steuer ist der Chef. Er muss sich wohlfühlen. Um keine Sekunde
Unaufmerksamkeit zuzulassen und nicht dreißig Meter weiter unten im Flussbett
zu landen, steckt er sich den Nos genannten Kautabak unter die Zunge – nach einer
Weile wird dieser während der Fahrt durch die kurz geöffnete Tür wieder
ausgespuckt – und dreht die Musik bis zum Anschlag auf.
Nach sechs
Stunden Rumpelpiste sind wir in Khalaikhumb und meine Nerven am Ende. Ich zahle
den eigentlich bis Duschanbe ausgehandelten Fahrpreis und beschließe, erst
morgen mit einem anderen Auto weiterzufahren. Hello, hello, schallt es mir von aus allen Ritzen hervorquellenden
Kindern entgegen. Gegenüber der Moschee entdecke ich zu meinem Erstaunen eine
Lokalität mit der Aufschrift „Bier“, bitte um Tee und betrachte zwei
Tadschiken, die sich ihre Gläser vollschenken lassen. Islam und Alkohol? Naja,
die haben in Russland das Trinken gelernt, erzählt mir der Inhaber, da könne
man wohl nichts mehr machen.
3. Mai
Wieder in
der Hauptstadt. Mein Zimmerkollege im Acht-Personen-Zimmer des Hello Hostel ist
ein breitgesichtiger asiatischer Unsympath, der unsensibel die Türen schließt
und sich benimmt, als wäre er allein hier. Bestimmt ein russischer Boxer auf Urlaub,
der sich in Dushanbiner Bars mit billigem tadschikischem Wodka (den es
tatsächlich gibt!) volllaufen lässt. Außerdem kommen spät am Abend fünf
rumpelnde Elefanten dazu, fettwanstige ergraute Herren ohne Respekt vor meinem
Ruhebedürfnis.
4. Mai
Die fünf
Elefanten seien aus Usbekistan, erfahre ich von dem jungen Mann an der
Rezeption.
- Wir freuen
uns über Gäste aus dem Nachbarland! Seit der dortige neue Präsident Mirziyoyev
die Grenzen geöffnet hat, gibt es einen regen Austausch. Endlich können sich
die Verwandten in beiden Ländern wieder besuchen!
Beim
Frühstück erweist sich mein breitgesichtiger Zimmerkollege als
hochintelligenter Pamiri, der fünf Sprachen spricht und auf eine Gruppe
westeuropäischer Touristen wartet, um mit ihnen in die Berge aufzubrechen. Der
erste Eindruck kann doch mitunter sehr trügen.
Abends
beginnt in der deutschen Botschaft der dienstliche Teil meiner Reise: Der
Botschafter gibt sich die Ehre, etwa einhundert tadschikische Deutschlehrer und
einige deutsche Kulturmittler wie mich zu einem Empfang auf dem Grundstück
seiner Residenz einzuladen. Ich erwarte mit Spannung eine Ansprache über die
deutsch-tadschikische Zusammenarbeit, die Lage der deutschen Sprache oder
Ähnliches und werde bitter enttäuscht: der Botschafter erscheint zwei Stunden
zu spät zu seinem eigenen Empfang und spricht lediglich ein paar alberne Worte
ins Mikrofon.
5. Mai
An der
Russisch-Tadschikischen Universität in Dushanbe findet der Unterricht nicht in
der Landessprache Tadschikisch, sondern auf Russisch statt. Wladimir Putin und
Emomali Rahmon geben sich auf einem gigantischen Foto an der Fassade über dem
Eingang die Hand, rechts und links davon lesen wir kluge Zitate der beiden
Präsidenten über den Wert höherer Bildung. Wir gelangen am uniformierten
Wächter vorbei ins Foyer, überall blitzt es vor Sauberkeit und Ordnung. Eine
halbe Treppe nach oben: Portraits von Putin und Rahmon fixieren jeden mit
streng-väterlichem Blick, daneben die Texte der jeweiligen Nationalhymnen samt
Landesflaggen. Nächste Etage: Putin und Rahmon in voller Größe, diesmal auf
einem Ölbild.
