Samstag, 18. November 2017

Die deutsche Sprache im Wandel

Am letzten Wochenende habe ich auf einer Tagung für russische Deutschlehrer in Novosibirsk einen Vortrag gehalten mit dem Titel „Die deutsche Sprache im Wandel“, dessen Inhalt ich hier kurz zusammengefasst wiedergebe – und zwar so, dass es auch für Leser interessant ist, die nicht vom Fach sind.

Wenn wir ein Wörterbuch aufschlagen und dort die deutschen Verben zählten, würden wir bemerken, dass ihr allergrößte Teil zur Gruppe der „schwachen“ Verben gehört, also die Vergangenheitsformen regelmäßig gebildet werden nach dem Muster „machen – machte – gemacht“. Nur etwa 5% sind „starke“ und unregelmäßige Verben, deren Vokal im Wortstamm sich verändert, wie es etwa bei „gehen – ging – gegangen“ der Fall ist. Nehmen wir hingegen einen beliebigen deutschen Text zur Hand, etwa aus einer Zeitung oder aus einem Roman, und zählen die dort vorkommenden Verben, so würden wir feststellen, dass etwa die Hälfte schwach und die Hälfte stark sind. Mit anderen Worten: starke Verben gibt es zwar in der deutschen Sprache viel weniger als schwache, aber die, die es gibt, werden sehr oft verwendet. Deshalb müssen sie von ausländischen Deutsch-Studenten auch gut gelernt werden.
Die drei genannten Verbformen bezeichnet man als drei „Stammformen“. Vor etwa 500 Jahren waren es ihrer nicht drei, sondern vier: ich helfe – ich half – wir hulfen – ich habe geholfen, oder auch ich werfe – ich warf – wir wurfen – ich habe geworfen und ich werde – ich ward – wir wurden – ich bin geworden. Die zwei Varianten im Präteritum wurden im Laufe der Sprachentwicklung auf eine reduziert, aus dem u in hulfen und wurfen wurde beispielsweise ein a. Bei werden hat sich ward noch als altmodische Form neben wurde gehalten: Und er ward nicht mehr gesehen!
Viele der Verben, die heute schwach sind, waren früher stark. Bellen – ball – gebollen, hieß es zum Beispiel, salzen, sielz, gesalzen und pflegen – pflog – gepflogen. Bei melken und weben existieren heute noch beide Formen nebeneinander: er molk oder melkte die Kuh, sie wob oder webte einen Teppich, ebenso bei backen: buken oder backten wir einen Kuchen? Bei Thomas Mann ist zu lesen, dass jemand etwas frug – und nicht, wie heutzutage, fragte.
Eine spannende Frage ist nun, warum Verben im Laufe der Sprachgeschichte „schwach“ werden. Eine Erklärung dafür hat mit ihrer abnehmenden Häufigkeit zu tun. Je seltener ein Wort, desto schneller schwindet in der Sprechergemeinschaft das Bewusstsein für Unregelmäßigkeiten seiner Bildung. Sielz und molk sind schwieriger zu merken als salzte und melkte. Im Laufe der Jahrhunderte wurde immer weniger gesalzen, gemelkt und gewebt – deshalb folgen diese Verben nun dem einfachen Muster wie machen – machte – gemacht.
Warum heißt es eigentlich sterbenstarbgestorben, nicht aber erbenarbgeorben? Die „Gesellschaft zur Stärkung der Verben“ betreibt im Internet eine sehr humorvolle, umfangreiche Seite und veröffentlich unter anderem Gedichte wie dieses: Es wullen Nebel durch das Tal / die Wälder war’n entloben/ verstommen war die Nachtigal / nur Stürme hor man toben.
Den umgekehrten Weg vom schwachen zum starken Verb scheint winken zu gehen: statt dem richtigen gewinkt hört man oft auch gewunken, wahrscheinlich in Anlehnung von sinkensankgesunken. Bleibt abzuwarten, wann wank statt winkte erstmalig auftaucht.
Viele interessante sprachliche Phänomene sind mit dem Genitiv verknüft. Unter anderem dient er der Kennzeichnung von Besitzverhältnissen. Des Vaters Haus hat man früher gesagt, heute wohl eher das Haus des Vaters, oder – noch moderner – das Haus vom Vater, also mit der Präposition von und dem Dativ. In vielen deutschen Dialekten – nicht nur in meinem heimatlichen Sachsen – heißt es dem Vater sein Haus. Wem sein Haus eigentlich? Diese Form gilt nicht als korrekt, ist aber trotzdem außerordentlich verbreitet und hat Bastian Sick zum Titel seiner Buchreihe „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod“ inspiriert.
