Montag, 2. Oktober 2017

Russland, China und der Amur

Ein russischer Angler vor der chinesischen Skyline




















Die Stadt Blagowéschtschensk im russischen Fernen Osten ist ein besonderer Ort. Wohl nirgends sonst ist die Landesgrenze so zum Greifen nahe, ohne dass es eine Sicherheitszone gäbe, für denen Betreten Nicht-Anwohner eine besonderen Genehmigung beantragen müssen. An einem lauwarmen, freundlichen Herbsttag spazieren die Einwohner zu Hunderten auf der herrlichen Uferpromenade, essen Eis und genießen Freiluftkonzerte. Majestätisch und ruhig fließt mit einer Breite von zwei Kilometern der Amur am Geschehen vorbei, ein Fischer steht mit Gummihosen im Wasser und angelt, es wird sogar gebadet. Nichts deutet darauf hin, dass in der Mitte des Flusses die Staatsgrenze verläuft. Die moderne Skyline auf der anderen Uferseite mit Wolkenkratzern in verschiedenen Formen und Farben gehört bereits zu China; die schnell wachsende Stadt Heihé lässt keine Zweifel daran zu, welches der beiden Länder das wirtschaftlich stärkere ist. Es gibt einen regen kleinen Grenzverkehr, Russen können Heihe ohne Visum besuchen, und die Blagoweschtschensker Hotels sind voll von chinesischen Touristen. Jetzt im Herbst fahren noch Schiffe, in ein paar Monaten überqueren Schneemobile auf Luftkissen den gefrorenen Fluss, und 2019 soll endlich eine Brücke fertig sein, das erste Bauwerk über den Amur, das die beiden Riesenreiche verbindet.

Farbig unterlegt sind die von China an Russland abgetretenen Gebiete


Wäre der 1689 geschlossene Vertrag von Nertschinsk bis heute in Kraft, würde die Grenze einige hundert Kilometer nördlich des Flusses verlaufen. Doch die Russen waren mit der tatsächlichen Erschließung des Gebietes schneller. Das linke Amurufer habe keine wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen zum übrigen China, wurde nach der 1855 beendeten wissenschaftlichen Amur-Expedition festgestellt, womit der Weg frei war für die ersten Kosakenfestungen am Fluss. Im Vertrag von Aigun 1858 wurde festgelegt, dass der Amur bis zur Mündung die Grenze zwischen Russland und China bildet. Zwei Jahre später korrigierte man ihn ein wenig; das im Opiumkrieg mit den Westmächten unterlegene China musste sich die russischen Bedingungen gefallen lassen: Grenze wurde nun ab Chabarowsk der vom Süden kommende Fluss Ussuri. Jetzt bekam die Landkarte Russlands im Osten ihr heutiges Aussehen mit der nach unten abknickenden Nase am rechten Rand, dort, wo die Transsib-Touristen in Wladiwostok aussteigen, nach einwöchiger Fahrt endlich am Ziel.

1969 hätten Schießereien an der Damanski-Insel, bekannt geworden als „Zwischenfall am Ussuri“, fast zu einem großen Krieg zwischen den sich damals feindlich gegenüberstehenden Großmächten geführt. Noch nach dem Ende der Sowjetunion wechselten einige kleine Flussinseln den Besitzer, erst seit 2008 gilt der Grenzverlauf als endgültig geklärt. China hat heute keine Gebietsansprüche mehr an Russland; in die chinesische Geschichtsschreibung sind das Abkommen von Aigun zusammen mit anderen Verträgen aber als „Ungleiche Verträge“ eingegangen, dem Land aufgezwungen in einer   Phase politischer und militärischer Schwäche. 


„Nimm Deinen Hektar!“, fordern Plakate am Flughafen Blagoweschtschensk und am Leninplatz in Chabarowsk die Bürger auf. Um den russischen Ferne Osten zu bevölkern, hat sich die Regierung ein ganz besonderes Programm einfallen lassen. Seit diesem Jahr können alle Russen einen Hektar Land im Fernen Osten kostenlos pachten; wer ihn tatsächlich nutzt, bekommt das Land nach fünf Jahren als Eigentum überschrieben – eine Maßnahme gegen die Stadtflucht und den Trend, in den europäischen Teil jenseits des Ural umzuziehen. Gern würde ich mir einen Hektar holen, vielleicht neben den Vulkanen Kamtschatkas oder im fruchtbaren Primorskij kraj unweit der nordkoreanischen Grenze, doch leider habe ich keinen russischen Pass.

