Freitag, 15. September 2017

Im buddhistischen Kloster Ivolginsk

Eine halbe Fahrtstunde von Ulan-Ude entfernt, in der Steppe am Fuße der Ausläufer des Hamar-Daban-Gebirges, liegt das buddhistische Kloster Ivolginsk. 1945 erlaubte Josef Stalin seine Gründung, vielleicht deshalb, weil die Lamas während des Krieges fleißig Geld für die Front gesammelt hatten. Hier hat heute der XXIV. Pandito Chamba Lama seine Residenz, das Oberhaupt der Buddhisten Russlands. Bekannt ist das Kloster Ivolginsk für den angeblich nicht verwesenden Körper des inzwischen 165 Jahre alten Lamas Etigelow, der zu besonderen Anlässen besichtigt und angebetet werden kann. Herr Baron Nikolaus von Gayling-Westphal, Stadtrat Freiburgs und an einer Städtepartnerschaft interessiert, ist zu einem Gespräch beim Pandito Chamba Lama eingeladen. Als begleitender Übersetzer bereitete ich mich sprachlich und inhaltlich auf den Termin vor, auf ein Gespräch über interreligiösen Dialog und Meditation, über die Wichtigkeit des Glaubens in der heutigen stürmischen Zeit, über die Hoffnung auf eine Zukunft in Frieden und über die Möglichkeiten der Überwindung menschlichen Leidens. 

Zunächst führt man uns in ein Haus im angrenzenden Dorf. Ein etwas buckeliger, ganz offensichtlich blinder Jugendlicher öffnet uns, im mit buddhistischen Schreinen, Statuen, Tüchern und sonstigen Utensilien angefüllten Wohnzimmer erwartet uns ein älterer Mönch in der typischen roten und orangenen Tracht. Beim Platznehmen auf dem Sofa staune ich über den modernen, neuen Konzertflügel, der die Mitte des Raumes ausfüllt.
Der buckelige junge Mann begrüßt uns noch einmal auf Englisch und verkündet, er möchte uns jetzt etwas vorspielen. Während wir eine Mozart-Klaviersonate hören und anschließend den „Hummelflug“ von Rimski-Korsakoff, fällt es mir wie Schuppen von den Augen: natürlich, ihn hatte ich schon einmal erlebt, letztes Jahr im Philharmonischen Saal der Stadt, damals war das weltberühte Glinka-Streichquartett zu Gast gewesen und hatte als Zugabe ein von ihm komponiertes Werk gespielt, wonach man ihn auf die Bühne geholt hatte. Ludub Otschirov, das blinde burjatische Wunderkind!
Der buddhistische Mönch, wie sich herausstellt, sein Großvater, erzählte uns vom Aufenthalt seines Enkels in einer Münchener Augenklinik. Dort sei er gut empfangen worden, und aus Dankbarkeit möchte er uns Deutschen gern etwas zurückgeben. Es folgt ein Lied aus einer Wagner-Oper, deren Text Ludub auf Deutsch parallel zum Spiel mitsingt. Anschließend erhebt er sich und schenkt dem Herrn Baron eine Partitur seines eben fertiggestellten zweiten Klavierkonzertes. Möge ein Freiburger Orchester es aufführen!
Wir staunen ungläubig. Wie ein Blinder denn Noten schreibe?
Man bittet uns in den Nachbarraum. Dort stehen ein E-Piano mit Bildschirm und Computer dahinter. Unsere Anwesenheit habe seinen Enkel zu einer Komposition inspiriert, sagt der Mönch. Lugub schaltet den Computer an und spielt ein schönes, lyrisches Klavierstück. Das Programm würde die Musik sofort in Noten umwandeln, erklärt man uns. Das Lieblingsinstrument des Herrn Baron sei Geige? Während das soeben eingespielte Klavierstück noch einmal wiedergegeben wird, erfindet Ludub, das Wunderkind, mit einem Finger auf der Klaviatur eine Geigenstimme dazu. In fünfzehn Minuten könne Herr von Gayling die Noten in seinem E-Mail-Postfach haben. Wir bedanken uns für die wundervollen Klänge und finden vor Staunen gar keine Worte.

Auf dem Gelände des Klosters Ivolginsk befinden sich etwa ein Dutzend große und kleine Tempel mit den charakteristischen asiatischen Pagodendächern, ein in einem verglasten Haus wachsender heiliger Baum aus Indien, ein Ableger genau des Gewächses, unter dem Buddha die Erleuchtung empfing… dazwischen weiße, quaderförmige Stupas und die typischen Gebetsrollen mit tibetischen Schriftzeichen, die die Gläubigen beim Vorbeigehen drehen. In den über das Gelände verteilten Holzhäusern wohnen die Mönche, die hier arbeiten und an der Buddhistischen Universität studieren. Eines von ihnen ist die Residenz des XXIV. Pandito Chambo Lama, in die man uns nun hineinführt. Die Begegnung verlief für mich sehr anders als erwartet.

