Eine halbe Fahrtstunde von Ulan-Ude entfernt, in der Steppe am
Fuße der Ausläufer des Hamar-Daban-Gebirges, liegt das buddhistische Kloster
Ivolginsk. 1945 erlaubte Josef Stalin seine Gründung, vielleicht deshalb, weil
die Lamas während des Krieges fleißig Geld für die Front gesammelt hatten. Hier
hat heute der XXIV. Pandito Chamba Lama
seine Residenz, das Oberhaupt der Buddhisten Russlands. Bekannt ist das Kloster
Ivolginsk für den angeblich nicht verwesenden Körper des inzwischen 165 Jahre
alten Lamas Etigelow, der zu besonderen Anlässen besichtigt und angebetet
werden kann. Herr Baron Nikolaus von Gayling-Westphal, Stadtrat Freiburgs und
an einer Städtepartnerschaft interessiert, ist zu einem Gespräch beim Pandito
Chamba Lama eingeladen. Als begleitender Übersetzer bereitete ich mich
sprachlich und inhaltlich auf den Termin vor, auf ein Gespräch über
interreligiösen Dialog und Meditation, über die Wichtigkeit des Glaubens in der
heutigen stürmischen Zeit, über die Hoffnung auf eine Zukunft in Frieden und
über die Möglichkeiten der Überwindung menschlichen Leidens.
Zunächst führt man uns in ein Haus im angrenzenden Dorf. Ein
etwas buckeliger, ganz offensichtlich blinder Jugendlicher öffnet uns, im mit
buddhistischen Schreinen, Statuen, Tüchern und sonstigen Utensilien angefüllten
Wohnzimmer erwartet uns ein älterer Mönch in der typischen roten und orangenen
Tracht. Beim Platznehmen auf dem Sofa staune ich über den modernen, neuen
Konzertflügel, der die Mitte des Raumes ausfüllt.
Der buckelige junge Mann begrüßt uns noch einmal auf
Englisch und verkündet, er möchte uns jetzt etwas vorspielen. Während wir eine
Mozart-Klaviersonate hören und anschließend den „Hummelflug“ von
Rimski-Korsakoff, fällt es mir wie Schuppen von den Augen: natürlich, ihn hatte
ich schon einmal erlebt, letztes Jahr im Philharmonischen Saal der Stadt,
damals war das weltberühte Glinka-Streichquartett zu Gast gewesen und hatte als
Zugabe ein von ihm komponiertes Werk gespielt, wonach man ihn auf die Bühne
geholt hatte. Ludub Otschirov, das blinde burjatische Wunderkind!
Der buddhistische Mönch, wie sich herausstellt, sein
Großvater, erzählte uns vom Aufenthalt seines Enkels in einer Münchener
Augenklinik. Dort sei er gut empfangen worden, und aus Dankbarkeit möchte er
uns Deutschen gern etwas zurückgeben. Es folgt ein Lied aus einer Wagner-Oper,
deren Text Ludub auf Deutsch parallel zum Spiel mitsingt. Anschließend erhebt
er sich und schenkt dem Herrn Baron eine Partitur seines eben fertiggestellten
zweiten Klavierkonzertes. Möge ein Freiburger Orchester es aufführen!
Wir staunen ungläubig. Wie ein Blinder denn Noten schreibe?
Man bittet uns in den Nachbarraum. Dort stehen ein E-Piano
mit Bildschirm und Computer dahinter. Unsere Anwesenheit habe seinen Enkel zu
einer Komposition inspiriert, sagt der Mönch. Lugub schaltet den Computer an
und spielt ein schönes, lyrisches Klavierstück. Das Programm würde die Musik
sofort in Noten umwandeln, erklärt man uns. Das Lieblingsinstrument des Herrn
Baron sei Geige? Während das soeben eingespielte Klavierstück noch einmal
wiedergegeben wird, erfindet Ludub, das Wunderkind, mit einem Finger auf der
Klaviatur eine Geigenstimme dazu. In fünfzehn Minuten könne Herr von Gayling
die Noten in seinem E-Mail-Postfach haben. Wir bedanken uns für die
wundervollen Klänge und finden vor Staunen gar keine Worte.
Auf dem Gelände des Klosters Ivolginsk befinden sich etwa
ein Dutzend große und kleine Tempel mit den charakteristischen asiatischen
Pagodendächern, ein in einem verglasten Haus wachsender heiliger Baum aus
Indien, ein Ableger genau des Gewächses, unter dem Buddha die Erleuchtung
empfing… dazwischen weiße, quaderförmige Stupas
und die typischen Gebetsrollen mit tibetischen Schriftzeichen, die die
Gläubigen beim Vorbeigehen drehen. In den über das Gelände verteilten
Holzhäusern wohnen die Mönche, die hier arbeiten und an der Buddhistischen
Universität studieren. Eines von ihnen ist die Residenz des XXIV. Pandito
Chambo Lama, in die man uns nun hineinführt. Die Begegnung verlief für mich sehr
anders als erwartet.
