Ein russischer Angler vor der chinesischen Skyline |
Die Stadt Blagowéschtschensk im russischen Fernen Osten ist ein besonderer Ort. Wohl nirgends sonst ist die Landesgrenze so zum Greifen nahe, ohne dass es eine Sicherheitszone gäbe, für denen Betreten Nicht-Anwohner eine besonderen Genehmigung beantragen müssen. An einem lauwarmen, freundlichen Herbsttag spazieren die Einwohner zu Hunderten auf der herrlichen Uferpromenade, essen Eis und genießen Freiluftkonzerte. Majestätisch und ruhig fließt mit einer Breite von zwei Kilometern der Amur am Geschehen vorbei, ein Fischer steht mit Gummihosen im Wasser und angelt, es wird sogar gebadet. Nichts deutet darauf hin, dass in der Mitte des Flusses die Staatsgrenze verläuft. Die moderne Skyline auf der anderen Uferseite mit Wolkenkratzern in verschiedenen Formen und Farben gehört bereits zu China; die schnell wachsende Stadt Heihé lässt keine Zweifel daran zu, welches der beiden Länder das wirtschaftlich stärkere ist. Es gibt einen regen kleinen Grenzverkehr, Russen können Heihe ohne Visum besuchen, und die Blagoweschtschensker Hotels sind voll von chinesischen Touristen. Jetzt im Herbst fahren noch Schiffe, in ein paar Monaten überqueren Schneemobile auf Luftkissen den gefrorenen Fluss, und 2019 soll endlich eine Brücke fertig sein, das erste Bauwerk über den Amur, das die beiden Riesenreiche verbindet.
Farbig unterlegt sind die von China an Russland abgetretenen Gebiete |
Wäre der 1689 geschlossene Vertrag von Nertschinsk bis heute in
Kraft, würde die Grenze einige hundert Kilometer
nördlich des Flusses verlaufen. Doch die Russen waren mit der tatsächlichen Erschließung
des Gebietes schneller. Das linke Amurufer habe keine wirtschaftlichen und
kulturellen Beziehungen zum übrigen China, wurde nach der 1855 beendeten
wissenschaftlichen Amur-Expedition festgestellt, womit der Weg frei war für die
ersten Kosakenfestungen am Fluss. Im Vertrag von Aigun 1858 wurde festgelegt,
dass der Amur bis zur Mündung die Grenze zwischen Russland und China bildet.
Zwei Jahre später korrigierte man ihn ein wenig; das im Opiumkrieg mit den
Westmächten unterlegene China musste sich die russischen Bedingungen gefallen
lassen: Grenze wurde nun ab Chabarowsk der vom Süden kommende Fluss Ussuri.
Jetzt bekam die Landkarte Russlands im Osten ihr heutiges Aussehen mit der nach
unten abknickenden Nase am rechten Rand, dort, wo die Transsib-Touristen in
Wladiwostok aussteigen, nach einwöchiger Fahrt endlich am Ziel.
1969 hätten Schießereien an der
Damanski-Insel, bekannt geworden als „Zwischenfall am Ussuri“, fast zu einem
großen Krieg zwischen den sich damals feindlich gegenüberstehenden Großmächten
geführt. Noch nach dem Ende der Sowjetunion wechselten einige kleine
Flussinseln den Besitzer, erst seit 2008 gilt der Grenzverlauf als endgültig
geklärt. China hat heute keine Gebietsansprüche mehr an Russland; in die
chinesische Geschichtsschreibung sind das Abkommen von Aigun zusammen mit
anderen Verträgen aber als „Ungleiche Verträge“ eingegangen, dem Land
aufgezwungen in einer Phase politischer und militärischer Schwäche.
„Nimm Deinen Hektar!“, fordern
Plakate am Flughafen Blagoweschtschensk und am Leninplatz in Chabarowsk die
Bürger auf. Um den russischen Ferne Osten zu bevölkern, hat sich die Regierung
ein ganz besonderes Programm einfallen lassen. Seit diesem Jahr können alle
Russen einen Hektar Land im Fernen Osten kostenlos pachten; wer ihn tatsächlich
nutzt, bekommt das Land nach fünf Jahren als Eigentum überschrieben – eine Maßnahme
gegen die Stadtflucht und den Trend, in den europäischen Teil jenseits des Ural
umzuziehen. Gern würde ich mir einen Hektar holen, vielleicht neben den
Vulkanen Kamtschatkas oder im fruchtbaren Primorskij
kraj unweit der nordkoreanischen Grenze, doch leider habe ich keinen
russischen Pass.
