Samstag, 24. März 2018

Von schneller Hilfe und schneller Post

Am letzten Sonntag wollte ich meine Freundin ins Wahllokal begleiten und ihr bei der Stimmabgabe für den nächsten russischen Präsidenten über die Schulter schauen. Dazu kam es leider nicht: wir blieben den ganzen Tag zuhause, da Maja mit Fieber im Bett lag. Ich habe gelernt, dass in Russland ein anderer Umgang mit Fieber üblich zu sein scheint, als ich es gewohnt bin. Siebenunddreißig gelten als erhöhte Temperatur. Ab achtunddreißig wird zu fiebersenkenden Mitteln gegriffen. Ab neununddreißig wird überlegt, den Notarzt zu holen, was Niso dann auch tat, als das Quecksilber 39,6 anzeigte und auch meine Beruhigungsversuche, dass alles unter vierzig noch kein Grund zur Panik seien, nichts mehr nützten. Die skoraja pomoschtsch (wörtlich übersetzt „schnelle Hilfe“) kam nach etwas über einer Stunde, obwohl wir im Stadtzentrum wohnen. Vielleicht wurden andere, als dringender eingestufte Fälle vorgezogen.

In diesem Semester unterrichte ich sechs Doppelstunden pro Woche. Dass es so wenig ist, hängt mit der geringer gewordenen Anzahl an Studenten zusammen und damit, dass unsere Praktikanten Florian und Urs aus Österreich und der Schweiz auch mit Unterrichtsstunden versorgt sein wollen. Meine Lieblingsgruppe sind fünf junge Frauen aus dem vierten Studienjahr im Studiengang „Übersetzung“, die für eine wöchentliche Doppelstunde zu einem Grammatik-Zusatzkurs zu mit kommen, völlig freiwillig und ohne jede Belohnung in Form von Noten oder Punkten. Da ihr Deutsch auf hohem Niveau ist, kann ich ordentlich loslegen und in die Tiefen des deutschen Sprachgenius` eintauchen. Der Hausmeister muss den Hof reinigen! Bitte schreiben Sie diesen Satz achtzehn Mal- in sechs Zeitformen und drei Genera verbi! Beim Plusquamperfekt Zustandspassiv legen einige der Studentinnen den Stift zur Seite und schauen mich ratlos an. Der Hof musste gereinigt gewesen sein, erkläre ich. Und im zweiten Futurum? Der Hof wird gereinigt gewesen sein müssen? Ich bin selbst einen Moment unsicher. Ein Prädikat aus fünf Verbformen, ist die deutsche Sprache nicht verrückt? Natürlich spielen solche Formen im tatsächlichen Leben kaum eine Rolle, aber es ist doch spannend, mit der Sprache ein wenig Mathematik zu betreiben und ihre Ausdrucksmöglichkeiten auszureizen.

Frühling! Die Temperaturen am Morgen sind um null Grad, die weiße Schneedecke in der Stadt ist zu grauen Schlammhaufen geschrumpft und gibt den Blick auf unappetitliche Müllreste frei, die der Winter ein halbes Jahr lang gnädig zugedeckt hatte. Mit Maja, die inzwischen wieder fast gesund ist, setze ich jeden Abend unsere Reise durch die russische und deutsche Märchenwelt fort; ungefähr zum zehnten Mal gab es gestern „König Drosselbart“, ihre Lieblingsgeschichte.

Ich habe vergessen, die bedauerliche Geschichte von meinem Weihnachtspäckchen zu erzählen.
Im November des letzten Jahres schickten meine Großeltern aus Aue ein Päckchen an mich nach Ulan-Ude. Im Dezember ging ich wöchentlich zum Hauptpostamt und fragte, ob für mich postlagernd eine Sendung eingetroffen sei, was jedes Mal verneint wurde. Anfang Januar, als ich in Deutschland war, sah eine Bekannte ein an Thomas Ranft adressiertes Paket auf einem Regal in der Post liegen und machte für mich ein Foto davon. Ende Januar, nach meiner Rückkehr, suchte ich erneut die Post auf und bekam die Auskunft, es sei kein Päckchen da. Da zeigte ich das Foto: Und was ist das hier? Man versprach, sich zu kümmern. Drei Tage lang wurde mein Päckchen gesucht, dann entschuldigte sich die Schichtleiterin bei mir: die Auskunft von Ende Dezember, es wäre noch nicht eingetroffen, war falsch gewesen, und nach Ablauf der einmonatigen Lagerfrist sei es nun leider nicht mehr da.
Wichtige geschäftliche Dokumente werden nicht ohne Grund nie mit der Russischen Post geschickt, sondern zum Beispiel mit DHL. Das deutsche Transportunternehmen hat auch in Ulan-Ude eine Filiale, ist natürlich teuer, aber zu hundert Prozent zuverlässig und nach drei Tagen von Deutschland in Sibirien oder umgekehrt – solange es nicht Verzögerungen am Zoll und einen Anruf mit Rückfragen gibt, weil zum Beispiel die Inhaltsdeklaration zu ungenau ist oder ich eine CD in einen als „Dokumente“ beschrifteten Brief gemogelt habe.