Freitag, 28. September 2018

(Ba)rock



Ein kleines Konzert für Violoncello solo in der Katholischen Kirche Ulan-Udes, nicht lang, vierzig Minuten etwa, im Anschluss an die Heilige Messe: satt und saftig dringen die barocken Klänge durch den Raum, tropfen gleichsam von Wänden und Decke und durchdringen die gebannt lauschenden etwa fünfunddreißig Zuhörer. In den ersten fünf Minuten ist der Solist noch ein wenig nervös, dann hat er sich freigespielt und musiziert unbeschwert, als sei er der einzige Anwesende: zwei Ricercare von Dominico Gabrielli, die erste Suite von Bach und die beiden Gigues aus der Sechsten Suite. Die Sechste Suite von Bach ist schwer, zu schwer für unseren Solisten, deshalb spielt er die beiden Stücke aus einer um eine Quinte tiefer transponierten Fassung. In Sibirien ist es erlaubt, beim heiligen klassischen deutschen Erbe etwas zu mogeln. Der Cellist bittet das Publikum, zwischen den Stücken nicht zu klatschen und lieber ein paar Sekunden Schweigen auszuhalten, um die Atmosphäre im Kirchenraum besser zu empfinden.
Im Publikum sitzt die siebzigjährige Galina Sergejewna, die am Fremdspracheninstitut Französisch lehrt und den Kollegen immer wieder interessante Dinge aus fernen Sowjetzeiten erzählt, als die Menschen mit Vornamen noch Wladlen – von Wladimir-Lenin, Mels – von Marks-Engels-Lenin-Stalin – oder einfach Stalina hießen, davon, dass die Stalinherrschaft sicher ihre Nachteile hatte, aber insgesamt die Menschen dank Industrialisierung besser zu leben begannen als das verarmte Bauernvolk in der Zarenzeit. Beim letzten Auftritt vor einem knappen Jahr am Institut hatte sie vor lauter Begeisterung versucht, während des Konzertes mit dem Musiker ins Gespräch zu kommen. Heute hält sie sich zurück, tritt erst nach vorn, als der letzte Ton verklungen ist und hält eine Lobrede auf den Solisten.

Seit über einer Woche rauchen die Schlote des Heizkraftwerkes wieder: die kalte Jahreszeit hat begonnen und mit ihr die Fernheizsaison. Ich suche das gegenüber des Kraftwerks gelegene Hautgebäude der Verkehrspolizei auf, um die Registrierung meines Autos zu verlängern. Um halb Neun öffnen die Schalter. Ich bin um sechs Uhr vor Ort und finde eine Liste an der Tür mit vierzehn Namen; Menschen sind nirgendwo zu sehen. Ich trage mich als fünfzehnter ein und will mich gerade wieder ins Auto setzen, als mich ein junger Mann zu sich in seinen Toyota winkt, um eine Runde zu plaudern. Er sei Nummer zwölf, seit vier Uhr morgens hier. Aus Deutschland? Dima, sehr angenehm! Er liebe es, sich mit Leuten aus anderen Ländern zu unterhalten, dabei erfahre man doch immer etwas Neues; anschließend erzählt er allerdings von sich, seiner Arbeit bei einem Baumarkt und seinen Sorgen und stellt mir kaum eine Frage.
Im letzten Gefecht um Stalingrad bist du gefallen unbekannter Soldat…
„Die deutsche Sprache klingt einfach toll, ich liebe deutsche Musik! Wie alt bist du? Achtunddreißig? Verdammt, warum sehr ihr Deutsche eigentlich immer so jung aus?“ Dima könnte dem Äußeren nach mein Altersgenosse sein, ist aber tatsächlich zehn Jahre jünger.
Wochenlang marschiert durch Schnee und Eis um die Freiheit zu kämpfen für jeden Preis…
„Ein halbes Jahr lang habe ich bei der Polizei im Fernen Osten gearbeitet, vor der Reform, als sie noch Milizia hieß und es jeden Monat lächerliche fünfzehntausend Rubel gab. Ein unter Drogen stehender Fahrer hat versucht, mich umzufahren, da habe ich ein ganzes Magazin auf seine Karre abgefeuert und seitdem die Schnauze voll von diesem Job!“
Ob ich Lust hätte, fragt mich Dima weiter, mal Briefe aus dem Gefängnis zu lesen? In Ust-Brjan, wo er wohnt, gäbe es ein kleines inoffizielles Knastmuseum, ich sei herzlich eingeladen.
Wir danken dir für deinen Mut in jeder Stunde, jeder Sekunde…
Ob ihm eigentlich klar wäre, was er da höre, frage ich und schaue auf sein Smartphone: Sleipnir. Dima lacht und sagt nichts. Auf diese Weise mache ich erste Bekanntschaft mit Nazi-Rock. Ausgerechnet in Russland, wer hätte das gedacht?