Meine
Kollegen und ich sind zu einer Deutschlehrertagung hierher eingeladen. Mein
Thema lautet: „Kanons und Volkslieder im Deutschunterricht“, sprich: ich möchte
tadschikischen Deutschlehrern Lieder beibringen, die sie dann in ihrem eigenen
Unterricht verwenden können. Verschwitzte ältere Herren mit gebügeltem Hemd und
Krawatte betreten den Raum: es herrschen strenge Kleidervorschriften, Studenten
und Dozenten sind an der Uni immer im Anzug unterwegs. Trotz geöffneter Fenster
ist es schwül im Raum. Trotzdem klappt es erstaunlich gut: wir schmettern „Der
Hahn ist tot“, „Alle Vögel sind schon da“ und „Bruder Jakob“. Wie dieses
seltsame Metallteil heiße, fragt eine Dozentin hinterher und betrachtet
interessiert meine Stimmgabel.
Je
autoritärer ein Staat, desto bombastischer, sauberer und gigantomanischer sieht
es in den Zentren aus – aber der Sauberkeit haftet etwas Steriles an, es ist zu
spüren, dass es kein Leben „von unten“ gibt, keine Eigeninitiative, keine
Schwarzen Bretter, keine Informationsbroschüren wie an deutschen Unis, alle
Leute sehen irgendwie gleich aus und huldigen dem gleichen Gott in Gestalt ihres
Präsidenten-Übervaters.
6. Mai
Ein
Tagesausflug mit Kollegen in die Hizor-Berge
nördlich von Dushanbe. Eine Stunde von der Stadt entfernt ist man inmitten
eines majestätischen Panoramas wunderschöner Dreit- und Viertausender.
Rahmon sei
keineswegs ein unbeliebter Diktator, sondern ein Heilsbringer, eine fast
religiöse Figur- erzählt Nicola, die seit zwei Jahren in Duschanbe arbeitet.
Die Leute bräuchten einen starken Führer. Das westliche Diskutieren und
Meinungen abwägen funktioniere nicht, werde als Schwäche ausgelegt. Einer müsse
klar sagen, wo es langgeht, und die Masse folgt.
In ihrem
Arbeitsvertrag stehe: Keine Gespräche über Politik und Religion, berichtet
Karin, die im Nachbarland Usbekistan an einer Uni Deutsch lehrt. Alle Wände
seien weiß: das Aufhängen von Plakaten wäre verboten. „Diskutieren“ als
Gesprächsform sei unbekannt, vor allem, wenn es ein Thema ist, zu dem der
Präsident bereits seine Meinung geäußert hat. Die Hauptaufgabe von Gynäkologen
bestehe darin, Jungfernhäutchen wieder zusammenzunähen, damit der Schein der
Unbeflecktheit vor der Ehe gewahrt bleibt.
Wollte man
eine Art Totalitaritäts-Skala der fünf Ex-Sowjetischen „-stan“- Republiken
erstellen, so lägen wohl das für Touristen nur schwer zugängliche Turkmenistan
und Usbekistan an einem Ende der Skala, Tadschikistan in der Mitte und Kasachstan
mit Kirgistan am „liberalen“ Ende, wo man ohne Visum hineinkommt und sich eine
Vielzahl westlicher Nichtregierungsorganisationen tummeln.
7. Mai
Jedes dritte
Auto in Tadschikistan ist ein Opel Astra, oft 20 Jahre alt, aber sorgfältig
gepflegt und gut erhalten. In einem Astra fahre ich von Duschanbe nach Kulob.
Überlandbusse gibt es nicht, der öffentliche Verkehr zwischen den Regionen wird
von Pkw-Taxis abgewickelt. Eine meiner drei Mitfahrerinnen kann etwas Russisch.
- Frau?
Ich nicke,
um nicht den Unterschied zwischen Frau und Freundin erklären zu müssen.
- Wie viel
Geld?
Ich verstehe
ihre Frage nicht, erst nach einer Weile wird mir klar, was sie meint: welche
Summe ich an die Eltern meiner Frau gezahlt hätte, um sie heiraten zu können.
Das sei bei uns nicht üblich, erkläre ich und mir fällt auf, dass ich noch gar
nicht gesagt habe, ein Deutscher zu sein. Bei uns ist also in Russland – nun
gut, das stimmt auch. Ich habe gehört, dass es hier ein Gesetz gibt, welches
die Anzahl der Hochzeitsgäste limitiert, damit sich die Leute nicht so hoch
verschulden, frage ich, wie hoch denn das Gästemaximum pro Hochzeit sei?
-
Zweihundert. Und bei euch?
