Freitag, 27. Oktober 2017

Unliebsame Tiere und unvermeidbare Visa

Den knapp viertelstündigen Weg von der Uni nachhause wirbelt mir dichtes Schneetreiben ins Gesicht. Beim Berühren des Bodens verflüchtigen sich die Flocken sofort. Es ist kühl, ich trage eine Daunenjacke, bald ist die Zeit reif für Handschuhe und Mütze. Ende Oktober: der große sibirische Winter steht vor der Tür, noch klopft er nur an mit den ersten Vorzeichen.
Vor ein paar Tagen habe ich den eigens aus St. Petersburg bestellten Otpúgiwatjel abgeholt, ein Ultraschall-Abschreckungsgerät gegen aggressive Hunde. Der etwa handygroße Kasten sendet bei Knopfdruck ein starkes UItraschallsignal aus, das die Tiere nicht mögen. Ein Test auf einer Joggingrunde durch hundereiche Stadtrandgebiete zeigt, dass es tatsächlich funktioniert. Die Kläffer reagieren irritiert und laufen weg. Weniger effektiv bei Hunden mit Hängeohren und langem Fell, steht in der Anleitung, ebenso bei ruhigen und phlegmatisch gestimmten. Die phlegmatischen gehören allerdings auch gar nicht zur Zielgruppe, bei denen ich das Gerät anwende.
Unerwünschte Tiere gibt es nicht nur auf der Straße, sondern auch in unserer Wohnung: in Küche und Bad krabbelt seit einiger Zeit eine Kakerlakenpopulation, die trotz mit Lockmittel und Gift getränkten chemischen Fallen nicht verschwindet. Professionelle Kakerlakenvernichtung, sechs Monate effektive Wirkung, verspricht die Verpackung, Massenausrottung der gesamten Population – nur leider nicht unsere.
Russland ist das Land der unscharfen Grenzen, nicht nur im Raum und in der Zeit. Auch im Rechts- und Arbeitsleben scheinen die Übergänge zwischen legal, halblegal, illegal und eigentlich egal sehr unbestimmt zu sein; vieles hängt davon ab, an welche Personen man gerät und was man für Beziehungen hat. Seit über zwei Jahren halte ich mich hier auf Bertreiben meines Lehrstuhles mit einem Visum der Kategorie Stazhirovka auf, ein Praktikantenvisum also, welches unkomplizierter zu erhalten ist als ein Arbeitsvisum. Irgendwem weiter oben in der Hierarchie an der Universität ist nun aufgefallen, dass meine Tätigkeit am Institut eigentlich nicht den Charakter eines Praktikums hat. Das stimmt sicherlich, hat nur leider für mich zur Folge, dass ich nach Deutschland ausreisen und ein neues Visum im russischen Konsulat beantragen muss – zum Glück nicht sofort, sondern mit Beginn des nächsten Jahres. Da ich im Januar ohnehin den nächsten Heimaturlaub geplant habe, ist das nicht ganz tragisch, nur bürokratisch, umständlich und teuer. Weil ich mit meiner Freundin zusammen reisen möchte, bin ich zurzeit auch mit den Dokumenten für ihren Visaantrag beschäftigt, der beim deutschen Konsulat in Novosibirsk eingereicht wird. Für Niso ist es das zweite Schengenvisum, man sagt, es sei leichter zu bekommen als das erste, da die Antragstellerin ihre Rückkehrwilligkeit ja schon einmal unter Beweis gestellt hat.
Seit einiger Zeit arbeitet Niso wieder im Kindergarten; die Arbeit gilt zugleich als Praktikum, das sie für ihr Fernstudium  „Pädagogik im Vorschulalter“ nachweisen muss. Da die Kinder Niso Karakhonova nicht aussprechen können, die korrekte Anrede mit Vor- und Vatersnamen aber Pflicht ist, heißt sie für die Kleinen Natalja Nikolajewna. Mangels Personal arbeiten die meisten Betreuer von 7 Uhr morgens bis 7 Uhr abends, die Gruppengröße beträgt etwa 30 Kinder. Von den Arbeitsbedingungen an einem deutschen Kindergarten, wie wir sie im Sommer in Weimar erlebt haben, kann man hier nur träumen. Niso arbeitet meist nur halbtags.
Die kleine Maja lernt in der Schule rechnen und lesen. Während zu meiner Schulzeit nur ein Füller benutzt werden durfte, schreiben die Kinder hier alle mit Kugelschreiber. Zuhause spielen wir fast jeden Tag eine Schachpartie, sie weiß schon, wie die Figuren ziehen und was eine Rochade ist. Auf dem Klavier klimpert sie ganz gern, ist aber sehr zappelig. Nächste Woche möchte ich einmal mit zum Unterricht gehen.  - Morgens nach dem Frühstück hat Maja mitunter keine Lust, die Schuluniform anzuziehen, aber da gibt es keine Wahl: gutes, standardisiertes Aussehen ist in Russland in manchen Bereichen obligatorisch. Aus dem Haus und unter Menschen zu gehen ist für uns immer mit einem kleinen Akt des ordentlich Einkleidens verbunden. Meine Freundin legt großen Wert darauf, dass ich nur in gebügelten Hemden zur Arbeit gehe, wohingegen ich, an deutsche Lockerheit gewöhnt, schon einmal die einen oder anderen Falten übersehe.
Im März 2018 stehen die Wahlen zum russischen Präsidenten vor der Tür. Ein im Zeitschriftenhandel erhältliches Biografie-Sonderheft über Waldimir Putin verrät, dass er „der Erste in allem“ ist. Auf der Titelseite zeigt ihn je ein Foto im Weizenfeld („Mit dem Herz mit Russland“), mit nacktem Oberkörper einen geangelten Fisch präsentierend („Ein echter Mann!“) und neben dem Patriarchen der russisch-orthodoxen Kirche („Mit Glauben und Wahrheit“). Eine ähnliche Publikation über Angela Merkel würde in Deutschland Kopfschütteln und Gelächter auslösen. Es hat den Anschein, die Russen brauchen eine durch und durch idealisierte Führergestalt an ihrer Spitze, sie können nicht auskommen ohne ein Vorbild, das den Weg weist und die Volksgemeinschaft zusammenhält.