„Wer ist hier der Baron? Dann setzten Sie sich mal da hin“, sagte der Lama und wies auf einem Platz am Tisch ihm gegenüber. „Und der Übersetzer? Hier daneben!“ Eine kernige, leicht untersetzte Gestalt, die uns durchdringend mustert.
„Baron, ist das ein Titel oder Amt?“
Ein Titel sei es, meinte Herr von Gayling, von den Adelsrechten und –pflichten sei seit dem ersten Weltkrieg nichts mehr übrig.
„Haben Sie ein Schloss?“
Nun, das Schloss Ebnet in Freiburg…
„Und jagen tun Sie auch?“
Nicht er, sondern andere, es gäbe im Wald ein Jagdgrundstück…
„Wie viele Jahre können Sie ihr Adelsgeschlecht zurückverfolgen?“
Etwa tausend. In der Stimme des Gastes schwingt leichter Stolz mit.
„Das ist nichts gegen unseren Etigelov. Der erinnert sich an die letzten dreitausend Jahre. Elf Wiedergeburten! Sind Sie eigentlich Katholik oder Protestant? Und was macht einer mit Adelstitel so den ganzen Tag? Weshalb sind Sie jetzt hier?“ In diesem Stil ging es eine ganze Weile weiter, mitunter muss ich ein Lachen unterdrücken. Uns wird Tee mit Milch gereicht, eine Suppe, dann Reis und Fleisch.
„Zum ersten Mal, dass ich einem echten Baron gegenübersitze“, meinte der oberste Lama schließlich, offensichtlich von dem Titel schwer beeindruckt. „Und jetzt gehen Sie, sprechen Sie mit Etigelov!“
Jetzt wolle er aber auch einmal etwas fragen, meinte Herr von Gayling, und zwar zum Dalai Lama, dem sich ja alle Strömungen des tibetischen Buddhismus unterordnen…
„Wir ordnen uns dem Dalai Lama überhaupt nicht unter“, kommt die energische Antwort, „sondern höchstens Katharina der Großen! Sie hat mit ihrem Erlass 1764 den Buddhismus in Russland eingeführt. Das wissen Sie schon? Gehen Sie, dann trinken wir weiter Tee! Etigelov wartet!“ 

Man führt uns in den schönsten, buntesten und mit den aufwändigsten Schnitzereien verzierten Tempel auf dem Gelände, dessen Türen nur acht Mal jährlich geöffnet werden oder für besondere Gäste. Gegenüber des Eingangs, dort wo normalerweise die große Statue Buddhas oder einer sonstigen Gottheit sitzt, thront in Meditationspose eine Art Mumie, ein einbalsamierter Körper, der den Betrachter aus blinden Augenhöhlen merkwürdig anblickt.
„Haben Sie mit ihm gesprochen?“, will der Pandito Chamba Lama wissen, als wir an den Tisch in seinem Haus zurückgekehrt sind, „Haben Sie etwas gefragt? Jeden Tag gibt er eine Lehrstunde, und wir veröffentlichen diese auf Facebook.“ Zwei weitere Gäste sind inzwischen dazugekommen, den einen erkenne ich von einem Foto im Wahllokal wieder, der Kandidat der kommunistischen Partei, der am Sonntag aber leider nur fünf Prozent der Stimmen bekam. „Wir konnten die Macht nicht friedlich bekommen, also müssen wir eine Revolution machen!“, sagt der Kommunist, und mir ist unklar, inwieweit es ernst gemeint ist und ob ich es dolmetschen soll. „Übersetzen Sie nicht, was er sagt, der hat doch einen Vogel“, ruft der Lama und tippt sich mit dem Zeigefinger an die Stirn. Die Stimmung ist ausgelassen, man kennt sich offensichtlich gut.

Herr von Gayling übergibt ein paar Souvenirs aus Freiburg, man plaudert über Geschichte; Anfang der zwanziger Jahre war schon einmal ein deutschstämmiger Baron in der Baikalregion, Ungern von Sternberg, der vergeblich gegen die Bolschewiken kämpfte. Ich verlasse die Residenz des XXIV. Pandito Chambo Lama mit dem Gefühl, einen selbstbewussten und bodenständigen Menschen erlebt zu haben, eher ein unterhaltsamer Politiker als ein spirituelles Oberhaupt. Nach einem Stündchen Spaziergang über das Gelände fährt der Herr Baron Nikolaus von Gayling-Westphal zusammen mit  seinem Dolmetscher zurück nach Ulan-Ude.

Der 15jährige blinde Ludub, Pianist und Komponist
Der XXIV. Pandito Chamba Lama ist das Oberhaupt der russischen Buddhisten (Mitte); links daneben Herr Baron Nikolaus von Gayling-Westphal aus Freiburg
In diesem Tempel sitzt der 165-jährige Lama Etigelov