Am letzten Wochenende habe ich auf einer Tagung für
russische Deutschlehrer in Novosibirsk einen Vortrag gehalten mit dem Titel „Die deutsche
Sprache im Wandel“, dessen Inhalt ich hier kurz zusammengefasst wiedergebe –
und zwar so, dass es auch für Leser interessant ist, die nicht vom Fach sind.
Wenn wir ein Wörterbuch aufschlagen und dort die deutschen
Verben zählten, würden wir bemerken, dass ihr allergrößte Teil zur Gruppe der „schwachen“
Verben gehört, also die Vergangenheitsformen regelmäßig gebildet werden nach
dem Muster „machen – machte – gemacht“.
Nur etwa 5% sind „starke“ und unregelmäßige Verben, deren Vokal im Wortstamm
sich verändert, wie es etwa bei „gehen –
ging – gegangen“ der Fall ist. Nehmen wir hingegen einen beliebigen
deutschen Text zur Hand, etwa aus einer Zeitung oder aus einem Roman, und
zählen die dort vorkommenden Verben, so würden wir feststellen, dass etwa die
Hälfte schwach und die Hälfte stark sind. Mit anderen Worten: starke Verben
gibt es zwar in der deutschen Sprache viel weniger als schwache, aber die, die
es gibt, werden sehr oft verwendet. Deshalb müssen sie von ausländischen
Deutsch-Studenten auch gut gelernt werden.
Die drei genannten Verbformen bezeichnet man als drei „Stammformen“. Vor etwa 500 Jahren waren
es ihrer nicht drei, sondern vier: ich helfe
– ich half – wir hulfen – ich habe geholfen,
oder auch ich werfe – ich warf – wir wurfen – ich habe geworfen
und ich werde – ich ward – wir wurden – ich bin geworden.
Die zwei Varianten im Präteritum wurden im Laufe der Sprachentwicklung auf eine
reduziert, aus dem u in hulfen und wurfen wurde beispielsweise ein a.
Bei werden hat sich ward noch als altmodische Form neben
wurde gehalten: Und er ward nicht mehr
gesehen!
Viele der Verben, die heute schwach sind, waren früher
stark. Bellen – ball – gebollen, hieß
es zum Beispiel, salzen, sielz, gesalzen
und pflegen – pflog – gepflogen. Bei melken und weben existieren heute noch beide Formen nebeneinander: er molk oder melkte die Kuh, sie wob
oder webte einen Teppich, ebenso bei backen: buken oder backten wir
einen Kuchen? Bei Thomas Mann ist zu lesen, dass jemand etwas frug – und nicht, wie heutzutage, fragte.
Eine spannende Frage ist nun, warum Verben im Laufe der
Sprachgeschichte „schwach“ werden. Eine Erklärung dafür hat mit ihrer
abnehmenden Häufigkeit zu tun. Je seltener ein Wort, desto schneller schwindet
in der Sprechergemeinschaft das Bewusstsein für Unregelmäßigkeiten seiner
Bildung. Sielz und molk sind schwieriger zu merken als salzte und melkte. Im Laufe der Jahrhunderte wurde immer weniger gesalzen, gemelkt und gewebt –
deshalb folgen diese Verben nun dem einfachen Muster wie machen – machte – gemacht.
Warum heißt es eigentlich sterben – starb – gestorben, nicht aber erben – arb – georben? Die „Gesellschaft
zur Stärkung der Verben“ betreibt im Internet eine sehr humorvolle, umfangreiche Seite und
veröffentlich unter anderem Gedichte wie dieses: Es wullen Nebel durch das Tal / die Wälder war’n entloben/ verstommen
war die Nachtigal / nur Stürme hor man toben.
Den umgekehrten Weg vom schwachen zum starken Verb scheint winken zu gehen: statt dem richtigen gewinkt hört man oft auch gewunken, wahrscheinlich in Anlehnung
von sinken – sank – gesunken. Bleibt
abzuwarten, wann wank statt winkte erstmalig auftaucht.
