Mittwoch, 10. Oktober 2018

Keine Lust und kein Flug


Der Montagmorgen beginnt für mich jede Woche mit Bauchschmerzen: meine erste Unterrichtsstunde habe ich in einer Gruppe von lustlosen Journalistik-Studenten. Sie sind entweder nicht anwesend, oder, wenn sie anwesend sind, dann wollen sie nichts und können nichts. Von den sechs Frauen sitzen zwei vor mir, und zwar jedes Mal zwei andere. Mit so einer Gruppe zu arbeiten ist für einen Pädagogen eine Strafe, denke ich frustriert und bin ratlos, was ich wohl neunzig Minuten lang anstellen soll. Mir etwas Interessantes auszudenken ist jedenfalls unmöglich.
„Wollen Sie nach dem Studium bei einer Zeitung arbeiten oder beim Fernsehen“, hatte ich sie einmal gefragt.
„Wir wollen überhaupt keine Journalisten werden“, hatten sie geantwortet, „der Unterricht der journalistischen Fächer hier an der Uni ist so schlecht, dass uns die Lust vergangen ist.“
Weil der Unterricht schlecht ist, sind Sie unmotiviert, und weil Sie unmotiviert sind, ist der Unterricht schlecht, hatte ich darauf gedacht, aber nicht gesagt.

Am Abend vor dem Tag der Deutschen Einheit stehe ich am Bahnsteig in Ulan-Ude, in der Hand ein Zugticket nach Irkutsk, auf dem wie auf allen russischen Zugfahrkarten neuerdings die Ortszeiten angegeben sind – was das umständliche Umrechnen von Moskauer Zeit erspart – und schaue dem Zug, in dem ich sitzen sollte, beim Abfahren zu. Die Zugbegleiter an den Türen jedes Wagens steigen nach oben und klappen die Treppchen ein; während sie noch in der Öffnung stehen und ihr kleines grünes Fähnchen heraushalten, setzt sich das stählerne Ungetüm langsam in Bewegung. Von Irkutsk wollte ich nach Novosibirsk fliegen, wo das deutsche Konsulat zu einem feierlichen Empfang eingeladen hatte. We hope you are doing great today!, hatte ich eine Email von der amerikanischen Flugbuchungs-Seite gelesen, während der Zug einfuhr. We do apologize to inform you that your flight has been canceled by the airline. Flug ohne Angabe von Gründen gestrichen! Ich mache mich enttäuscht auf den Heimweg. Die Zugfahrt nach Novosibirsk würde anderthalb Tage dauern. Bis dahin wäre der Tag der Deutschen Einheit schon wieder vorbei.

Mit Niso und Maja besteige ich einen markanten Hügel in der Steppe bei Ivolginsk, auf dem mit weißen Steinen das buddhistische Gebet Om Ma Ne Bad Me Hum geschrieben steht. Ich lege mich auf die Steine und genieße einen der letzten richtig sonnigen Tage. Maja bereitet mir ein weiches Bett aus Steppenroller-Pflanzen. Etwas weiter an einer Felswand zelebrieren zwei murmelnde und räuchernde Gestalten ein schamanistisches Ritual. An einem anderen freien Tag fahren wir die Klosterrunde: vorbei am Troizko-Selenginski-Kloster an der Selenga, in dessen Innenhof Maja den ersten dicken, pappenden Schnee zu einer großen Kugel rollt, und weiter zum Spaso-Preobrazhenski-Kloster in Posolsk, vor dessen Mauern der aufgewühlte, unruhige Baikal hohe braune Wellen schlägt. In der kleinen Kapelle, vor der eine kleine Gedenktafel für den im Jahre 1650 an dieser Stelle von Mongolen ermordeten russischen Botschafter angebracht ist, zu dessen Ehren das Kloster gegründet wurde, ist außer uns kein Mensch – ich singe Dona nobis pacem und genieße die Akustik. In einem Wäldchen mit Blick auf den See entzünden wir ein Lagerfeuer.