Montag, 11. September 2017

Auf ins dritte Jahr

Mein drittes Jahr in Ulan-Ude beginne ich als Familienmensch. Zusammen mit mir wohnen meine Freundin Niso und ihre kleine Tochter Maja, die seit dem 1. September in die Schule geht. Jeden Morgen um halb acht zieht sie ihre schicke Schuluniform an und wird von Niso in Schule Nummer eins gebracht. Drei Unterrichtsstunden gibt es in der 1. Klasse jeden Tag, danach stehen zweimal pro Woche wahlweise Schach-, Tanz- oder Gesangs-AG auf dem Plan; wir entschieden uns, Maja zur Schach-AG zu schicken. Nach dem Abendessen basteln wir aus Papier Wasserbomben, Knalltüten oder Frösche, abends vor dem Einschlafen lese ich ein Märchen aus einem illustrierten Sammelband vor – kein Grimm`sches, sondern eines von Puschkin oder Tolstoj.

Die Macht des Dolmetschers

Am letzten Freitag ist Herr Baron Nikolaus von Gayling-Westphal, Stadtrat von Freiburg und Forstwirt, in der Stadt Ulan-Ude zu einem einwöchigen Besuch eingetroffen. Herr Baron Nikolaus von Gayling-Westphal wohnt in Schloss Ebnet in Freiburg, besitzt verschiedene Ländereien in ganz Deutschland und möchte sich für partnerschaftliche Beziehungen zwischen Ulan-Ude und seiner Stadt stark machen – vielleicht kann eine Städtepartnerschaft zwischen Freiburg und der burjatischen Hauptstadt entstehen? Aus psychologischen Gründen hielt man es für angebracht, ihm während seiner Visite keinen Russen, sondern einen Deutschen als Übersetzer an die Seite zu stellen, weshalb die Wahl auf mich fiel.
Zufällig war an diesem Wochenende zugleich das 351. Jubiläum der Stadt Ulan-Ude. Egal wie krumm das Datum ist, in Russland wird der „Tag der Stadt“ jährlich gefeiert, und der Herr Baron Nikolaus von Gayling-Westphal – trotz des umständlichen Adelstitels und des anstrengenden doppelten Familiennamens ein verträglicher, ja fast gemütlicher Mensch, der sogar von mir geduzt werden wollte – war zusammen mit anderen Ehrendelegationen ins Rathaus eingeladen, um dem Bürgermeister seine Glückwünsche darzubringen. Und so fand ich mich in einem Saal mit vielen Mongolen und Chinesen wieder, Vertreter der bereits existierenden Partnerstädte Ulan-Udes, wobei die meisten wohl nur auf dem Papier existieren dürften, sozusagen mehr Stadtverwaltungspartnerschaften sind. Alexander Michailowitsch Golkov, der Bürgermeister, hielt eine kurze Ansprache, in der er die Bedeutung Ulan-Udes als blühendes Kultur-, Industrie und Touristenzentrum hervorhob; vor allem der zweite Punkt ist rätselhaft für den, der die Lage hier kennt und kann höchstens ironisch gemeint sein. Dann waren die Delegationen mit ihren kurzen, formalisierten Glückwunschansprachen an der Reihe, in die wir uns auch einreihten.
„In Freiburg haben wir das größte Weinanbaugebiet Deutschlands“, sagte Herr von Gayling und ließ eine Pause, damit ich Zeit fürs Übersetzen habe, „wir haben das älteste Restaurant Deutschlands, eine große traditionsreiche forstwirtschaftliche Fakultät und eine tolle Bundesliga-Mannschaft, den SC Freiburg! Unsere Stadt ist bereits 900 Jahre alt!“
„Wir wünschen Ihnen von ganzem Herzen alles Gute zum Jubiläum der Stadt Ulan-Ude“, übersetzte ich nach einer kurzen Sekunde der Verwirrung, „Erfolg und weiteres Aufblühen in den nächsten Jahren“ – jetzt hatte ich meine Souveränität als Dolmetscher endgültig gefunden – „und wir möchten uns ganz herzlich dafür bedanken, dass Sie uns eingeladen haben und wir heute hier dabeisein können!“ Kurzer, ehrlicher Applaus, befriedigtes Nicken auf allen Seiten, der Herr Baron nahm Platz, zufrieden über die gute Wirkung seiner Worte.
Am Nachmittag waren wir ins Opernhaus eingeladen, wo Orchester, Sänger und Balletttänzer eine halbstündige Sonderaufführung zu Ehren des hohen Besuches aus Deutschland gaben. Anschließend stand ein Kaffeetrinken mit der Direktorin des Opernhauses und dem jungen Kulturminister der Republik Burjatien auf dem Plan, eine ungezwungene, nette Plauderei über Kunst und Kultur in Freiburg und Burjatien, das Hin- und Herübersetzen machte mir durchaus Freude, auch wenn ich als einziger in der Runde nicht zum Kuchenessen kam.

Gläserne Kandidaten

Gestern habe ich meinen Bekannten Maxim ins Wahllokal begleitet zur Abstimmung über das künftige Oberhaupt der Republik Burjatien. Drei Kandidaten standen zur Auswahl; ein Plakat vor dem Wahlraum informierte über ihre Biografie, Parteizugehörigkeit und ihre persönlichen finanziellen und Eigentumsverhältnisse. So konnten die Wähler lesen, dass Aleksej Tsidenov, Kandidat von Putins führender Partei „Einiges Russland“, eine 121-Quadratmeter-Wohnung in Moskau besitzt und auf seinen acht verschiedenen Konten insgesamt 807505 Rubel liegen; es folgten ähnliche Angaben zu seiner Gattin. Der kommunistische Kandidat Batodalaj Bagdajev kommt nur auf 61 Quadratmeter und 45000 Rubel; außerdem erfuhren wir sein Transportmittel, einen koreanischen Minibus, Baujahr 1997. Wie auch schon bei der landesweiten Parlamentswahl im letzten Herbst wurden die ausgefüllten Wahlzettel sofort elektronisch ausgewertet. Die Wahlbeteiligung lag bei 41 Prozent, erfuhren wir am nächsten Tag – höher als beim letzten Mal, heißt es, ein gutes Zeichen für die Republik.

Unser neuer Mitbewohner

Seit kurzem haben wir einen neuen Mitbewohner in der Wohnung. Er heißt Primorje, kommt aus der Stadt Artjom in der Nähe von Wladiwostok und wurde 1980 geboren, genauer gesagt: gebaut, denn es handelt sich um ein Klavier. Zu Sowjetzeiten waren Klaviere ein Massenartikel und es gab sie wohl  in mindestens der gleichen Anzahl wie Fernseher, weshalb es nicht schwer war, über einen Klavierstimmer eines aufzutreiben – für umgerechnet 100 Euro inclusive Anlieferung und einmal Stimmen nach dem Aufstellen. Wir möchten gern, dass Maja an der Musikschule Klavier lernt.