Viele interessante sprachliche Phänomene sind mit dem
Genitiv verknüft. Unter anderem dient er der Kennzeichnung von
Besitzverhältnissen. Des Vaters Haus
hat man früher gesagt, heute wohl eher das
Haus des Vaters, oder – noch moderner – das
Haus vom Vater, also mit der Präposition von und dem Dativ. In vielen deutschen Dialekten – nicht nur in
meinem heimatlichen Sachsen – heißt es dem
Vater sein Haus. Wem sein Haus
eigentlich? Diese Form gilt nicht als korrekt, ist aber trotzdem
außerordentlich verbreitet und hat Bastian Sick zum Titel seiner Buchreihe „Der
Dativ ist dem Genitiv sein Tod“ inspiriert.
Das Deutsche ist eine sogenannte Klammersprache.
Zusammengehörige Elemente werden weit über den Satz verteilt, und der Zuhörer
oder Leser muss seine Aufmerksamkeit bis zum Schluss wachhalten, um zu
erfahren, worum es eigentlich geht. Er
kam gestern um 19 Uhr am Bahnhof für alle seine Freunde ganz unerwartet und
plötzlich – na, wie geht es weiter? An,
oder um? Ein kleines Wörtchen am
Satzende entscheidet über den Gesamtsinn. Das Verb kam auf Position 2 und seine
Vorsilbe an am Satzende bilden die Satzklammer, die alle übrige Information einschließt.
So ist es auch, wenn wir einen Satz im Perfekt sagen: Ich habe – nun kommen alle Angaben über Ort, Zeit, mit wem und warum –
und erst ganz am Ende: gesungen, gelacht oder gearbeitet. Oder auch die zahlreichen Wörter, die man zwischen ein
Substantiv und seinen Artikel stellen kann: dieses
ausländischen Studierenden nur schwer vermittelbare Prinzip.
Es gibt wohl auf der ganzen Welt keine Sprache, die derart „klammert“.
Dieses Prinzip funktioniert nur bei Sprachen, bei denen zusammengehörende
Informationen oft auf mehrere – in der Regel zwei – Wörter im Satz verteilt
sind, wir nennen sie analytische
Sprachen, im Gegensatz zu den synthetischen
Sprachen, die alles in einem Wort komprimieren. Das Russische ist sehr viel synthetischer als das Deutsche. Wenn wir
den Satz „Nachdem er gefrühstückt hat, las er die Zeitung“ übersetzen würden,
könnten wir die vier Wörter vor dem Komma mit einem einzigen russischen Wort
wiedergeben. In den letzten Jahren und Jahrzehnten wird das Deutsche immer „analytischer“.
Statt er öffnet das Fenster oder sie zerstören alles sagen wir er macht das Fenster auf und sie machen alles kaputt, statt woher kommst du und wohin geht die Reise hört man nicht selten wo kommst du her und wo geht
die Reise hin, im norddeutschen Raum auch da kann ich nichts für oder da
habe ich mir nichts bei gedacht.
Habt ihr schon realisiert,
wie sich die Sprache verändert? Liebt
ihr Erdbeereis? Und werden bei euch die Strompreise auch jedes Jahr angepasst? Viele Worte erfahren im Laufe
der Zeit einen Bedeutungswandel. Realisieren
heißt eigentlich verwirklichen, und lieben konnte man früher nur Personen
oder vielleicht auch Tiere. Unter dem Einfluss des Englischen verwendet man realisieren nun auch in der Bedeutung „feststellen“,
und geliebt werden auch Dinge, die
man bisher nur mögen konnte. Wenn wir
Preise anpassen statt erhöhen, haben wir einen Euphemismus verwendet, ein
beschönigendes Wort für eine an sich weniger schöne Sache, wie auch Rückbau, Gesundheitskasse, vollschlank
und Unfall mit Personenschaden statt Abriss, Krankenkasse, dick und Selbstmord auf dem Gleis.