Gibt es kein
solches Gesetz, lache ich! Ungläubiges Staunen. -
Der Weg von
Kulob nach Schurobod führt über einen hohen Pass. Ich sitze inzwischen im
nächsten Taxi und freue mich auf das Wiedersehen mit meinem Bekannten
Radshabali im malerischen Dorf Anjirob. An der höchsten Stelle des Passes vor
Schurobod ein Militärposten: vier Uniformierte, davon einer mit MP auf dem
Rücken; eine Schranke, die von Hand geöffnet und geschlossen wird, eine Baracke
und ein schmuddeliger Junge am Straßenrand, der einen Vogel in einem
Stoffsäckchen hält und ihn zum Verkauf anbietet. Wir halten. Der erfahrene
Blick des Soldaten unterscheidet sofort den Ausländer.
- Die
Dokumente bitte! Wohin fahren Sie?
Hätte ich
nun gesagt: „Pamir“, so würden wir unseren Weg gleich fortgesetzt haben und
diese Kontrolle keine Erwähnung in meinem Bericht finden. Ich aber antworte
wahrheitsgemäß: Anjirob, und deshalb wurde es noch ein wenig spannend.
- Für
Anjirob haben Sie gar keine Genehmigung!
Man bedeutet
mir, auszusteigen. Ich verweise auf den roten „GBAO“-Vermerk in meinem Visum,
der den Besuch der Pamirregion erlaubt, und der Weg in den Pamir führt an
Anjirob vorbei. Wohl habe ich die Erlaubnis zum Durchfahren der Grenzregion zu
Afghanistan, nicht aber zum Aufenthalt in dieser, werde ich belehrt. Man holt
meinen Rucksack aus dem Kofferraum, das Auto fährt ohne mich weiter.
Der
Kommandant bittet mich in seine Baracke.
- Mischa, -
stellt er sich vor, - eigentlich Mohammed.
Wenn sie
Russisch sprechen, wandeln Tadschiken ihre Vornamen gern ein wenig ab, damit
sie leichter verdaulich sind sozusagen. Ich erzähle ihm, dass ich gern einen
Freund in Anjirob besuchen möchte. Wohl um zu prüfen, ob es stimmt, lässt mich
Mischa mit seinem Telefon bei ihm anrufen.
- Magst du
deinen Freund sehr?
Ich hätte
ansonsten keine Freunde weiter in Tadschikistan, erkläre ich. Der bullige junge
Kommandant schaut mich nachdenklich an.
- So ein
Mist aber auch! Ja, dir muss man helfen. Hast du Geld?
Ich nicke.
Mischa tätigt auf tadschikisch einen Anruf.
- Das
Ministerium für Nationale Sicherheit ist einverstanden! Du darfst durch. Aber
du musst ein wenig Geld dalassen.
Ich schiebe
ihm freundlich 100 Somoni über den Tisch, etwa 10 Euro. Mischa tritt vor die
Tür und gibt seinen Jungs die Anweisung, jedes Richtung Anjirob fahrende Auto
auf einen freien Platz hin zu überprüfen, damit ich mitgenommen werde. Der
Wasserkocher wird aufgesetzt. Das Teetrinken mit den tadschikischen Soldaten
fällt leider aus, da sich schon bald ein Auto findet.
- Bleib
solange wie du willst, - ruft Mischa zum Abschied, - gute Erholung!
8. Mai
Mein
Gastgeber Radshabali ist 51 Jahre alt, für einen ehemaligen Polizisten schon
Rentenalter; jetzt arbeitet er in der kleinen Dorfschule und nimmt mich gern
für einen Tag mit an seinen Arbeitsplatz. Chush
omaded, herzlich willkommen, steht an dem kleinen einstöckigen Gebäude, auf
einem Schild erfährt man, dass es 2007 mit Mitteln der Weltbank erbaut wurde.
Als wir gegen 8 Uhr ankommen, singen die Schüler im Foyer unter dem Foto des
Präsidenten gerade die tadschikische Nationalhymne. Alle tragen Schuluniform,
die Jungs mit Krawatte, die Mädchen mit farbigen, im Nacken zusammengebundenen
Kopftüchern.
Wir betreten
das Büro des Direktors, ein sympathischer, hagerer Mann mit scharf
geschnittener Nase, der mich freundlich begrüßt und Tee anbietet. Sein Russisch
ist ziemlich schlecht, weshalb Radshabali meine Fragen und seine Antworten
übersetzt: 106 Schüler gibt es, verteilt auf alle elf Klassen, ein großes
Problem ist der Lehrermangel, da niemand gern hierherkommt für das geringe
Gehalt, das der Staat zahlt. An Fremdsprachen werden Russisch und Englisch
unterrichtet, zu Sowjetzeiten war statt Englisch Deutsch verbreitet.