Aus dem Aufsatz einer Deutschstudentin

An der Pädagogischen Universität Blagoweschtschensk organisierte ich zusammen mit einem Kollegen eine Deutsch-Olympiade; in Chabarowsk erklärte ich den Deutschstudenten die deutsche Frakturschrift und lud sie dazu ein, ihren Namen doch einmal in Kurrent zu schreiben und eine alte Postkarte von der Ostfront zu entziffern. Mit nostalgischen Gefühlen lief ich durch die Straßen der Innenstadt - 2010/11 hatte ich ein ganzes Jahr in Chabarowsk gelebt und war seitdem nicht wieder hier. In meiner mehrjährigen Abwesenheit wurde der fernöstlichen Metropole vom russischen Präsidenten der Titel „Stadt des Kriegsruhmes“ verliehen, für den Heroismus und Mut der Chabarowsker während folgender Ereignisse, erklärt eine Schautafel an einem neuen Denkmalkomplex unweit des Amur; aufgelistet sind neun kriegerische Auseinandersetzungen im 20. und 21. Jahrhundert, angefangen vom Russisch-Japanischen Krieg 1905 bis hin zur Bekämpfung des Terrorismus bei der Verteidigung der Souveränität der Länder des nördlichen Kaukasus.

Vor meinem Rückflug nach Ulan-Ude besuchte ich Oleg in Bytschicha. Der kleine Ort befindet sich auf der Übersichtskarte „Umgebung von Chabarowsk“ links unten, etwa einen Zentimeter von der Zeichenerklärung entfernt, welche zufällig oder auch weniger zufällig so gelegt wurde, dass sie die Grenze zum Nachbarstaat vollständig verdeckt – beim Blick auf die Landkarte soll vielleicht nicht so auffallen, dass man in unmittelbarer Nähe zu einer Milliarde Chinesen lebt. Kurz vor meiner Abreise aus der Gegend vor sechs Jahren hatten Oleg und ich die Gegend einmal etwas näher erkunden wollen, was mit einem mehrstündigen Verhör beim FSB wegen unbefugtem Eindringens in die Sicherheitszone endete, ein höfliches, konsequent geführtes Verhör, an dessen Ende ich versichern musste, niemandem zu erzählen, was ich erlebt und gesehen hatte: Stacheldraht und einen Militärhafen, einen Turm auf der chinesischen Seite.


Diesmal gingen wir in die andere Richtung, in die große Taiga, deren Bäume gerade jetzt in bunter herbstlicher Pracht stehen, Birken, Pappeln, Erlen zwischen Kiefern und Tannen, mittendurch ein schmaler, kaum sichtbarer Pfad, vorbei an einem umgeknickten Nationalpark-Betreten-Verboten-Schild. Nach etwa zwei Stunden erreichten wir an eine Überwinterungshütte für die Forstarbeiter, vor der wir es uns an einem Feuer Tee schlürfend gemütlich machten. Oleg war Armee-Musiker, spielt Saxophon und Trompete und erzählte vom Auftrag seines Stabschefs, aus einfachen Soldaten ein Orchester zu formen. Hier hast du acht Leute, zwei Monate Zeit, dann muss die Kapelle stehen! Es gelang ihm tatsächlich. Nach 25 Dienstjahren bekommt der 53jährige nun eine nicht schlechte Rente von 18000 Rubeln und kann sich seinen Bauprojekten widmen, seit meinem letzten Besuch sind Hühnerstall und Banja auf dem Grundstück dazugekommen, natürlich ohne Außenverkleidung, aber warum Dinge zu Ende bringen, wenn es auch so geht; am Abend darf ich mich persönlich davon überzeugen, dass die Banja funktioniert und der kleine Holzofen den Raum mit höllischer Hitze ausfüllt.


Oleg geht in eine Gemeinde der Pfingstbewegung und liest jeden Morgen in der Bibel – und nur in dieser; jede andere Literatur sei für ihn völlig überflüssig. Wir kommen auf die Zeugen Jehovas zu sprechen, die seit letztem Jahr in Russland verboten sind, eine richtige Entscheidung, wie mein Gegenüber findet, der die Sekte für den Teil einer amerikanischen Kampagne hält, Russland von innen zu zersetzen. Zum Abschied am nächsten Tag trinken wir Kaffee mit tadschikischem Kardamon, Wodka gibt es keinen, da Oleg ebenso wie ich keinen Alkohol trinkt – fast keinen. Ob ich denn die Bibel nicht gut kennen würde? Er wolle mich ja nicht überreden, aber ob ich nicht selbst bitte schauen könne, meint er und schlägt sofort die richtige Seite auf, 1.Timotheus 5.23: „Trinke nicht mehr bloß Wasser, sondern nimm etwas Wein um deines Magens willen und deiner häufigen Krankheiten.“