In der deutschen Sprache werden mit Vorliebe Wörter aus
anderen Sprachen entlehnt. Vielen dieser Wörter, wie zum Beispiel Kampf, Plan, Oper oder Parlament merken wir heute nicht mehr
an, dass sie eigentlich aus dem Lateinischen, Französischen, Italienischen oder
Englischen stammen. In den letzten Jahrzehnten wurde das Deutsche mit
Anglizismen geradezu überflutet. Der eher konservative Verein für deutsche
Sprache veröffentlicht auf seiner Internetseite einen sogenannten
Anglizismen-Index und bewertet die aus dem Englischen kommenden Wörter:
verdrängen sie unnötigerweise ein deutsches Wort, wie es bei shoppen statt einkaufen oder downloaden
statt herunterladen der Fall ist,
oder sind sie eine sinnvolle Ergänzung? Letzteres ist wohl bei jobben, chatten und googeln der
Fall, was man sonst umständlich als „nebenbei arbeiten“, „sich im Internet
unterhalten“ und „etwas per Google suchen“ umschreiben müsste. In Russland benutzt
man meist eine andere Suchmaschine, man würde yandexen und nicht googeln.
Auch simsen für SMS-schreiben ist
schon nicht mehr aktuell, heute wird gewhatsappt
und – wohl mehr in Russland als in Deutschland – gevibert.
Schon vor 200 Jahren bemühte sich Johann Heinrich Campe
darum, Fremdwörter einzudeutschen. An die eigentlich nicht deutschen Worte Soldat, Kultur, Pause und Mumie haben wir uns inzwischen gewöhnt.
Campes Eindeutschungsvorschläge Menschenschlachter,
Geistesanbau, Zwischenstille und Dörrleiche
konnten sich nicht durchsetzen.
Typisch für unsere Sprache sind sogenannte Modalpartikeln,
kleine Wörtchen, die etwas über die Haltung des Sprechers zu der im Satz
gemachten Aussage mitteilen – in der Umgangssprache entscheiden sie über den
oft ganz wesentlichen „Unterton“. Er ist ja
heute nicht zu Hause… Ersetzen wir ja
durch doch, halt und eben, schwingt
jeweils etwas anderes mit: „Wie du weißt“ (ja),
„das solltest du wissen“ (doch) und „das
kann man nicht ändern“ (halt und eben). In den letzten Jahren finden sich
die Modalpartikeln auch in Deutsch-Lehrbüchern für Ausländer wieder.
Für die höfliche Anrede verwendet man im Deutschen die
dritte Person Plural, im Russischen oder Französischen die zweite: statt „Haben
Sie einen Wunsch“ heißt es wörtlich übersetzt „Habt ihr noch einen Wunsch?“
Etwa vom 12. bis zum 19. Jahrhundert hat man es im deutschsprachigen Raum
genauso gemacht, darüber hinaus gab es noch die Ansprache in der dritten Person
der Einzahl: Möchte er vielleicht noch etwas trinken? Heute gibt es in manchen
Bereichen eine inflationäre Benutzung des du, nicht nur IKEA duzt seine Kunden,
auch viele Moderatoren im Radio ihre Hörer. Außerdem existiert das sogenannte „Hamburger Sie“ mit der Kombination „Sie
+ Familienname“: „Kommen Sie mal zu mir, Thomas“, so wurde ich in der Uni von
den Dozenten angesprochen; das „Kassiererinnen-Du“
(eine Kollegin zur anderen: „Frau Müller, weißt du, wie viel die Tomaten
kosten?“), das „Berliner Er“ („Hat er
denn ooch n Fahrausweis dabei?“) und der „Krankenschwester-Plural“
(„Heute bleiben wir schön im Bett!“).