Aus dem Aufsatz einer Deutschstudentin |
An der Pädagogischen Universität
Blagoweschtschensk organisierte ich zusammen mit einem Kollegen eine
Deutsch-Olympiade; in Chabarowsk erklärte ich den Deutschstudenten die deutsche
Frakturschrift und lud sie dazu ein, ihren Namen doch einmal in Kurrent zu
schreiben und eine alte Postkarte von der Ostfront zu entziffern. Mit
nostalgischen Gefühlen lief ich durch die Straßen der Innenstadt - 2010/11
hatte ich ein ganzes Jahr in Chabarowsk gelebt und war seitdem nicht wieder
hier. In meiner mehrjährigen Abwesenheit wurde der fernöstlichen Metropole vom
russischen Präsidenten der Titel „Stadt des Kriegsruhmes“ verliehen, für den Heroismus und Mut der Chabarowsker
während folgender Ereignisse, erklärt eine Schautafel an einem neuen
Denkmalkomplex unweit des Amur; aufgelistet sind neun kriegerische
Auseinandersetzungen im 20. und 21. Jahrhundert, angefangen vom Russisch-Japanischen Krieg 1905 bis hin
zur Bekämpfung des Terrorismus bei der
Verteidigung der Souveränität der Länder des nördlichen Kaukasus.
Vor meinem Rückflug nach Ulan-Ude
besuchte ich Oleg in Bytschicha. Der kleine Ort befindet sich auf der
Übersichtskarte „Umgebung von Chabarowsk“ links unten, etwa einen Zentimeter
von der Zeichenerklärung entfernt, welche zufällig oder auch weniger zufällig
so gelegt wurde, dass sie die Grenze zum Nachbarstaat vollständig verdeckt –
beim Blick auf die Landkarte soll vielleicht nicht so auffallen, dass man in unmittelbarer
Nähe zu einer Milliarde Chinesen lebt. Kurz vor meiner Abreise aus der
Gegend vor sechs Jahren hatten Oleg und ich die Gegend einmal etwas näher
erkunden wollen, was mit einem mehrstündigen Verhör beim FSB wegen unbefugtem
Eindringens in die Sicherheitszone endete, ein höfliches, konsequent geführtes
Verhör, an dessen Ende ich versichern musste, niemandem zu erzählen, was ich
erlebt und gesehen hatte: Stacheldraht und einen Militärhafen, einen Turm auf
der chinesischen Seite.
Diesmal gingen wir in die andere
Richtung, in die große Taiga, deren Bäume gerade jetzt in bunter herbstlicher
Pracht stehen, Birken, Pappeln, Erlen zwischen Kiefern und Tannen, mittendurch
ein schmaler, kaum sichtbarer Pfad, vorbei an einem umgeknickten Nationalpark-Betreten-Verboten-Schild.
Nach etwa zwei Stunden erreichten wir an eine Überwinterungshütte für die
Forstarbeiter, vor der wir es uns an einem Feuer Tee schlürfend gemütlich
machten. Oleg war Armee-Musiker, spielt Saxophon und Trompete und erzählte vom
Auftrag seines Stabschefs, aus einfachen Soldaten ein Orchester zu formen. Hier
hast du acht Leute, zwei Monate Zeit, dann muss die Kapelle stehen! Es gelang
ihm tatsächlich. Nach 25 Dienstjahren bekommt der 53jährige nun eine nicht
schlechte Rente von 18000 Rubeln und kann sich seinen Bauprojekten widmen, seit
meinem letzten Besuch sind Hühnerstall und Banja auf dem Grundstück
dazugekommen, natürlich ohne Außenverkleidung, aber warum Dinge zu Ende
bringen, wenn es auch so geht; am Abend darf ich mich persönlich davon
überzeugen, dass die Banja funktioniert und der kleine Holzofen den Raum mit
höllischer Hitze ausfüllt.
Oleg geht in eine Gemeinde der
Pfingstbewegung und liest jeden Morgen in der Bibel – und nur in dieser; jede andere
Literatur sei für ihn völlig überflüssig. Wir kommen auf die Zeugen Jehovas zu sprechen, die seit
letztem Jahr in Russland verboten sind, eine richtige Entscheidung, wie mein
Gegenüber findet, der die Sekte für den Teil einer amerikanischen Kampagne hält,
Russland von innen zu zersetzen. Zum Abschied am nächsten Tag trinken wir
Kaffee mit tadschikischem Kardamon, Wodka gibt es keinen, da Oleg ebenso wie
ich keinen Alkohol trinkt – fast keinen. Ob ich denn die Bibel nicht gut kennen
würde? Er wolle mich ja nicht überreden, aber ob ich nicht selbst bitte schauen
könne, meint er und schlägt sofort die richtige Seite auf, 1.Timotheus 5.23: „Trinke
nicht mehr bloß Wasser, sondern nimm etwas Wein um deines Magens willen und
deiner häufigen Krankheiten.“