Mein drittes Jahr in Ulan-Ude beginne ich als
Familienmensch. Zusammen mit mir wohnen meine Freundin Niso und ihre kleine
Tochter Maja, die seit dem 1. September in die Schule geht. Jeden Morgen um
halb acht zieht sie ihre schicke Schuluniform an und wird von Niso in Schule
Nummer eins gebracht. Drei Unterrichtsstunden gibt es in der 1. Klasse jeden
Tag, danach stehen zweimal pro Woche wahlweise Schach-, Tanz- oder Gesangs-AG
auf dem Plan; wir entschieden uns, Maja zur Schach-AG zu schicken. Nach dem
Abendessen basteln wir aus Papier Wasserbomben, Knalltüten oder Frösche, abends
vor dem Einschlafen lese ich ein Märchen aus einem illustrierten Sammelband vor
– kein Grimm`sches, sondern eines von Puschkin oder Tolstoj.
Die Macht des Dolmetschers
Am letzten Freitag ist Herr Baron Nikolaus von
Gayling-Westphal, Stadtrat von Freiburg und Forstwirt, in der Stadt Ulan-Ude zu
einem einwöchigen Besuch eingetroffen. Herr Baron Nikolaus von Gayling-Westphal
wohnt in Schloss Ebnet in Freiburg, besitzt verschiedene Ländereien in ganz
Deutschland und möchte sich für partnerschaftliche Beziehungen zwischen
Ulan-Ude und seiner Stadt stark machen – vielleicht kann eine
Städtepartnerschaft zwischen Freiburg und der burjatischen Hauptstadt
entstehen? Aus psychologischen Gründen hielt man es für angebracht, ihm während
seiner Visite keinen Russen, sondern einen Deutschen als Übersetzer an die
Seite zu stellen, weshalb die Wahl auf mich fiel.
Zufällig war an diesem Wochenende zugleich das 351. Jubiläum
der Stadt Ulan-Ude. Egal wie krumm das Datum ist, in Russland wird der „Tag der
Stadt“ jährlich gefeiert, und der Herr Baron Nikolaus von Gayling-Westphal –
trotz des umständlichen Adelstitels und des anstrengenden doppelten
Familiennamens ein verträglicher, ja fast gemütlicher Mensch, der sogar von mir
geduzt werden wollte – war zusammen mit anderen Ehrendelegationen ins Rathaus
eingeladen, um dem Bürgermeister seine Glückwünsche darzubringen. Und so fand
ich mich in einem Saal mit vielen Mongolen und Chinesen wieder, Vertreter der
bereits existierenden Partnerstädte Ulan-Udes, wobei die meisten wohl nur auf
dem Papier existieren dürften, sozusagen mehr Stadtverwaltungspartnerschaften
sind. Alexander Michailowitsch Golkov, der Bürgermeister, hielt eine kurze
Ansprache, in der er die Bedeutung Ulan-Udes als blühendes Kultur-, Industrie und
Touristenzentrum hervorhob; vor allem der zweite Punkt ist rätselhaft für den,
der die Lage hier kennt und kann höchstens ironisch gemeint sein. Dann waren
die Delegationen mit ihren kurzen, formalisierten Glückwunschansprachen an der
Reihe, in die wir uns auch einreihten.
„In Freiburg haben wir das größte Weinanbaugebiet
Deutschlands“, sagte Herr von Gayling und ließ eine Pause, damit ich Zeit fürs
Übersetzen habe, „wir haben das älteste Restaurant Deutschlands, eine große
traditionsreiche forstwirtschaftliche Fakultät und eine tolle
Bundesliga-Mannschaft, den SC Freiburg! Unsere Stadt ist bereits 900 Jahre alt!“
„Wir wünschen Ihnen von ganzem Herzen alles Gute zum
Jubiläum der Stadt Ulan-Ude“, übersetzte ich nach einer kurzen Sekunde der
Verwirrung, „Erfolg und weiteres Aufblühen in den nächsten Jahren“ – jetzt hatte
ich meine Souveränität als Dolmetscher endgültig gefunden – „und wir möchten
uns ganz herzlich dafür bedanken, dass Sie uns eingeladen haben und wir heute hier
dabeisein können!“ Kurzer, ehrlicher Applaus, befriedigtes Nicken auf allen
Seiten, der Herr Baron nahm Platz, zufrieden über die gute Wirkung seiner
Worte.
Am Nachmittag waren wir ins Opernhaus eingeladen, wo
Orchester, Sänger und Balletttänzer eine halbstündige Sonderaufführung zu Ehren
des hohen Besuches aus Deutschland gaben. Anschließend stand ein Kaffeetrinken
mit der Direktorin des Opernhauses und dem jungen Kulturminister der Republik
Burjatien auf dem Plan, eine ungezwungene, nette Plauderei über Kunst und
Kultur in Freiburg und Burjatien, das Hin- und Herübersetzen machte mir
durchaus Freude, auch wenn ich als einziger in der Runde nicht zum Kuchenessen
kam.
Gläserne Kandidaten
Gestern habe ich meinen Bekannten Maxim ins Wahllokal
begleitet zur Abstimmung über das künftige Oberhaupt der Republik Burjatien.
Drei Kandidaten standen zur Auswahl; ein Plakat vor dem Wahlraum informierte
über ihre Biografie, Parteizugehörigkeit und ihre persönlichen finanziellen und
Eigentumsverhältnisse. So konnten die Wähler lesen, dass Aleksej Tsidenov, Kandidat
von Putins führender Partei „Einiges Russland“, eine 121-Quadratmeter-Wohnung
in Moskau besitzt und auf seinen acht verschiedenen Konten insgesamt 807505
Rubel liegen; es folgten ähnliche Angaben zu seiner Gattin. Der kommunistische
Kandidat Batodalaj Bagdajev kommt nur auf 61 Quadratmeter und 45000 Rubel;
außerdem erfuhren wir sein Transportmittel, einen koreanischen Minibus, Baujahr
1997. Wie auch schon bei der landesweiten Parlamentswahl im letzten Herbst wurden
die ausgefüllten Wahlzettel sofort elektronisch ausgewertet. Die Wahlbeteiligung
lag bei 41 Prozent, erfuhren wir am nächsten Tag – höher als beim letzten Mal,
heißt es, ein gutes Zeichen für die Republik.
Unser neuer
Mitbewohner
Seit kurzem haben wir einen neuen Mitbewohner in der
Wohnung. Er heißt Primorje, kommt aus
der Stadt Artjom in der Nähe von Wladiwostok und wurde 1980 geboren, genauer
gesagt: gebaut, denn es handelt sich um ein Klavier. Zu Sowjetzeiten waren
Klaviere ein Massenartikel und es gab sie wohl in mindestens der gleichen Anzahl wie
Fernseher, weshalb es nicht schwer war, über einen Klavierstimmer eines
aufzutreiben – für umgerechnet 100 Euro inclusive Anlieferung und einmal Stimmen
nach dem Aufstellen. Wir möchten gern, dass Maja an der Musikschule Klavier lernt.