Ein kleines
Konzert für Violoncello solo in der Katholischen Kirche Ulan-Udes, nicht lang,
vierzig Minuten etwa, im Anschluss an die Heilige Messe: satt und saftig
dringen die barocken Klänge durch den Raum, tropfen gleichsam von Wänden und
Decke und durchdringen die gebannt lauschenden etwa fünfunddreißig Zuhörer. In
den ersten fünf Minuten ist der Solist noch ein wenig nervös, dann hat er sich
freigespielt und musiziert unbeschwert, als sei er der einzige Anwesende: zwei
Ricercare von Dominico Gabrielli, die erste Suite von Bach und die beiden
Gigues aus der Sechsten Suite. Die Sechste Suite von Bach ist schwer, zu schwer
für unseren Solisten, deshalb spielt er die beiden Stücke aus einer um eine
Quinte tiefer transponierten Fassung. In Sibirien ist es erlaubt, beim heiligen
klassischen deutschen Erbe etwas zu mogeln. Der Cellist bittet das Publikum,
zwischen den Stücken nicht zu klatschen und lieber ein paar Sekunden Schweigen
auszuhalten, um die Atmosphäre im Kirchenraum besser zu empfinden.
Im Publikum
sitzt die siebzigjährige Galina Sergejewna, die am Fremdspracheninstitut
Französisch lehrt und den Kollegen immer wieder interessante Dinge aus fernen
Sowjetzeiten erzählt, als die Menschen mit Vornamen noch Wladlen – von Wladimir-Lenin, Mels
– von Marks-Engels-Lenin-Stalin – oder einfach Stalina hießen, davon, dass die Stalinherrschaft sicher ihre
Nachteile hatte, aber insgesamt die Menschen dank Industrialisierung besser zu
leben begannen als das verarmte Bauernvolk in der Zarenzeit. Beim letzten
Auftritt vor einem knappen Jahr am Institut hatte sie vor lauter Begeisterung
versucht, während des Konzertes mit dem Musiker ins Gespräch zu kommen. Heute
hält sie sich zurück, tritt erst nach vorn, als der letzte Ton verklungen ist
und hält eine Lobrede auf den Solisten.
Seit über einer
Woche rauchen die Schlote des Heizkraftwerkes wieder: die kalte Jahreszeit hat
begonnen und mit ihr die Fernheizsaison. Ich suche das gegenüber des Kraftwerks
gelegene Hautgebäude der Verkehrspolizei auf, um die Registrierung meines Autos
zu verlängern. Um halb Neun öffnen die Schalter. Ich bin um sechs Uhr vor Ort
und finde eine Liste an der Tür mit vierzehn Namen; Menschen sind nirgendwo zu
sehen. Ich trage mich als fünfzehnter ein und will mich gerade wieder ins Auto
setzen, als mich ein junger Mann zu sich in seinen Toyota winkt, um eine Runde
zu plaudern. Er sei Nummer zwölf, seit vier Uhr morgens hier. Aus Deutschland?
Dima, sehr angenehm! Er liebe es, sich mit Leuten aus anderen Ländern zu
unterhalten, dabei erfahre man doch immer etwas Neues; anschließend erzählt er allerdings
von sich, seiner Arbeit bei einem Baumarkt und seinen Sorgen und stellt mir
kaum eine Frage.
Im letzten Gefecht um Stalingrad bist du
gefallen unbekannter Soldat…
„Die
deutsche Sprache klingt einfach toll, ich liebe deutsche Musik! Wie alt bist
du? Achtunddreißig? Verdammt, warum sehr ihr Deutsche eigentlich immer so jung
aus?“ Dima könnte dem Äußeren nach mein Altersgenosse sein, ist aber
tatsächlich zehn Jahre jünger.
Wochenlang marschiert durch Schnee und Eis
um die Freiheit zu kämpfen für jeden Preis…
„Ein halbes
Jahr lang habe ich bei der Polizei im Fernen Osten gearbeitet, vor der Reform,
als sie noch Milizia hieß und es
jeden Monat lächerliche fünfzehntausend Rubel gab. Ein unter Drogen stehender
Fahrer hat versucht, mich umzufahren, da habe ich ein ganzes Magazin auf seine
Karre abgefeuert und seitdem die Schnauze voll von diesem Job!“
Ob ich Lust
hätte, fragt mich Dima weiter, mal Briefe aus dem Gefängnis zu lesen? In
Ust-Brjan, wo er wohnt, gäbe es ein kleines inoffizielles Knastmuseum, ich sei
herzlich eingeladen.
Wir danken dir für deinen Mut in jeder
Stunde, jeder Sekunde…
Ob ihm
eigentlich klar wäre, was er da höre, frage ich und schaue auf sein Smartphone:
Sleipnir. Dima lacht und sagt nichts.
Auf diese Weise mache ich erste Bekanntschaft mit Nazi-Rock. Ausgerechnet in
Russland, wer hätte das gedacht?