Das Deutsche ist eine sogenannte Klammersprache. Zusammengehörige Elemente werden weit über den Satz verteilt, und der Zuhörer oder Leser muss seine Aufmerksamkeit bis zum Schluss wachhalten, um zu erfahren, worum es eigentlich geht. Er kam gestern um 19 Uhr am Bahnhof für alle seine Freunde ganz unerwartet und plötzlich – na, wie geht es weiter? An, oder um? Ein kleines Wörtchen am Satzende entscheidet über den Gesamtsinn. Das Verb kam auf Position 2 und seine Vorsilbe an am Satzende bilden die Satzklammer, die alle übrige Information einschließt. So ist es auch, wenn wir einen Satz im Perfekt sagen: Ich habe – nun kommen alle Angaben über Ort, Zeit, mit wem und warum – und erst ganz am Ende: gesungen, gelacht oder gearbeitet. Oder auch die zahlreichen Wörter, die man zwischen ein Substantiv und seinen Artikel stellen kann: dieses ausländischen Studierenden nur schwer vermittelbare Prinzip.
Es gibt wohl auf der ganzen Welt keine Sprache, die derart „klammert“. Dieses Prinzip funktioniert nur bei Sprachen, bei denen zusammengehörende Informationen oft auf mehrere – in der Regel zwei – Wörter im Satz verteilt sind, wir nennen sie analytische Sprachen, im Gegensatz zu den synthetischen Sprachen, die alles in einem Wort komprimieren. Das Russische ist sehr viel synthetischer als das Deutsche. Wenn wir den Satz „Nachdem er gefrühstückt hat, las er die Zeitung“ übersetzen würden, könnten wir die vier Wörter vor dem Komma mit einem einzigen russischen Wort wiedergeben. In den letzten Jahren und Jahrzehnten wird das Deutsche immer „analytischer“. Statt er öffnet das Fenster oder sie zerstören alles sagen wir er macht das Fenster auf und sie machen alles kaputt, statt woher kommst du und wohin geht die Reise hört man nicht selten wo kommst du her und wo geht die Reise hin, im norddeutschen Raum auch da kann ich nichts für oder da habe ich mir nichts bei gedacht.
Habt ihr schon realisiert, wie sich die Sprache verändert? Liebt ihr Erdbeereis? Und werden bei euch die Strompreise auch jedes Jahr angepasst? Viele Worte erfahren im Laufe der Zeit einen Bedeutungswandel. Realisieren heißt eigentlich verwirklichen, und lieben konnte man früher nur Personen oder vielleicht auch Tiere. Unter dem Einfluss des Englischen verwendet man realisieren nun auch in der Bedeutung „feststellen“, und geliebt werden auch Dinge, die man bisher nur mögen konnte. Wenn wir Preise anpassen statt erhöhen, haben wir einen Euphemismus verwendet, ein beschönigendes Wort für eine an sich weniger schöne Sache, wie auch Rückbau, Gesundheitskasse, vollschlank und Unfall mit Personenschaden statt Abriss, Krankenkasse, dick und Selbstmord auf dem Gleis.
In der deutschen Sprache werden mit Vorliebe Wörter aus anderen Sprachen entlehnt. Vielen dieser Wörter, wie zum Beispiel Kampf, Plan, Oper oder Parlament merken wir heute nicht mehr an, dass sie eigentlich aus dem Lateinischen, Französischen, Italienischen oder Englischen stammen. In den letzten Jahrzehnten wurde das Deutsche mit Anglizismen geradezu überflutet. Der eher konservative Verein für deutsche Sprache veröffentlicht auf seiner Internetseite einen sogenannten Anglizismen-Index und bewertet die aus dem Englischen kommenden Wörter: verdrängen sie unnötigerweise ein deutsches Wort, wie es bei shoppen statt einkaufen oder downloaden statt herunterladen der Fall ist, oder sind sie eine sinnvolle Ergänzung? Letzteres ist wohl bei jobben, chatten und googeln der Fall, was man sonst umständlich als „nebenbei arbeiten“, „sich im Internet unterhalten“ und „etwas per Google suchen“ umschreiben müsste. In Russland benutzt man meist eine andere Suchmaschine, man würde yandexen und nicht googeln. Auch simsen für SMS-schreiben ist schon nicht mehr aktuell, heute wird gewhatsappt und – wohl mehr in Russland als in Deutschland – gevibert.
Schon vor 200 Jahren bemühte sich Johann Heinrich Campe darum, Fremdwörter einzudeutschen. An die eigentlich nicht deutschen Worte Soldat, Kultur, Pause und Mumie haben wir uns inzwischen gewöhnt. Campes Eindeutschungsvorschläge Menschenschlachter, Geistesanbau, Zwischenstille und Dörrleiche konnten sich nicht durchsetzen.
Typisch für unsere Sprache sind sogenannte Modalpartikeln, kleine Wörtchen, die etwas über die Haltung des Sprechers zu der im Satz gemachten Aussage mitteilen – in der Umgangssprache entscheiden sie über den oft ganz wesentlichen „Unterton“. Er ist ja heute nicht zu Hause… Ersetzen wir ja durch doch, halt und eben, schwingt jeweils etwas anderes mit: „Wie du weißt“ (ja), „das solltest du wissen“ (doch) und „das kann man nicht ändern“ (halt und eben). In den letzten Jahren finden sich die Modalpartikeln auch in Deutsch-Lehrbüchern für Ausländer wieder.
