Sonntag, 5. November 2017

Bajangol

Der Baikal-See ist der größte Alpensee der Erde (fast so lang wie das adriatische Meer und größer wie Tirol) und wird von den anwohnenden Tungusen auch das „heilige Meer“ genannt, weil sie Gebete an dasselbe richten und Opfer geloben, um sich eine günstige Überfahrt zu sichern. Obwohl wegen der häufig auftretenden Stürme schwierig zu beschiffen, ist der Baikal-See doch ein sehr wichtiges Glied im dem Verkehrsleben zwischen China und Rußland (namentlich im Winter, wenn er von Mitte December bis in den April gefroren ist).
Man kann die Bevölkerung von Russisch-Asien in Eingeborne und Eingewanderte eintheilen. Die ersteren, theils dem tatarischen, theils dem finnischen Sprachstamme angehörig, scheiden sich in verschiedene Stämme, welche alle Nomaden sind, und von Jagd, Fischfang und ihren Rentierherden leben. Sie sind größtentheils noch Heiden. Die Eingewanderten sind theils freie Colonisten (darunter viele Deutsche), welche in den Städten leben, teils russische Verbrecher; die schwersten sind zu lebenslänglicher Arbeit in den Bergwerken verurtheilt; andere werden zur Urbarmachung des Landes verwendet, oder sie müssen eine bestimmte Quantität von Pelzen an die Regierung abliefern.
Aus: Lehrbuch der vergleichenden Erdbeschreibung, Wien 1882

Gorjatschinsk

Ein stürmischer Herbstabend am Baikalsee: schwere Wellen mit weißen Schaumkronen rollen dem sandigen Strand entgegen und schlagen zerstiebend an kleinen und größeren schwarzen Geröllbrocken nach oben. Die Steine sind von einer dünnen Eisschicht eingeschlossen, glitzernde Eiszapfen hängen nach unten. In etwa zwei Monaten, wenn die Bewegung des Wassers einer meterdicken, befahrbaren Eisdecke gewichen ist, werden sich hier mannshohe gefrorene Auftürmungen gebildet haben.
Wir unternahmen einen Ausflug nach Gorjatschinsk, wo auf dem Gelände eines wohl sibirienweit bekannten Sanatoriums eine heiße Quelle der Erde entspringt, in deren heilendem Schlamm die Kurgäste mit nackten Beinen spazieren. Zuletzt war ich im letzten Sommer mit Mutter und Schwester hiergewesen.  Der Baikalstrand mit seinen Dünen und knorzligen Lärchen ist an dieser Stelle besonders romantisch. Am nächsten Morgen lag das Wasser still und friedlich vor unseren Augen, die gerade aufgegangene Sonne beschien die Steilküste der Insel Olchon am anderen Ufer. Zum ersten Mal sahen Niso, Maja und ich die Nerpa genannten Baikalrobbe: zwei tote, frisch an den Strand gespülte Exemplare ohne jede Zeichen äußerer Verletzungen. Aus der Zeitung erfuhren wir später von einem rätselhaften Massensterben, das größte der letzten 30 Jahre. Baikalrobben halten sich hauptsächlich an den für Besucher nicht ohne weiteres zugänglichen Ushkani-Inseln auf. Bis heute gilt als ungeklärt, wie die Robben aus dem Weltmeer in den See gelangen und sich hier an das Süßwasser anpassen konnten.

Im Bargusin-Tal

Ein frostiger Abend mit Sternenhimmel und minus 10 Grad im Bargusin-Tal: wir lehnten uns an den prasselnden, weiß gekalkten Ofen in Tante Maschas von frischen Farben glänzendem Holzhaus und genossen die lebendige Wärme. Diesmal hatte Niso und mich eine Reise in das kleine burjatische Dorf Bajangol geführt, in das abgelegene, von drei Seiten bergumschlossene Bargusin-Tal im Norden Burjatiens. Besucherunterkünfte gibt es hier keine, Touristen nur höchst selten; zum Glück lernten wir noch im Kleinbus die rüstige, drahtige Burjatin Maria kennen, die uns gerne als ihre Gäste aufnahm für zwei Nächte.
Als gebürtiger Sachse weckte eine Sächsisches Schloss oder Suvinisches Sachsen genannte Felsformation im Bargusin-Tal nahe der Ortschaft Suvó mein besonderes Interesse. Vielleicht hat einer der deutschen Sibirien-Forscher des 18. Jahrhunderts sich an die Sächsische Schweiz bei Dresden erinnert gefühlt und ihr deshalb diesen Namen gegeben? Tatsächlich ähneln die aus der Steppe emporragenden Gesteinsnadeln und –brocken an das heimische Elbsandsteingebirge.
Als wir in Bajangol waren, wurde im zentralen Klubhaus gerade  das 90-jährige Jubiläum der Kolchose „Karl Marx“ gefeiert. Die Kolchose gibt es längst nicht mehr, die Felder liegen überwiegend brach. Tante Mascha hat ihr Leben lang in der Landwirtschaft gearbeitet, jetzt stehen ihre Ställe hinter dem Haus leer. Durch die körperliche Tätigkeit ist sie abgehärtet und jung geblieben, die 58 Jahre sah man ihr nicht an.  Jeden Morgen aufstehen und ans Werk, auch wenn es zwei Monate lang im Winter um die minus 40 Grad sind.
Zwei junge Burjaten, die auf ihren Pferden den staubigen Weg dahingaloppierten, wollten unbedingt von mir fotografiert werden. Sie hätten noch nie einen Touristen gesehen, der zu Fuß hier entlanggeht! Vom Wodka waren sie bestens gelaunt; den Wunsch, mit ihnen zu trinken, konnte ich ihnen leider nicht erfüllen.

Außer den Nerpas kommt in der Republik auch die Bevölkerung um. Die Region ist in die Spitzenposition der Selbstmord- und Alkoholismus-Statistik aufgerückt.
Schockierende Daten zu Todesursachen wurden vom Gesundheitsministerium veröffentlicht. Die Statistik zeigt, dass Burjatien den zweiten Platz aller russischen Regionen in der Selbstmordrate belegt. Tragisch ist, dass auf diese Weise arbeitsfähige Bürger von 18 bis 44 Jahren ihr Leben beenden.
Um Stress abzubauen, greifen die Leute oft zum Glas. Das ist ein sicherer Schritt zum nächsten Elend – dem Alkoholismus. Burjatien ist auch hier führend. Der Chefarzt des Republikanischen Drogenbehandlungszentrums Andrej Micheev teilte mit, dass unsere Republik zu den am meisten trinkenden des Landes gehört. 2016 wurde ein Rating der nüchternsten russischen Regionen erstellt. Burjatien belegt Platz 79 von 85.“

Aus: Zeitung Molodezh Burjatii, 1.11.2017

Das burjatische Dorf vor dem Hintergrund des Bargusin-Bergrückens (oben) mit dem frisch gestrichenen Haus von Tante Mascha (unten), in dem wir Unterkunft fanden
Die Felsen des Suvinischen Sachsen im Bargusin-Tal
Am Strand von Gorjatschinsk
Eine tote Baikalrobbe (Nerpa) (oben), an der heißen Heilquelle (unten)