Den knapp viertelstündigen Weg von der Uni nachhause wirbelt
mir dichtes Schneetreiben ins Gesicht. Beim Berühren des Bodens verflüchtigen
sich die Flocken sofort. Es ist kühl, ich trage eine Daunenjacke, bald ist die
Zeit reif für Handschuhe und Mütze. Ende Oktober: der große sibirische Winter
steht vor der Tür, noch klopft er nur an mit den ersten Vorzeichen.
Vor ein paar Tagen habe ich den eigens aus St. Petersburg
bestellten Otpúgiwatjel abgeholt, ein
Ultraschall-Abschreckungsgerät gegen aggressive Hunde. Der etwa handygroße
Kasten sendet bei Knopfdruck ein starkes UItraschallsignal aus, das die Tiere
nicht mögen. Ein Test auf einer Joggingrunde durch hundereiche Stadtrandgebiete
zeigt, dass es tatsächlich funktioniert. Die Kläffer reagieren irritiert und
laufen weg. Weniger effektiv bei Hunden
mit Hängeohren und langem Fell, steht in der Anleitung, ebenso bei ruhigen und phlegmatisch
gestimmten. Die phlegmatischen gehören allerdings auch gar nicht zur
Zielgruppe, bei denen ich das Gerät anwende.
Unerwünschte Tiere gibt es nicht nur auf der Straße, sondern
auch in unserer Wohnung: in Küche und Bad krabbelt seit einiger Zeit eine
Kakerlakenpopulation, die trotz mit Lockmittel und Gift getränkten chemischen Fallen
nicht verschwindet. Professionelle
Kakerlakenvernichtung, sechs Monate effektive Wirkung, verspricht die
Verpackung, Massenausrottung der gesamten
Population – nur leider nicht unsere.
Russland ist das Land der unscharfen Grenzen, nicht nur im
Raum und in der Zeit. Auch im Rechts- und Arbeitsleben scheinen die Übergänge
zwischen legal, halblegal, illegal und eigentlich egal sehr unbestimmt zu sein;
vieles hängt davon ab, an welche Personen man gerät und was man für Beziehungen
hat. Seit über zwei Jahren halte ich mich hier auf Bertreiben meines Lehrstuhles
mit einem Visum der Kategorie Stazhirovka
auf, ein Praktikantenvisum also, welches unkomplizierter zu erhalten ist als
ein Arbeitsvisum. Irgendwem weiter oben in der Hierarchie an der Universität
ist nun aufgefallen, dass meine Tätigkeit am Institut eigentlich nicht den
Charakter eines Praktikums hat. Das stimmt sicherlich, hat nur leider für mich
zur Folge, dass ich nach Deutschland ausreisen und ein neues Visum im
russischen Konsulat beantragen muss – zum Glück nicht sofort, sondern mit
Beginn des nächsten Jahres. Da ich im Januar ohnehin den nächsten Heimaturlaub
geplant habe, ist das nicht ganz tragisch, nur bürokratisch, umständlich und
teuer. Weil ich mit meiner Freundin zusammen reisen möchte, bin ich zurzeit auch
mit den Dokumenten für ihren Visaantrag beschäftigt, der beim deutschen
Konsulat in Novosibirsk eingereicht wird. Für Niso ist es das zweite
Schengenvisum, man sagt, es sei leichter zu bekommen als das erste, da die
Antragstellerin ihre Rückkehrwilligkeit
ja schon einmal unter Beweis gestellt hat.
Seit einiger Zeit arbeitet Niso wieder im Kindergarten; die
Arbeit gilt zugleich als Praktikum, das sie für ihr Fernstudium „Pädagogik im Vorschulalter“ nachweisen muss.
Da die Kinder Niso Karakhonova nicht
aussprechen können, die korrekte Anrede mit Vor- und Vatersnamen aber Pflicht
ist, heißt sie für die Kleinen Natalja
Nikolajewna. Mangels Personal arbeiten die meisten Betreuer von 7 Uhr
morgens bis 7 Uhr abends, die Gruppengröße beträgt etwa 30 Kinder. Von den
Arbeitsbedingungen an einem deutschen Kindergarten, wie wir sie im Sommer in
Weimar erlebt haben, kann man hier nur träumen. Niso arbeitet meist nur
halbtags.
Die kleine Maja lernt in der Schule rechnen und lesen.
Während zu meiner Schulzeit nur ein Füller benutzt werden durfte, schreiben die
Kinder hier alle mit Kugelschreiber. Zuhause spielen wir fast jeden Tag eine
Schachpartie, sie weiß schon, wie die Figuren ziehen und was eine Rochade ist.
Auf dem Klavier klimpert sie ganz gern, ist aber sehr zappelig. Nächste Woche
möchte ich einmal mit zum Unterricht gehen.
- Morgens nach dem Frühstück hat Maja mitunter keine Lust, die
Schuluniform anzuziehen, aber da gibt es keine Wahl: gutes, standardisiertes
Aussehen ist in Russland in manchen Bereichen obligatorisch. Aus dem Haus und
unter Menschen zu gehen ist für uns immer mit einem kleinen Akt des ordentlich
Einkleidens verbunden. Meine Freundin legt großen Wert darauf, dass ich nur in
gebügelten Hemden zur Arbeit gehe, wohingegen ich, an deutsche Lockerheit
gewöhnt, schon einmal die einen oder anderen Falten übersehe.
Im März 2018 stehen die Wahlen zum russischen Präsidenten
vor der Tür. Ein im Zeitschriftenhandel erhältliches Biografie-Sonderheft über
Waldimir Putin verrät, dass er „der Erste in allem“ ist. Auf der Titelseite
zeigt ihn je ein Foto im Weizenfeld („Mit dem Herz mit Russland“), mit nacktem
Oberkörper einen geangelten Fisch präsentierend („Ein echter Mann!“) und neben
dem Patriarchen der russisch-orthodoxen Kirche („Mit Glauben und Wahrheit“).
Eine ähnliche Publikation über Angela Merkel würde in Deutschland Kopfschütteln
und Gelächter auslösen. Es hat den Anschein, die Russen brauchen eine durch und
durch idealisierte Führergestalt an ihrer Spitze, sie können nicht auskommen
ohne ein Vorbild, das den Weg weist und die Volksgemeinschaft zusammenhält.