Für die höfliche Anrede verwendet man im Deutschen die dritte Person Plural, im Russischen oder Französischen die zweite: statt „Haben Sie einen Wunsch“ heißt es wörtlich übersetzt „Habt ihr noch einen Wunsch?“ Etwa vom 12. bis zum 19. Jahrhundert hat man es im deutschsprachigen Raum genauso gemacht, darüber hinaus gab es noch die Ansprache in der dritten Person der Einzahl: Möchte er vielleicht noch etwas trinken? Heute gibt es in manchen Bereichen eine inflationäre Benutzung des du, nicht nur IKEA duzt seine Kunden, auch viele Moderatoren im Radio ihre Hörer. Außerdem existiert das sogenannte „Hamburger Sie“ mit der Kombination „Sie + Familienname“: „Kommen Sie mal zu mir, Thomas“, so wurde ich in der Uni von den Dozenten angesprochen; das „Kassiererinnen-Du“ (eine Kollegin zur anderen: „Frau Müller, weißt du, wie viel die Tomaten kosten?“), das „Berliner Er“ („Hat er denn ooch n Fahrausweis dabei?“) und der „Krankenschwester-Plural“ („Heute bleiben wir schön im Bett!“).
Ein leidiges, aber wichtiges Thema ist der geschlechtergerechte Sprachgebrauch. Warum sollten wir nicht von Ansprechpartnern, Lehrern, Kollegen, Kundenbetreuung und Fußgängerweg sprechen? Damit sich die emanzipierten deutschen Frauen nicht ausgeschlossen fühlen, sagen wir Ansprechperson, Lehrkraft, Kollegium, Kundschaftsbetreuung und Fußgängerweg. Einige gehen so weit, das Pronomen man durch ein klein geschriebenes mensch oder frau ersetzen zu wollen. Studenten, die früher mit ihrem Studentenausweis im Studentenheim wohnten,  haben heute einen Studierendenausweis und wohnen im Studierendenheim. Ursprünglich war ein Studierender mal jemand, der gerade studiert. Studenten tun das bekanntlich nicht immer. Können in einer Kneipe biertrinkende Studierende sitzen?
Seit dem Sommer dieses Jahres gibt es einen neuen Großbuchstaben im deutschen Alphabet – das Eszett. Damit fällt nun die Frage weg, ob ein Herr GROSSMANN, der ein Formular in Großbuchstaben ausfüllt, eigentlich GROßMANN heißt – denn nun darf er das auch so schreiben; nur auf meiner Tastatur gibt es ihn noch nicht. Die Wandlungen der deutschen Schrift und der Rechtschreibung ist ein weiteres spannendes Thema. Jahrhundertelang war der deutsche Sprachraum „zweischriftig“: deutsche Texte schrieb man in gebrochener Schrift, oft Fraktur genannt; lateinische Texte und Fremdwörter in deutschen Texten mit der heute noch üblichen lateinischen Schrift. Im Jahre 1941 verbot Hitler per Erlass die Frakturschrift, an den Schulen wurde das geschriebene Sütterlin nicht mehr gelehrt. Andere Völker konnten Fraktur nicht lesen und Kriegsgefangene gedruckte Anweisungen nicht entziffern - das erschwerte natürlich die geplante Weltherrschaft.
Warum schreiben wir so, wie wir schreiben? Warum nicht – wie es lautgetreu wäre – Hunt, geen und Miite, Fater, Kaze und Tema? Kinder, die nach dem unstrittenen Prinzip „Schreiben nach Gehör“ unterrichtet werden, würden es vielleicht so machen. In der geschriebenen Sprache spielt jedoch viel mehr als nur die Aussprache eine Rolle. Das Deutsche gilt als eine sehr „leserfreundliche“ Sprache; ohne dass man sich dessen meistens bewusst ist, enthält das geschriebene Wort dadurch, dass es so und nicht anders geschrieben wird, eine Menge an Zusatzinformationen über seine Bedeutung und Herkunft. Eine genormte deutsche Rechtschreibung gibt es seit 1901. 1996 sollte sie reformiert werden, was derartige Proteste hervorrief, dass man sich an eine Reform der Reform machte, die schließlich 2006 abgeschlossen war. Im Bereich der s-Schreibung gibt es nun mehr Klarheit: nach langem Vokal Eszett wie in Straße, nach kurzem zwei s wie in Kuss. Chaos hingegen herrscht bei der Getrennt- und Zusammenschreibung. Kennenlernen oder kennen lernen, sitzen bleiben oder sitzen bleiben, Leid tun oder leidtun, nach Hause oder nachhause? Oder ist beides möglich? Insgesamt hat die Reform der allgemeinen Akzeptanz der orthografischen Norm eher geschadet und damit das Gegenteil erreicht als das, was sie eigentlich sollte. Viele haben erst durch das Hin- und Her um die richtige Schreibung gemerkt, dass Orthografie nichts gottgegebenes, sondern auch nur menschengemacht ist, und sehen sich dadurch bestärkt in ihrer Haltung „Ich schreibe sowieso, wie ich will“.