Ein leidiges, aber wichtiges Thema ist der
geschlechtergerechte Sprachgebrauch. Warum sollten wir nicht von Ansprechpartnern, Lehrern, Kollegen,
Kundenbetreuung und Fußgängerweg
sprechen? Damit sich die emanzipierten deutschen Frauen nicht ausgeschlossen
fühlen, sagen wir Ansprechperson,
Lehrkraft, Kollegium, Kundschaftsbetreuung und Fußgängerweg. Einige gehen so weit, das Pronomen man durch ein klein geschriebenes mensch oder frau ersetzen zu wollen. Studenten, die früher mit ihrem Studentenausweis im Studentenheim wohnten, haben
heute einen Studierendenausweis und
wohnen im Studierendenheim.
Ursprünglich war ein Studierender mal
jemand, der gerade studiert. Studenten tun das bekanntlich nicht immer. Können
in einer Kneipe biertrinkende Studierende
sitzen?
Seit dem Sommer dieses Jahres gibt es einen neuen
Großbuchstaben im deutschen Alphabet – das Eszett. Damit fällt nun die Frage
weg, ob ein Herr GROSSMANN, der ein Formular in Großbuchstaben ausfüllt,
eigentlich GROßMANN heißt – denn nun darf er das auch so schreiben; nur auf
meiner Tastatur gibt es ihn noch nicht. Die Wandlungen der deutschen Schrift
und der Rechtschreibung ist ein weiteres spannendes Thema. Jahrhundertelang war
der deutsche Sprachraum „zweischriftig“: deutsche Texte schrieb man in
gebrochener Schrift, oft Fraktur
genannt; lateinische Texte und Fremdwörter in deutschen Texten mit der heute
noch üblichen lateinischen Schrift. Im Jahre 1941 verbot Hitler per Erlass die
Frakturschrift, an den Schulen wurde das geschriebene Sütterlin nicht mehr gelehrt.
Andere Völker konnten Fraktur nicht lesen und Kriegsgefangene gedruckte
Anweisungen nicht entziffern - das erschwerte natürlich die geplante Weltherrschaft.
Warum schreiben wir so, wie wir schreiben? Warum nicht – wie
es lautgetreu wäre – Hunt, geen und Miite, Fater, Kaze und Tema? Kinder,
die nach dem unstrittenen Prinzip „Schreiben nach Gehör“ unterrichtet werden,
würden es vielleicht so machen. In der geschriebenen Sprache spielt jedoch viel
mehr als nur die Aussprache eine Rolle. Das Deutsche gilt als eine sehr „leserfreundliche“
Sprache; ohne dass man sich dessen meistens bewusst ist, enthält das
geschriebene Wort dadurch, dass es so und nicht anders geschrieben wird, eine
Menge an Zusatzinformationen über seine Bedeutung und Herkunft. Eine genormte
deutsche Rechtschreibung gibt es seit 1901. 1996 sollte sie reformiert werden,
was derartige Proteste hervorrief, dass man sich an eine Reform der Reform
machte, die schließlich 2006 abgeschlossen war. Im Bereich der s-Schreibung
gibt es nun mehr Klarheit: nach langem Vokal Eszett wie in Straße, nach kurzem zwei s wie in Kuss. Chaos hingegen herrscht bei der Getrennt- und
Zusammenschreibung. Kennenlernen oder
kennen lernen, sitzen bleiben oder sitzen bleiben, Leid tun
oder leidtun, nach Hause oder nachhause?
Oder ist beides möglich? Insgesamt hat die Reform der allgemeinen Akzeptanz der
orthografischen Norm eher geschadet und damit das Gegenteil erreicht als das,
was sie eigentlich sollte. Viele haben erst durch das Hin- und Her um die
richtige Schreibung gemerkt, dass Orthografie nichts gottgegebenes, sondern
auch nur menschengemacht ist, und sehen sich dadurch bestärkt in ihrer Haltung „Ich
schreibe sowieso, wie ich will“.