Radshabali
unterrichtet Geschichte. Als wir den Raum betreten, stehen die Sechstklässler
auf. Salomalaikum, antworten sie auf
das Salom des Lehrers mit leichter
Verbeugung, die rechte Hand aufs Herz gelegt. Als Ehrengast sitze ich nicht
etwa auf einem freien Platz hinter den Schülern, sondern werde auf einem
bequemen Lederstuhl vor der Klasse platziert. Die Schüler lesen still im
Lehrbuch, dann erklärt Radshabali etwas dazu und stellt Fragen; für jede Anwort
wird aufgestanden. Die meisten haben weder Stifte noch Hefte.
In der Pause
betrachte ich im Gang Plakate, die vor verschiedenen Arten von Landminen
warnen, die zu Zeiten des Bürgerkriegs an der afghanischen Grenze gelegt
wurden. Inzwischen sind sie fast überall geräumt. Die Schüler treten noch
einmal in Zwölferreihen im Foyer an; der Direktor hält eine Ansprache
anlässlich des morgigen 9. Mai, der Tag des Sieges, ein Feiertag wie auch in
Russland. In der nächsten Unterrichtsstunde setze ich mich hinter die Klasse,
um das Geschehen unauffällig zu beobachten, aber es klappt nicht – die
Zehntklässler drehen sich um und sind neugierig. Radshabali bittet mich nach
vorn und überlässt mir seine Unterrichtszeit. Ich erzähle etwas über mich, dann
meinen die Schüler, sie wollen gern ein wenig Deutsch lernen. So gebe ich meine
erste Deutschstunde an einer tadschikischen Dorfschule. Die meisten verstehen
Russisch, so dass ich mich verständlich machen kann. Was denn ihr Hobby sei,
frage ich in die Runde. Es stellt sich heraus, dass die Bedeutung des Wortes
Hobby unbekannt ist.
- Na, das,
was ihr so nach der Schule macht!
- Arbeiten,
mit den Tieren, im Garten, im Haushalt…
- Und wenn
die Arbeit erledigt ist?
Angestrengtes
Nachdenken.
- Jagen, -
meint schließlich einer.
Vom
Ministerium für Nationale Sicherheit wurde angerufen und sich nach mir
erkundigt, meint der Direktor zum Abschied; ein netter junger Mann, habe er
über mich gesagt, unterhält sich gut mit unseren Schülern! Schade, dass alle
Touristen hier nur vorbei und weiter in den Pamir fahren, man müsste sie
hierherlocken, rate ich ihm: ein Tag an einer tadschikischen Schule, das wäre
bestimmt für viele Reisende ebenso interessant wie für die jungen Leute vom
Dorf, die sonst kaum einen Ausländer zu Gesicht bekommen.
Am
Nachmittag spaziere ich auf den Hang eines Berges zwischen Anjirob und dem
Grenzfluss, vorbei am offensichtlich leerstehenden Gebäude eines Wachpostens.
Windstille, Sonne, Vogelgezwitscher, freundliches Grün, eine wundervolle,
friedliche Stimmung. Ein Hirte auf einem Esel lädt mich ein, mich auf sein
Transportmittel zu setzen und ein Foto zu machen, bevor er die Schafe nach
unten treibt.
Zum
Abendbrot brät die Frau Radshabalis, Chafisa, für mich Kartoffeln auf einer
offenen Feuerstelle in einem der offenen Lehmbauten des Anwesens. Ich bekomme
sie auf einem separaten Teller; der Hausherr und die drei anwesenden Söhne
Mirso, Sidik und Soneh speisen gemeinsam aus einer großen Schüssel in warme
Milch getunktes Brot. Wir sitzen auf im Viereck angeordneten Teppichen auf der
Terrasse vor dem Gebäude; Essen und Tee werden in die Mitte auf ein Tuch
gestellt. Eine Chance zum Kennenlernen der weiblichen Familienmitglieder gibt
es nicht – Chafisa, die kleine Tochter Shabnam und die Ehefrau des ältesten
Sohnes essen getrennt. Aus Respekt vor dem Gast.
9. Mai
Zum Abschied
bekomme ich Maulbeersirup, Pfefferminzpulver, Kümmel und Kurut genannte Bällchen aus gesalzenem, getrocknetem Quark
geschenkt, natürlich aus eigener Produktion. Außer Zucker, Mehl und Bonbons
kauft die Familie keine Lebensmittel, alles wird selbst hergestellt, vom Käse
bis zum Brot: in einer Aushöhlung im Lehmboden, Tandur genannt, wird jeden zweiten Tag Fladenbrot gebacken.
