Sonntag, 15. Oktober 2017

Der Geruch des Ostens

Bei meinem vorletzten Deutschlandbesuch im letzten Winter habe ich mir einen Internationalen Führerschein ausstellen lassen. Damit kann ich mich auch in Russland ganz offiziell ans Steuer setzen. Mein Arbeitskollege Mischa ist bereit, mir gelegentlich seinen Lada für den einen oder anderen Tagesausflug auszuleihen und ließ mich dafür sogar als Zweitfahrer in seine Haftpflichtversicherung eintragen. Im Gegenzug habe ich ihm mein zweites Violoncello geliehen, damit er mit seinem Sohn Seva zuhause üben kann, der seit einiger Zeit auch Cello lernt.

Die Erinnerungen an meine 10 Jahre währende DDR-Kindheit sind mit verschiedenen Automodellen verbunden. Die Eltern hatten einen Trabant und meine Großeltern einen Wartburg. Außerdem gab es vier Marken vom großen Bruder Sowjetunion: Lada, Moskwitsch, seltener der breite Wolga und der kleine Saporosch. Der Lada war wohl schon so etwas wie ein Elite-Auto, für das einfache Volk nicht zu haben. Aus den befreundeten sozialistischen Staaten CSSR und Rumänien kamen Skoda und Dacia. Damit endete die PKW-Vielfalt im Osten. Zweimal jährlich, wenn in meiner Heimatstadt Leipzig die Messe stattfand, tauchten auf den Straßen plötzlich Westmarken auf, und ich bestaunte fasziniert jeden Volkswagen, Opel oder gar Mercedes. Als meine Eltern sich dann nach der Wende einen Ford Escort anschafften, konnte ich vor Aufregung in der Nacht vor dem Kauf kaum schlafen.
Mischas Lada 1600 heißt auf dem russischen Markt eigentlich Zhiguli WAS-2106 (WAS steht für Wolgaer Automobilfabrik) und ist 15 Jahre alt; das Modell ist eines der am meisten verbreiteten und wurde von 1976 bis sage und schreibe 2006 produziert. Im heutigen Russland überwiegen japanische und deutsche PKWs, trotzdem scheinen die alten Ladas unverwüstlich zu sein und sind kein seltener Anblick. Erinnerungen an frühe Jahre werden plötzlich Gegenwart: Beim Start kann mit einem Choke genannten Hebel das Benzin-Luft-Verhältnis im Vergaser manuell reguliert werden, der Ölstand wird mit einem langen dünnen Stab im Motor gemessen. Parkplatzsuche in der Stadt ist mangels Servolenkung für mich fast ein Ding der Unmöglichkeit. Im Fahrgastraum duftet es dezent nach Benzin – vielleicht ist das der Grund, warum ich mich am Steuer unbewusst heimisch fühle, wie überhaupt in diesem Land: es riecht ein wenig wie in meiner Ost-Kindheit.
An der Tankstelle gehe ich zur Kasse, sage „voller Tank“, die Zapfsäulennummer und hinterlasse eine bestimmte Geldsumme als Pfand, erst dann wird das Benzin freigegeben. Nachdem der Tank mit verbleitem 92er vollgelaufen ist, hole ich Wechselgeld und Rechnung ab. Ein Liter hat 37 Rubel gekostet, etwa 60 Cent.

Niso, Maja und ich unternehmen in frischem, sonnigen Herbstwetter einen Ausflug in die Ortschaft Atsagát, wo am Hang eines Hügels in der graubraunen Steppe ein buddhistischer Tempel liegt. In einem kleinen Holzhaus daneben ist ein Museum untergebracht, wo wie in einem Wachsfigurenkabinett die Gestalten des dreizehnten und vierzehnten Dalai Lama in Lebensgröße zu bewundern sind. Eine andere Fahrt führt uns nach Novoselenginsk, malerisch am Fluss Selenga gelegen, eine der ältesten Siedlungen Burjatiens. Im vorletzten Jahrhundert zog das Dorf vom rechten an das linke, weniger überschwemmungsgefährdete Flussufer um. Vom alten Standort zeugt einzig und allein die bis heute stehengebliebene Kirchenruine, ein romantischer Anblick und geheimnisvolles Zeugnis der Vergänglichkeit inmitten karger, weiter Landschaft.

Mischas Lada ist mit Spikereifen ausgerüstet, im bevorstehenden russischen Winter mit monatelangem Eis und Schnee eine Notwendigkeit, in Deutschland ganzjährig verboten, da die Metallstifte den Asphalt kaputtmachen. Geschwindigkeitsbegrenzungen werden vor allem in der Stadt durchaus ernstgenommen und auch kontrolliert. Es gelten 60 km/h innerorts, 90 auf Überlandstraßen und auf richtigen Autobahnen mit Mittelstreifen 110, von denen es allerdings in Sibirien keine und auch in Westrussland nur wenige gibt.
Eine spätabendliche Rückfahrt im Dunkeln bleibt mir in unangenehmer Erinnerung, da mich der Gegenverkehr blendet und ich streckenweise fast nichts sehe. Die Lichtkegel vieler Autos sind auf die Fahrbahnmitte statt auf den Rand hin ausgerichtet, da sie das Steuer rechts haben und eigentlich für den japanischen Markt mit Linksverkehr produziert wurden. Leitpfosten mit Reflektoren am Straßenrand gibt es keine. Nicht selten wird einfach mit Fernlicht gefahren, und Überholvorgänge kalkuliert man mit einem für meine Begriffe sehr knappen Sicherheitsabstand.

Wachsfiguren im Museum am buddhistischen Tempel in Azagat. Links der amtierende XIV. Dalai Lama
Von der alten Ortschaft Selenginsk vor dem Umzug ans andere Flussufer zeugt einzig die Kirchenruine (oben)