Am letzten Sonntag wollte ich meine Freundin ins Wahllokal
begleiten und ihr bei der Stimmabgabe für den nächsten russischen Präsidenten über die Schulter schauen. Dazu kam es leider nicht: wir blieben den ganzen
Tag zuhause, da Maja mit Fieber im Bett lag. Ich habe gelernt, dass in Russland
ein anderer Umgang mit Fieber üblich zu sein scheint, als ich es gewohnt bin.
Siebenunddreißig gelten als erhöhte Temperatur. Ab achtunddreißig wird zu
fiebersenkenden Mitteln gegriffen. Ab neununddreißig wird überlegt, den Notarzt
zu holen, was Niso dann auch tat, als das Quecksilber 39,6 anzeigte und auch meine Beruhigungsversuche,
dass alles unter vierzig noch kein Grund zur Panik seien, nichts mehr nützten.
Die skoraja pomoschtsch (wörtlich
übersetzt „schnelle Hilfe“) kam nach etwas über einer Stunde, obwohl wir im
Stadtzentrum wohnen. Vielleicht wurden andere, als dringender eingestufte Fälle
vorgezogen.
In diesem Semester unterrichte ich sechs Doppelstunden pro
Woche. Dass es so wenig ist, hängt mit der geringer gewordenen Anzahl an
Studenten zusammen und damit, dass unsere Praktikanten Florian und Urs aus
Österreich und der Schweiz auch mit Unterrichtsstunden versorgt sein wollen.
Meine Lieblingsgruppe sind fünf junge Frauen aus dem vierten Studienjahr im
Studiengang „Übersetzung“, die für eine wöchentliche Doppelstunde zu einem
Grammatik-Zusatzkurs zu mit kommen, völlig freiwillig und ohne jede Belohnung
in Form von Noten oder Punkten. Da ihr Deutsch auf hohem Niveau ist, kann ich
ordentlich loslegen und in die Tiefen des deutschen Sprachgenius` eintauchen. Der Hausmeister muss den Hof reinigen!
Bitte schreiben Sie diesen Satz achtzehn Mal- in sechs Zeitformen und drei Genera verbi! Beim Plusquamperfekt Zustandspassiv legen einige der Studentinnen den
Stift zur Seite und schauen mich ratlos an. Der
Hof musste gereinigt gewesen sein, erkläre ich. Und im zweiten Futurum? Der Hof wird gereinigt gewesen sein müssen?
Ich bin selbst einen Moment unsicher. Ein Prädikat aus fünf Verbformen, ist die
deutsche Sprache nicht verrückt? Natürlich spielen solche Formen im tatsächlichen Leben kaum eine Rolle, aber es ist doch spannend, mit
der Sprache ein wenig Mathematik zu betreiben und ihre Ausdrucksmöglichkeiten
auszureizen.
Frühling! Die Temperaturen am Morgen sind um null Grad, die
weiße Schneedecke in der Stadt ist zu grauen Schlammhaufen geschrumpft und gibt
den Blick auf unappetitliche Müllreste frei, die der Winter ein halbes Jahr
lang gnädig zugedeckt hatte. Mit Maja, die inzwischen wieder fast gesund ist,
setze ich jeden Abend unsere Reise durch die russische und deutsche Märchenwelt
fort; ungefähr zum zehnten Mal gab es gestern „König Drosselbart“, ihre
Lieblingsgeschichte.
Ich habe vergessen, die bedauerliche Geschichte von meinem
Weihnachtspäckchen zu erzählen.
Im November des letzten Jahres schickten meine Großeltern
aus Aue ein Päckchen an mich nach Ulan-Ude. Im Dezember ging ich wöchentlich
zum Hauptpostamt und fragte, ob für mich postlagernd eine Sendung eingetroffen
sei, was jedes Mal verneint wurde. Anfang Januar, als ich in Deutschland war,
sah eine Bekannte ein an Thomas Ranft adressiertes Paket auf einem Regal in der
Post liegen und machte für mich ein Foto davon. Ende Januar, nach meiner
Rückkehr, suchte ich erneut die Post auf und bekam die Auskunft, es sei kein
Päckchen da. Da zeigte ich das Foto: Und was ist das hier? Man versprach, sich
zu kümmern. Drei Tage lang wurde mein Päckchen gesucht, dann entschuldigte sich
die Schichtleiterin bei mir: die Auskunft von Ende Dezember, es wäre noch nicht
eingetroffen, war falsch gewesen, und nach Ablauf der einmonatigen Lagerfrist sei es nun
leider nicht mehr da.
Wichtige geschäftliche Dokumente werden nicht ohne Grund nie
mit der Russischen Post geschickt, sondern zum Beispiel mit DHL. Das deutsche
Transportunternehmen hat auch in Ulan-Ude eine Filiale, ist natürlich teuer,
aber zu hundert Prozent zuverlässig und nach drei Tagen von Deutschland in
Sibirien oder umgekehrt – solange es nicht Verzögerungen am Zoll und einen
Anruf mit Rückfragen gibt, weil zum Beispiel die Inhaltsdeklaration zu ungenau
ist oder ich eine CD in einen als „Dokumente“ beschrifteten Brief gemogelt
habe.