Bei meinem
vorletzten Deutschlandbesuch im letzten Winter habe ich mir einen
Internationalen Führerschein ausstellen lassen. Damit kann ich mich auch in
Russland ganz offiziell ans Steuer setzen. Mein Arbeitskollege Mischa ist
bereit, mir gelegentlich seinen Lada für den einen oder anderen Tagesausflug
auszuleihen und ließ mich dafür sogar als Zweitfahrer in seine
Haftpflichtversicherung eintragen. Im Gegenzug habe ich ihm mein zweites Violoncello
geliehen, damit er mit seinem Sohn Seva zuhause üben kann, der seit einiger
Zeit auch Cello lernt.
Die
Erinnerungen an meine 10 Jahre währende DDR-Kindheit sind mit verschiedenen
Automodellen verbunden. Die Eltern hatten einen Trabant und meine Großeltern einen Wartburg. Außerdem gab es vier Marken vom großen Bruder
Sowjetunion: Lada, Moskwitsch, seltener der breite Wolga und der kleine Saporosch. Der Lada war wohl schon so
etwas wie ein Elite-Auto, für das einfache Volk nicht zu haben. Aus den befreundeten sozialistischen Staaten CSSR und Rumänien kamen Skoda und Dacia. Damit endete die PKW-Vielfalt im Osten. Zweimal
jährlich, wenn in meiner Heimatstadt Leipzig die Messe stattfand, tauchten auf
den Straßen plötzlich Westmarken auf, und ich bestaunte fasziniert jeden
Volkswagen, Opel oder gar Mercedes. Als meine Eltern sich dann nach der Wende
einen Ford Escort anschafften, konnte ich vor Aufregung in der Nacht vor dem
Kauf kaum schlafen.
Mischas Lada 1600 heißt auf dem russischen Markt
eigentlich Zhiguli WAS-2106 (WAS steht für Wolgaer Automobilfabrik) und ist 15 Jahre alt; das Modell ist eines
der am meisten verbreiteten und wurde von 1976 bis sage und schreibe 2006
produziert. Im heutigen Russland überwiegen japanische und deutsche PKWs,
trotzdem scheinen die alten Ladas unverwüstlich zu sein und sind kein seltener
Anblick. Erinnerungen an frühe Jahre werden plötzlich Gegenwart: Beim Start
kann mit einem Choke genannten Hebel
das Benzin-Luft-Verhältnis im Vergaser manuell reguliert werden, der Ölstand
wird mit einem langen dünnen Stab im Motor gemessen. Parkplatzsuche in der
Stadt ist mangels Servolenkung für mich fast ein Ding der Unmöglichkeit. Im
Fahrgastraum duftet es dezent nach Benzin – vielleicht ist das der Grund, warum
ich mich am Steuer unbewusst heimisch fühle, wie überhaupt in diesem Land: es
riecht ein wenig wie in meiner Ost-Kindheit.
An der
Tankstelle gehe ich zur Kasse, sage „voller Tank“, die Zapfsäulennummer und
hinterlasse eine bestimmte Geldsumme als Pfand, erst dann wird das Benzin
freigegeben. Nachdem der Tank mit verbleitem 92er vollgelaufen ist, hole ich
Wechselgeld und Rechnung ab. Ein Liter hat 37 Rubel gekostet, etwa 60 Cent.
Niso, Maja
und ich unternehmen in frischem, sonnigen Herbstwetter einen Ausflug in die
Ortschaft Atsagát, wo am Hang eines Hügels in der graubraunen Steppe ein
buddhistischer Tempel liegt. In einem kleinen Holzhaus daneben ist ein Museum
untergebracht, wo wie in einem Wachsfigurenkabinett die Gestalten des
dreizehnten und vierzehnten Dalai Lama in Lebensgröße zu bewundern sind. Eine
andere Fahrt führt uns nach Novoselenginsk, malerisch am Fluss Selenga gelegen,
eine der ältesten Siedlungen Burjatiens. Im vorletzten Jahrhundert zog das Dorf
vom rechten an das linke, weniger überschwemmungsgefährdete Flussufer um. Vom alten
Standort zeugt einzig und allein die bis heute stehengebliebene Kirchenruine,
ein romantischer Anblick und geheimnisvolles Zeugnis der Vergänglichkeit
inmitten karger, weiter Landschaft.
Mischas Lada
ist mit Spikereifen ausgerüstet, im bevorstehenden russischen Winter mit monatelangem
Eis und Schnee eine Notwendigkeit, in Deutschland ganzjährig verboten, da die
Metallstifte den Asphalt kaputtmachen. Geschwindigkeitsbegrenzungen werden vor
allem in der Stadt durchaus ernstgenommen und auch kontrolliert. Es gelten 60
km/h innerorts, 90 auf Überlandstraßen und auf richtigen Autobahnen mit
Mittelstreifen 110, von denen es allerdings in Sibirien keine und auch in
Westrussland nur wenige gibt.
Eine spätabendliche
Rückfahrt im Dunkeln bleibt mir in unangenehmer Erinnerung, da mich der
Gegenverkehr blendet und ich streckenweise fast nichts sehe. Die Lichtkegel
vieler Autos sind auf die Fahrbahnmitte statt auf den Rand hin ausgerichtet, da
sie das Steuer rechts haben und eigentlich für den japanischen Markt mit
Linksverkehr produziert wurden. Leitpfosten mit Reflektoren am Straßenrand gibt
es keine. Nicht selten wird einfach mit Fernlicht gefahren, und Überholvorgänge
kalkuliert man mit einem für meine Begriffe sehr knappen Sicherheitsabstand.
Wachsfiguren im Museum am buddhistischen Tempel in Azagat. Links der amtierende XIV. Dalai Lama |
Von der alten Ortschaft Selenginsk vor dem Umzug ans andere Flussufer zeugt einzig die Kirchenruine (oben) |