Mich
beeindruckt die Reinlichkeit und Akkuratesse in tadschikischen Dörfern. Die
Menschen leben bescheiden, aber kommen über die Runden: alle arbeiten,
einschließlich der zahlreichen Kinder, und mindestens ein Familienmitglied
schickt Geld aus Moskau oder Petersburg. Anders die morbide Verfallsromantik in
manchen Gegenden Russlands, wo der Eindruck bleibt: hier sind die besten Zeiten
längst vorbei – Kolchos- und Fabrikreste, jedes dritte Haus eine Ruine, die
Bewohner überwiegend Rentner und Alkoholiker. -
Meine Freude
darüber, schon am Mittag wieder in Dushanbe angekommen zu sein, verschmilzt mit
dem Ärger über den Fahrer, der sich verhielt, als sei morgen das Weltende und
deshalb alles egal: Rhabarber essen, telefonieren und in der Kurve bei
Gegenverkehr überholen, alles gleichzeitig; leider erlaubt der makellose Asphalt
ein hohes Tempo. In Tadschikistan sind die Menschen nicht reif für gute
Straßen. Man müsste sie aufreißen und den Belag durch schlechten Schotter
ersetzen.
10. Mai
In einem
Buchladen kaufe ich einen Band mit über hundert Grimm`schen Märchen in
russischer Übersetzung und eine große Wandkarte des Landes. Einige Regalmeter sind Bildbänden und Gesammelten Reden von Präsident Rahmon vorbehalten. Von dutzenden
öffentlichen Gebäuden winkt er mir entgegen, Gesicht oder volle Größe, den rechten Arm zu einer hitlergrußähnlichen Geste nach oben gereckt -
bestimmt ein Versehen - dazu seine Sprüche. Die Unabhängigkeit ist unser Stolz!
Schade nur, dass es seit der Unabhängigkeit von Russland eigentlich
wirtschaftlich nur bergab ging.
11. Mai
Rückflug
nach Russland, Ende meiner dritten Zentralasienreise. Der Eindruck von
Tadschikistan und den Tadschiken, komprimiert in sechs Adjektiven?
1. Korrupt,
aber hilfsbereit;
2. Arm, aber
lebensfroh;
3. Gefährlich,
aber wunderschön.
Das schönste
Land der Erde!
An der Pamirskaja stojanka in Dushanbe warten einige Dutzend Toyota Landcruiser auf Passagiere in den Pamir. Die Fahrt dauert 14 Stunden |
Getankt wird direkt aus dem Tankwagen. |
Der Weg von der Hauptstadt in den Pamir führt stundenlang an der afghanischen Grenze entlang. Die schmale Piste jenseits des Flusses ist schon das Nachbarland |
Die Aga Khan Stiftung ist die größte private Entwicklungshilfeorganisation der Welt und finanziert unter anderem Schulen in Afghanistan |
Der Grenzfluss Pandsh ist nicht breit, die Grenze scheint weitgehend unbewacht |
Die schweren Trucks auf dem Weg von und nach China werden in den Dörfern immer wieder auf verschiedene Weise aufgehalten |
Der botanische Garten in Khorog ist der zweithöchste der Welt |
Ich verliebte mich in diese Oase inmitten der Pamir-Geröllwüste. Nur ein schmaler Pfad windet sich im Zickzack aus dem Tal herauf (rechts) |
Mein geheimer Wunsch ging in Erfüllung: der Hausherr bat mich zum Tee. Shams, 62, wohnt hier seit 30 Jahren |
Blick auf das zwischen Viertausendern eingekeilte Khorog |
"Hello, hello!" - Drei Kinder in Khalaikhumb vor ihrem allgegenwärtigen Präsidenten |
An der Fassade der tadschikisch-russischen Universität in Dushanbe geben sich Überväter der beiden Länder die Hand |
Schönheit als Thema im Deutschunterricht (oben) |
... und in der Realität |
Die Uni glänzt außen und innen vor steriler, bombastischer Sauberkeit |
In den Hizor-Bergen nördlich von Dushanbe |
Im Dorf Anjirob an der afghanischen Grenze: Radshabali mit zweien seiner Söhne und seiner Frau. In der Garage steht "mein" Auto: ein Lada Samara |
Radshabali unterrichtet Geschichte in der Dorfschule |
Plakate in der Schule warnen vor - inzwischen geräumten - Landminen am Grenzstreifen |
In Gegenwart des Gastes sitzen die Frauen nicht mit am Tisch. Gegessen wird aus einer gemeinsamen Schüssel, der Gast bekommt einen separaten Teller |
Speisenzubereitung über offenem Feuer |
Im Schatten eines Pistazienbaumes: Blick auf Anjirob |