„Wer ist hier der Baron? Dann setzten Sie sich mal da hin“,
sagte der Lama und wies auf einem Platz am Tisch ihm gegenüber. „Und der
Übersetzer? Hier daneben!“ Eine kernige, leicht untersetzte Gestalt, die uns
durchdringend mustert.
„Baron, ist das ein Titel oder Amt?“
Ein Titel sei es, meinte Herr von Gayling, von den
Adelsrechten und –pflichten sei seit dem ersten Weltkrieg nichts mehr übrig.
„Haben Sie ein Schloss?“
Nun, das Schloss Ebnet in Freiburg…
„Und jagen tun Sie auch?“
Nicht er, sondern andere, es gäbe im Wald ein
Jagdgrundstück…
„Wie viele Jahre können Sie ihr Adelsgeschlecht
zurückverfolgen?“
Etwa tausend. In der Stimme des Gastes schwingt leichter
Stolz mit.
„Das ist nichts gegen unseren Etigelov. Der erinnert sich an
die letzten dreitausend Jahre. Elf Wiedergeburten! Sind Sie eigentlich Katholik
oder Protestant? Und was macht einer mit Adelstitel so den ganzen Tag? Weshalb
sind Sie jetzt hier?“ In diesem Stil ging es eine ganze Weile weiter, mitunter
muss ich ein Lachen unterdrücken. Uns wird Tee mit Milch gereicht, eine Suppe,
dann Reis und Fleisch.
„Zum ersten Mal, dass ich einem echten Baron
gegenübersitze“, meinte der oberste Lama schließlich, offensichtlich von dem
Titel schwer beeindruckt. „Und jetzt gehen Sie, sprechen Sie mit Etigelov!“
Jetzt wolle er aber auch einmal etwas fragen, meinte Herr
von Gayling, und zwar zum Dalai Lama, dem sich ja alle Strömungen des
tibetischen Buddhismus unterordnen…
„Wir ordnen uns dem Dalai Lama überhaupt nicht unter“, kommt
die energische Antwort, „sondern höchstens Katharina der Großen! Sie hat mit
ihrem Erlass 1764 den Buddhismus in Russland eingeführt. Das wissen Sie schon?
Gehen Sie, dann trinken wir weiter Tee! Etigelov wartet!“
Man führt uns in den schönsten, buntesten und mit den
aufwändigsten Schnitzereien verzierten Tempel auf dem Gelände, dessen Türen nur
acht Mal jährlich geöffnet werden oder für besondere Gäste. Gegenüber des
Eingangs, dort wo normalerweise die große Statue Buddhas oder einer sonstigen
Gottheit sitzt, thront in Meditationspose eine Art Mumie, ein einbalsamierter
Körper, der den Betrachter aus blinden Augenhöhlen merkwürdig anblickt.
„Haben Sie mit ihm gesprochen?“, will der Pandito Chamba
Lama wissen, als wir an den Tisch in seinem Haus zurückgekehrt sind, „Haben Sie
etwas gefragt? Jeden Tag gibt er eine Lehrstunde, und wir veröffentlichen diese
auf Facebook.“ Zwei weitere Gäste sind inzwischen dazugekommen, den einen
erkenne ich von einem Foto im Wahllokal wieder, der Kandidat der
kommunistischen Partei, der am Sonntag aber leider nur fünf Prozent der Stimmen
bekam. „Wir konnten die Macht nicht friedlich bekommen, also müssen wir eine
Revolution machen!“, sagt der Kommunist, und mir ist unklar, inwieweit es ernst
gemeint ist und ob ich es dolmetschen soll. „Übersetzen Sie nicht, was er sagt, der hat doch einen Vogel“,
ruft der Lama und tippt sich mit dem Zeigefinger an die Stirn. Die Stimmung ist
ausgelassen, man kennt sich offensichtlich gut.
Herr von Gayling übergibt ein paar Souvenirs aus Freiburg,
man plaudert über Geschichte; Anfang der zwanziger Jahre war schon einmal ein
deutschstämmiger Baron in der Baikalregion, Ungern von Sternberg, der
vergeblich gegen die Bolschewiken kämpfte. Ich verlasse die Residenz des XXIV.
Pandito Chambo Lama mit dem Gefühl, einen selbstbewussten und bodenständigen
Menschen erlebt zu haben, eher ein unterhaltsamer Politiker als ein
spirituelles Oberhaupt. Nach einem Stündchen Spaziergang über das Gelände
fährt der Herr Baron Nikolaus von Gayling-Westphal zusammen mit seinem Dolmetscher zurück nach Ulan-Ude.
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Der 15jährige blinde Ludub, Pianist und Komponist |
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Der XXIV. Pandito Chamba Lama ist das Oberhaupt der russischen Buddhisten (Mitte); links daneben Herr Baron Nikolaus von Gayling-Westphal aus Freiburg |
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In diesem Tempel sitzt der 165-jährige Lama Etigelov |